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SWR2 Wort zum Tag
„Wir werden in ein paar Monaten einander wahrscheinlich viel verzeihen müssen.“ Das sagte Gesundheitsminister Spahn am Anfang der Pandemie. In ihrer Neujahrsansprache 2021 sagte dann Bundeskanzlerin Angela Merkel, dass seit wenigen Tagen die „Hoffnung ein Gesicht“ habe: "Es sind die Gesichter der ersten Geimpften“.
Verzeihen (oder gar Vergeben) und Hoffnung, das sind Vokabeln, die wir eigentlich aus religiösen Zusammenhängen kennen. Spitzenpolitiker haben sie in diesen sehr ungewöhnlichen Zeiten benutzt – verständlicherweise, wie ich finde. Wenn eine gesellschaftliche Situation uns fundamental durchrüttelt, wie es bei der Pandemie der Fall ist, greifen wir schneller als sonst auf fundamentale Kategorien zurück, die sonst eher in Predigten oder heiligen Schriften vorkommen.
Verzeihen hat für mich vor allem mit den vielen Ungereimtheiten und Dilemmata zu tun, die wir im Zusammenhang mit den Schutzmaßnahmen erleben. Oft ist es unlogisch, dass man das eine darf und das andere nicht. Das erzeugt Frust und manchmal kann ich diese Widersprüche nur dann aushalten, wenn ich mich großzügig frage, welche Fehler ich selbst machen würde. Wenn ich Politiker wäre und die Verantwortung hätte, müsste ich nicht auch vorher erlassene Regeln oder Maßnahmen widerrufen und darauf hoffen, dass man mir verzeiht?
Viele „Sollbruchstellen“ in unseren Gesellschaften sind durch die Pandemie zutage getreten und an diesen Stellen ist auch vieles gebrochen. Es wird schwierig werden, Menschen gegensätzlicher Einstellung danach wieder zusammenzubringen. Bei vielen von uns sind in dieser Zeit Konflikte mit Verwandten, Bekannten und Freunden ausgebrochen, die wir vorher für kaum vorstellbar gehalten hätten….
Was hilft da anderes als aktives Verzeihen und die Hoffnung, dass nach dem Stress und den Verwerfungen Spannungen auch wieder abgebaut werden können?
Womit wir wieder bei der Hoffnung wären. Diese stirbt nicht nur zuletzt, sondern sie ist wirklich angebracht: Ich hoffe ernsthaft, dass wir viel Gutes und Positives aus der Pandemie gelernt haben. Wir haben miteinander gelitten und waren solidarisch mit denen, die am meisten gefährdet waren und sind. Wir mussten zusammenhalten und einsichtig sein, damit wir gemeinsam durch die schlimmsten Wochen kamen.
Und jetzt steht die Chance im Vordergrund, dass die Einschränkungen und Krisen bald weniger werden und Licht am Ende des Corona-Tunnels auftaucht. Im Moment sieht es ja danach aus. Ich habe jedenfalls Hoffnung!
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Haben Sie schon einmal von einem religiösen Fest namens Timkat gehört? Es wird gerade in Äthiopien gefeiert. Drei Tage lang begehen die äthiopischen Christen dieses höchste religiöse Fest, das dort wichtiger ist als Weihnachten. Es hat auch den gleichen theologischen Sinn wie Weihnachten: Epiphanie, die Erscheinung Gottes unter uns Menschen. Vor allem geht es darum, dass Christus unter uns Menschen gekommen ist und dies wird durch die Erinnerung seiner Taufe im Jordan gefeiert. Viele tausenden Menschen feiern ausgelassen dieses farbenfrohe Fest mit Prozessionen, Tänzen und Gesang.
Als ich es selbst in Äthiopien erleben durfte, war ich tief beeindruckt wie aus allen Richtungen in weiße Gewänder gekleidete Menschen zusammenkommen und dabei singen, tanzen und trommeln. Die Feierlichkeiten beginnen mit einer Prozession zu einem Gewässer. Den weiß gekleideten Gläubigen folgen Priester in bunten Gewändern unter bunten Schirmen. Sie tragen Nachbildungen der „Tabot“, der Steintafeln Mose mit den zehn Geboten auf ihren Köpfen und bringen sie zum Wasser. Bei der heiligen Messe wird das Wasser gesegnet und danach springen viele Menschen hinein, um ihren Taufsegen zu erneuern. Ein Fest voller Glaube, Verbundenheit und Lebensfreude und im ganzen Land sind die Straßen festlich in Grün, Rot und Gelb, den Farben Äthiopiens, geschmückt.
Doch dieses Jahr ist gleichzeitig auch alles anders. Es herrscht Krieg in Äthiopien und in einem Teil des Landes kommt sicher wenig Freude am Timkat-Fest auf. Dieser Teil heißt Tigray und möchte sich von der Zentralregierung lossagen. Dadurch ist ein furchtbarer Konflikt entstanden, in dem sich beide Seiten schlimmer Menschenrechtsverletzungen und Gräuel schuldig gemacht haben. Versöhnung scheint in weite Ferne gerückt und Frieden eine Illusion im Land, in dem der Präsident noch 2018 den Friedensnobelpreis erhielt. Der Tigray-Konflikt ist ein furchtbares Beispiel, wozu es führen kann, wenn Menschen sich in ihren Identitäten verschanzen und bereit sind für die Zugehörigkeit zu ihrem Volk oder ihrer Volksgruppe jede Aggression herauszulassen. Der Konflikt in Ex-Jugoslawien steht uns vielleicht noch vor Augen. Er war und ist uns näher als der hierzulande kaum bekannte Konflikt um Tigray. Doch am Balkan führten genau die gleichen Mechanismen zu Hass, Gewalt und Grausamkeit.
Ich hoffe und bete, dass der Sinn von Timkat dieses Jahr ganz besonders Wirklichkeit wird für die Menschen in Äthiopien und vor allem in Tigray. Gott kam zu uns Menschen, aber nicht um zu spalten und um Hass zu sähen, sondern um zu versöhnen und zu verbinden.
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Dass Advent „Ankunft“ heißt, haben viele wahrscheinlich schon im Religionsunterricht gehört. Denn alle Jahre wieder kommt das Christuskind und die Weihnachtszeit und die Christen feiern die Ankunft Gottes in der Welt. Verbunden mit den bekannten Dekorationen und wirtschaftlichen Interessen – dem sogenannten Weihnachtsgeschäft. Wie aber soll da noch die Bedeutung dieses Advents, dieser Ankunft im Bewusstsein bleiben oder überhaupt nur aufscheinen?
Ich will es mal mit einem Vergleich der Religionen versuchen: Blicken wir z.B. auf die traditionellen Religionen weltweit – also dem was man früher „Heidentum“ nannte: ihnen ist die Idee fremd, dass Gott direkt und unvermittelt in die Welt kommt. Aber auch in den großen Glaubensrichtungen, die wir die „Weltreligionen“ nennen, ist die Vorstellung von Gottes Wirken in der Welt immer vermittelt. D.h. es sind andere Wesen, Gottheiten, Geister oder Menschen, die die Botschaft Gottes oder seinen Segen in die Welt bringen. Der Glaube an Jesus von Nazareth, dessen Ankunft wir jetzt gedenken, er beinhaltet die „Inkarnation“. Wörtlich also die „Einfleischung“ Gottes in den Körper eines Menschen. Dies ist ein revolutionärer Glaube, weil er Gott so direkt bei uns sieht. Im Stall von Bethlehem ist dann das passiert, was Papst Franziskus auch von seiner Kirche möchte: Jesus hat den Geruch der Schafe angekommen, vielleicht war es sogar eher ein Gestank.
Menschsein ist leider viel zu oft geprägt von Leid, Brutalität und Hoffnungslosigkeit. Die Corona-Krise hat vieles noch verschlimmert: seelisches Leid, häusliche Gewalt, Marginalisierung und der Teufelskreis der Armut. „Homo homini lupus“ – der Mensch ist dem Menschen ein Wolf sagt eine alte lateinische Sentenz.
Vielleicht ist das der Sinn von Weihnachten: Wenn wir verzweifelt sind, wenn wir nicht mehr an das Gute glauben können, wenn wir in der Gosse liegen – dann reicht es nicht mehr, dass die Zuwendung Gottes durch die Vermittlung anderer Wesen kommt, selbst wenn es Engel oder Heilige wären. Dann muss Gott selbst ran, um die Verzweiflung zu besiegen und zu sagen: Du gequälter Mensch bist mir so wichtig, dass ich mich selbst in deine Gestalt und in deine Lebenswelt hineingebe.
Ich wünsche allen einen gesegneten Advent und eine Ahnung von der Menschwerdung, die Weihnachten bedeutet.
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Bei der ersten Pressekonferenz nach seiner Wahl 2013 sagte Papst Franziskus: „Ich möchte eine arme Kirche und eine Kirche für die Armen.“ 2015 Sprach er dann in einer Predigt davon, dass er „Hirten mit dem Geruch der Schafe“ und „dem Lächeln eines Vaters“ möchte. Er meint dabei vor allem Priester und Bischöfe, aber auch Kardinäle und den Papst selbst. Er plädiert in der von ihm geleiteten Kirche für Hirten, die „leidenschaftlich darauf aus sind“, der Herde zu dienen.
Am heutigen Tag gedenken wir dem heiligen Nikolaus von Myra, einem Bischof der Antike, der im 4. Jahrhundert lebte und auf den dies zutraf: Er wollte bei den Menschen sein und zwar so nah, dass er sogar ihren Geruch annahm. Sein Ruf als Bringer von Geschenken geht auf die bekannteste seiner Heiligenlegenden zurück: Der Bischof kam nachts am Haus einer Familie vorbei, die so arm war, dass die drei Töchter ihren Lebensunterhalt als Prostituierte verdienen mussten. Um sie aus dieser Situation zu befreien, warf Nikolaus drei Goldklumpen durch das Fenster des Hauses. Daher wird der Heilige in der Kunst heute oft mit drei goldenen Kugeln oder Äpfeln dargestellt. Tatsächlich ist auch vom historischen Nikolaus überliefert, dass er als Bischof sein gesamtes Vermögen den Armen vermachte.
Dadurch hat er Menschen über viele Jahrhunderte fasziniert: Die Goldklumpen wurden nicht in einer offiziellen PR-Aktion übergeben und es ging auch nicht darum, den Ruhm und den Einfluss der Kirche zu mehren. Heimlich zu geben ist der stärkste Ausdruck davon, dass das Schenken selbstlos ist. So jedenfalls erzählt es die überlieferte Heiligenlegende.
In Deutschland haben wir im weltweiten Vergleich reiche Kirchen, was zunehmend kritisch gesehen wird. Allerdings glaube ich, dass dann, wenn Kirche mit ihrem Geld an der Seite der Armen und Verzweifelten steht, die üppige Finanzausstattung kein Makel ist sondern ein Vorteil. Dabei muss aber immer gelten: Wenn Kirche hilft, muss sie es tun wie der heilige Nikolaus. Nicht um den eigenen Ruhm zu mehren oder verbunden mit dem Hintergedanken, Menschen zu ihrem Glauben zu bekehren, sondern ganz und gar um der Menschen willen. Dann nimmt sie, wie vom Papst gewünscht wirklich den Geruch der Schafe an und wird zu einem Zeichen, dass Gott unter den Menschen wohnen will. Und das ist ja genau der Sinn von Advent und Weihnachten.
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Ich bin beruflich und persönlich mit den Land Äthiopien verbunden und jetzt, wenn dieser Beitrag gesendet wird, bin ich auch gerade wieder hier in diesem Land am Horn von Afrika. Leider muss man sich dieser Tage große Sorgen um Äthiopien und seine Menschen machen. Die Gefahr ist groß, dass es den gleichen Weg geht wie einst der Vielvölkerstaat Jugoslawien. Dass auch hier Identitäten sehr viel höher gehängt werden, als der Wille, friedlich zusammen zu leben und dem nachzugehen, was man Gemeinwohl nennt. Im Norden Äthiopien hat diese ethnische Abgrenzung schon zu einem schrecklichen Krieg geführt. Er wächst sich gerade zu einem Bürgerkrieg aus, der immer mehr Milizen-Gruppen hineinzieht und immer mehr dazu führt, dass Menschen sich voneinander abgrenzen, sich gegenseitig hassen.
Ich erinnere mich an meine Besuche in der alten Königsstadt Aksum in der letzten Zeit. Nach alter Überlieferung ist dort die Bundeslade Israels aufbewahrt. Die Kronen der äthiopischen Kaiser habe ich dort bewundert und Stelen, die von ungeheurer kultureller Fertigkeit und einem großen geschichtlichen Erbe zeugen. Und nun musste ich erfahren, dass dort im Zuge einer brutalen Eroberung die Straßen voller Leichen lagen.
Wie ist das zu erklären innerhalb so kurzer Zeit? Die Suche nach Identität zeigt sich einmal mehr als vergiftete Suche. Nicht als tröstende Heimat, sondern als Grund „die Anderen“ entweder nicht als Menschen oder als minderwertige Menschen zu betrachten. Im Äthiopien ist dies gerade zu beobachten, aber es gibt so viele andere Beispiele auf allen Kontinenten, die zeigen, wie daraus unglaubliche Brutalität werden kann und jede Menschlichkeit auf der Strecke bleibt.
Ist der Glaube eine Hilfe, diese Raserei aufzuhalten? Sollten Christen nicht aufgrund der Lehre ihrer Religion weniger geneigt sein, zu hassen und zu töten? Leider scheint die Geschichte nicht dafür zu sprechen, dass dem so wäre….
In Äthiopien, in Ex-Jugoslawien und überall gilt: Wenn Christsein nichts dazu beizutragen hat, wie das friedliche Zusammenleben gelingen kann, dann kann man diese Religiosität vergessen! Mein Glaube hat etwas damit zu tun, dass unsere erste und wichtigste Identität das Menschsein ist. Daraus erwächst, dass jeder andere Mensch ebenso wie ich ein Geschöpf Gottes ist. Es kann nicht sein, dass das Christsein an den Haken gehängt und die Kampfmontur angezogen wird. Ich denke, dass es Jesus darum ging, genau diese Logik zu durchbrechen, die uns hassen und eskalieren lässt. Er sagte das in einem eigentlich naiv und töricht wirkendenden Satz, aber er sagte es sehr bewusst: „Liebt eure Feinde und tut denen Gutes, die euch hassen.“
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Kürzlich bin ich 50 geworden und wie das dann so ist: ich kam ins Nachdenken über das, was in dem halben Jahrhundert so alles mit mir passiert ist. Und natürlich auch, was da wohl noch kommen mag.
Da ist zunächst einmal ein tiefes Gefühl der Dankbarkeit für das schöne und gute, interessante und spannende, das mir in diesen fünf Jahrzehnten widerfahren ist. Und ich frage mich das, was viele andere gläubige Menschen auch umtreibt: wieviel davon habe ich Gott zu verdanken und was ist mein eigener Beitrag dazu, wenn es gut geworden ist?
Umgekehrt geht es genauso, also bei den belastenden und schmerzhaften Dingen. Meine Eltern sind beide in den letzten Jahren viel zu jung verstorben. Das war schwer und oft auch sehr tragisch. Hätte Gott das verhindern können und habe ich vielleicht nicht genug dafür gebetet, dass es gut wird?
Ich wohne ganz in der Nähe der Ahr und der Erft und auch dort gibt es viele, die durch die Flutkatastrophe einen geliebten Menschen verloren haben, zumindest aber Hab und Gut haben wegschwimmen sehen. Sie werden sich diese Frage vielleicht auch stellen? Ich frage mich: wenn ich an ihrer Stelle wäre, wie würde ich dann Gottes Rolle in meinem Leben sehen?
Wenn ich meinen Glauben behalten und an diesen Fragen nicht irrewerden möchte, bleibt mir nur, diese Ungewissheit anzunehmen: Gott ist da in meinem Leben, aber ich weiß nicht genau wie und an welchen Stellen, weder in den leidvollen Momenten noch in Zeiten, an denen es gut läuft. Glauben heißt für mich dankbar sein zu können, zu beten und zu bitten, trotz der offenen Fragen und des offenen Ausgangs. Und wenn es nötig ist, heißt es auch mit Gott zu hadern und ihm mein Leid zu klagen.
In diesem Sinn wird er für mich immer mehr und vornehmlich zu einer Haltung, die wichtiger ist als einzelne Inhalte. Es ist eine Haltung des Beschenktwerdens und des Verneigens davor, dass ich nicht alles machen und herstellen kann. Ich bin nicht alleine Herr über mein Schicksal, meine Erfolge und Rückschläge. Ob das vielleicht nicht ein bisschen ungenau ist? Ist das zu wenig, um wirklich zu begründen, warum ich als gläubiger Mensch durchs Leben gehe?
Kann schon sein, aber da spielen dann wieder meine fünf durchlebten Jahrzehnte mit hinein. Ich muss nicht mehr krampfhaft genau wissen, wie Glauben und Leben geht. Ich kann jetzt eher Widersprüche integrieren und mit Unsicherheiten leben. Der Glaube ist mir dabei ein Geschenk und das darf gerne noch viele Jahre so bleiben.
SWR2 Wort zum Tag
Wir wollen unser altes Leben zurück! Wir sind Pandemie-müde und wollen einfach wieder Normalität. So geht’s mir jedenfalls und ich sehe die Impfungen als einzige Chance, wie wir als Gesellschaft und sogar als Menschheit endlich wieder rauskommen aus dieser Geiselnahme durch ein Virus.
Aber Moment: Was macht denn diese „Normalität“ aus, die ich mir zurückwünsche? Heißt das, wir verabschieden uns von diesen Utopien einer gerechteren Gesellschaft und kehren wieder zurück zu den Gesetzmäßigkeiten von Profit und Ausbeutung? Eigentlich hatte doch die Pandemie-Situation so viele neue Ideen hervorgebracht und die Hoffnung, dass so vieles doch anders gehen kann!
Die Schriftstellerin Sibylle Berg hat mich dieser Tage beeindruckt mit einem Beitrag zu dieser Frage. Sie schreibt: „Die »Normalität« meint oft die Rückkehr von einer unbekannten zurück in die bekannte Angst – die man als Motor des Wachstums bezeichnen kann. Die Angst vor dem Verlust der Wohnung, des Arbeitsplatzes, die Angst vorm Scheitern im sogenannten Wettbewerb, im Rennen um das Überleben in einem System, das außer Bedrohung und Belohnung wenig für seine User zu bieten hat.“
Mich hat dieser Text zum Nachdenken gebracht, weil ich in diese „Normalität“ nicht zurückkehren will.
Corona hat uns gezwungen, vieles anzuhalten und auszuhalten. Das ist eine große Chance, unsere Bilder vom angeblich Normalen im Kopf zu hinterfragen, denen wir doch alle fast nie gerecht werden. Sibylle Berg schreibt, dass in diesen Bildern keiner ist, der „schwarz, zu klein, zu groß, zu dick, zu traurig, weinend oder erschöpft, versoffen oder verzweifelt ist – so wie wir alle aber sind.“
Nur wenn wir nicht möglichst schnell wieder in alte Normen zurückfallen, sind wir fähig, neue Ideen wirklich umzusetzen. Ideen, die uns gekommen sind, als die Pandemie uns ausgebremst und zum Stillstand gezwungen hat.
Natürlich ist es anstrengend, neue Wege jenseits des „normalen“ zu suchen. Es ist unbequem und aufwendig. Aber wäre es weniger anstrengend, im „normalen“ Trott dann in die nächste Pandemie oder die nächste globale Krise zu schlittern?
Im Wörtchen „normal“ steckt eine Versuchung, totalitär zu werden, weil es dazu führen kann, dass Unterschiede eingeebnet und Menschen „normiert“ werden. Ich will es in Zukunft so wenig benutzen wie nur möglich.
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Die Suche nach Identität ist die Suche nach dem, was ich bin, wo ich hingehöre, wo ich mich zuhause fühle. Dazu gehören für mich auch mein Glaube, die Rituale der Kirche, die Gerüche und Farben und Formen. Sie geben mir das Gefühl, zuhause zu sein.
Und dann meine südbadische Herkunft, mein Dialekt, die Mentalität, Landschaft, die hiesigen Spezialitäten. Ach wie schön ist es, zu wissen, wo man herkommt und wo man hingehört.
Je mehr ich mich aber mit diesem Thema beschäftige, desto mehr werden mir auch die Schattenseiten dieser Suche nach Heimat und Identität bewusst. Nur dann, wenn ich positiv bestimmen kann, was mich ausmacht, ist es auch für meine Mitmenschen, die Gesellschaft eine gute Suche. Wenn ich dagegen meine Identität negativ definiere, indem ich mich abgrenze, wird leicht eine vergiftete Suche daraus. Dann kommt dieses aggressive Gefühl dazu und diejenigen außerhalb meiner gefühlten Gruppe werden „die da“, „die Anderen“. Die Soziologen sagen uns, dass alle Identitäten immer sogenannte „konstruierte“ Identitäten sind. Wir bauen uns irgendwie zusammen, was uns ausmacht. Es kommt darauf an, wem wir im Leben begegnen und ob wir uns wohl in unserer Haut fühlen oder nicht.
Wenn das aber stimmt, dass zugehören immer irgendwie konstruiert ist, dann wirkt es doch geradezu lächerlich, welchen Identitäts-Popanz wir so häufig aufbauen. Die Welt scheint ja geradezu an der Nadel dieses Popanz zu hängen, wenn die sogenannten „Identitäre Bewegung“ eine völkisch einheitliche „europäische Kultur“ propagiert, wenn Volkgruppen oder Gruppen unterschiedlicher Religion so voneinander reden, als seien „die Anderen“ entweder gar keine Menschen oder minderwertige Menschen. So viele Beispiele auf allen Kontinenten gibt es, die zeigen, dass daraus unglaubliche Brutalität werden kann und jede Menschlichkeit auf der Strecke bleibt.
Entspannt Euch doch alle mal! Was bleibt denn übrig von dieser Identität, wenn wir doch alle „zum Staub zurückkehren“ (ganz am Anfang der Bibel, im Buch Genesis zu lesen)? Entspannt Euch doch mal Ihr Gläubigen der verschiedenen Religionen! Wie sollte das denn zu unserem Schöpfer passen, dass er manche Menschen mit mehr Würde und Wert geschaffen hätte als andere? Wir sind alle zuerst und vor allem Menschen. Das ist unsere wichtigste Identität.
Wenn wir uns in dieser Hinsicht entspannen, können uns die Machthungrigen dieser Welt auch nicht mehr aufpeitschen, manipulieren, instrumentalisieren.
Dann kann ich wieder entspannt in meinen Heimatgefühlen baden.
SWR2 Wort zum Tag
„Der Glaube schützt die Vernunft, da er fragende und forschende Menschen braucht. [...] Er zerstört die Vernunft nicht, sondern bewahrt sie und bleibt sich dadurch selbst treu.” So sagte einst Papst Benedikt XVI., als er sein Lehrschreiben „Fides et Ratio“ vorstellte. Ihn beschäftigte zeitlebens die Frage, wie vernünftige Menschen glauben können und wie gläubige Menschen vernünftig sein können.
Letzteres treibt mich in diesen Tagen immer wieder um, wenn es um den Kampf gegen das Coronavirus geht und um Impfungen und Masken und andere Gegenmaßnahmen. Immer wieder stelle ich fest, dass religiöse Menschen mitunter eher Teil des Problems sind, als Teil der Lösung. Immer wieder gibt es Nachrichten von religiösen Gruppierungen, die sich bei Gottesdiensten nicht um Abstand und die Gefahr, sich anzustecken kümmern. Sie gehen davon aus, dass die Kraft des Heiligen Geistes bestimmt, ob jemand krank wird und nicht das Verhalten von Menschen. Oder ich begegne Anhängern esoterischer Religion, die ebenfalls glauben, dass es nicht an konkreten Maßnahmen liegt, ob wir uns mit einem Virus anstecken. Für sie gibt es vielmehr mystische Vorstellungen, wie Immunsysteme durch verschiedene Energien gestärkt werden – dadurch kommt man weit weg von dem, was Virologen und andere Wissenschaftler erforschen. Im Judentum sind es ultraorthodoxe Gläubige, die sich komplett gegen Corona-Hygienemaßnahmen stellen und in der katholischen Kirche glauben ein paar ultra-konservative Kardinäle, die Corona-Pandemie solle genutzt werden, um eine Weltregierung zu schaffen, die sich angeblich „jeder Kontrolle entzieht".
Ich bin überzeugt davon: Ohne einen Bezug zur Vernunft, wird Glaube und Religion zum Fundamentalismus. In einer schwarz-weiß gezeichneten, vereinfachten Welt, in einer eigenen Realität, die sich nicht um Wissenschaft schert, gedeiht kein Glaube, der rational verantwortet werden kann.
Und ein weiterer Punkt, der mir momentan in der Impf-Diskussion wichtig ist: Es kann und darf bei religiösen Gefühlen und Überzeugungen nicht darum gehen, sich im eigenen Glauben von der Welt abzuschotten. Eine gläubige Haltung ist nur dann für Menschen dienlich, wenn sie auch eine solidarische Haltung ist. Sonst werden Glaube und Religion egoistisch und rein ideologisch. Wenn religiöse Menschen darüber nachdenken, was der Gemeinschaft helfen kann die Pandemie zu überwinden, können sie eine andere Haltung zu Corona-Impfungen entwickeln, als wenn Sie nur auf dem beharren, wovon sie selbst so fest überzeugt sind.
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„Und muss ich auch wandern in finsterer Schlucht, / ich fürchte kein Unheil; denn du bist bei mir, / dein Stock und dein Stab geben mir Zuversicht.“ Das sind Worte aus dem berühmten Psalm 23 – Durchhalteparolen aus der Bibel sozusagen.
Ich habe gerade Durchhalteparolen nötig, denn ich kann nicht mehr. Ich gehe, was den Lockdown betrifft, wirklich auf dem Zahnfleisch. Wie soll man das nur aushalten so lange und ohne zu wissen, wie lange es noch so weitergeht? So vieles fehlt mir vom „normalen“ Leben und Zusammenleben und dabei bin ich mit meiner Arbeit noch gesegnet, weil ich Sie weitgehend normal weitermachen kann. Ich habe nur eine vage Vorstellung, wie es sein muss als Selbständiger, Kneipenwirt, Künstler … Und die ganzen Probleme der Schülerinnen und Schüler, die so lange ohne die sozialen Kontakte ihrer Klasse sein müssen … Meine Tochter ist Erstsemester an der Uni und hockt seit Monaten in der Bude, alleine mit ihrem Computer. Sie leidet sehr darunter und mit ihr unzählige andere Studienanfänger und Studentinnen.
„Und muss ich auch wandern in finsterer Schlucht, / ich fürchte kein Unheil; denn du bist bei mir“ An dieser Stelle kann sich der Glaube derjenigen bewähren, die ihn haben. Glaube, Bibel, Kirche, wann soll sich das als beständig und hilfreich erweisen, wenn nicht in einer solchen Situation? „Resilienz“, so heißt das Schlagwort, was die Psychologen benutzen, um zu beschreiben, dass Menschen fähig sind, durch Krisen heil hindurchzukommen und dem Verzweifeln zu widerstehen. Und viele Studien haben gezeigt, dass es gläubigen Menschen leichter fällt, auf eine gute Zukunft zu vertrauen. Glaube, Vertrauen und Hoffnung sind sogenannten „Ressourcen“. Dann hätte Glaube also doch einen ganz praktischen und leicht verständlichen Sinn in einer Zeit, in der psychische Probleme überhandnehmen und Psychiater und Therapeuten sich vor einem riesigen Berg voller Aufgaben sehen. Hier sehe ich den Auftrag der Kirche in dieser Krise: Menschen stark und widerstandsfähig zu machen – das Gegenteil von abhängig und klein.
Der ZDF-Chefredakteur Peter Frey hat kürzlich kritisiert, dass die Kirche deshalb wenig Halt in der Corona-Krise bieten könne, weil sie sich selbst in einer Zeit größter Verunsicherung befinde, vor allem angesichts des Umgangs mit Missbrauchsfällen und hoher Kirchenaustrittszahlen. Da hat er sicher Recht, aber es ist dennoch lohnenswert, andere durch den Glauben stark zu machen und ihnen von dem Gott zu erzählen, der stützt und Mut gibt. Diese Botschaft hat einen wertvollen Platz im Leben vieler Menschen.
„Dein Stock und dein Stab geben mir Zuversicht.“ Ich kann mir momentan wenig vorstellen, was ich mehr brauchen würde als Glaube und Halt. Ich brauche die Hoffnung auf ein besseres morgen, in dem wir das Leben wieder gemeinsam feiern können, einander begegnen können ohne Angst vor Ansteckung und vor zu viel Nähe.
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