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SWR2 Wort zum Tag

27APR2024
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„Ob Sonnenschein, ob Sterngefunkel, im Tunnel ist es immer Dunkel“. Das ist eines der großartigen Epigramme von Erich Kästner, der ja die Gabe hatte, komplexe Dinge in einen kurzen, pointierten Satz zu packen. Das Gedicht hier heißt: Die Grenzen der Aufklärung.

Für mich drückt dieser kleine Text wunderschön aus, dass es immer wichtig ist den Kopf zu heben, sich selber zu prüfen und sich umzuschauen. Eben den Tunnelblick aufzugeben. Ich versuche das immer wieder. Denn ich ertappe mich oft dabei, dass ich mich in einem Tunnel befinde. Das kann eine berufliche Aufgabe sein, die mich alles um mich herum vergessen lässt. Oder es kann ein Gefühl sein, wenn ich beispielsweise sauer oder gar wütend auf jemanden bin. Oder wenn ich verliebt bin, oder aber auch, wenn ich Angst habe. Ich bin auch in Glaubensfragen schon in einem Tunnel gelandet und habe mich in rigorosen Meinungen verbissen.

Oft werde ich meinen eigenen Vorstellungen von mir selbst und meinem eigenen Anspruch nicht gerecht. Auch da rutsche ich leicht in einen Tunnel, der meinen Blick verengt und alles um mich herum dunkel oder besser gesagt unsichtbar werden lässt. Da hilft mir all meine schöne akademische Bildung nicht, wenn ich mich in einem Tunnel verrenne, bin ich wie in einem Rausch, der mich ganz und gar vereinnahmt.

Weil ich mich mittlerweile kenne, habe ich mir angewöhnt immer wieder innezuhalten und mich selber zu beobachten. In gewisser Weise mache ich einfach eine Pause. Egal, wie groß der Termindruck ist, egal, wie stark das Gefühl, egal, wie groß die Erwartungen. Ich mache mir bewusst, dass mein Leben nicht nur aus dieser einen Sache besteht. Dass es vielfältiger ist. Wenn mir etwas nicht gelingt, schaue ich auf andere Dinge, die mir gelingen. Wenn ich mit jemandem ein Problem habe, denke ich an andere Situationen mit der gleichen Person, in der es anders war. Das hilft mir gut, mich selbst, meinen eigenen Zustand und meine Stimmungen einzuordnen und zu sortieren. Ich meine, es holt mich aus dem Tunnel raus. Und irgendwo da draußen, um mit Kästner zu sprechen, funkelt es oder scheint die Sonne.

Als ich das einmal einem Freund erzählt habe, meinte er, ich würde mir damit mein Leben schönreden. Und das wäre auch so etwas wie ein Tunnel. Nur in eine andere Richtung. Den Vorwurf kann ich nicht ganz ausräumen, vielleicht ist da manchmal was dran. Wir haben uns dann darauf geeinigt, dass es nicht so leicht ist aus dem Tunnel zu kommen, wie ich es behauptet habe. Aber dass es wichtig ist, zumindest das Licht anzuschalten, um zu erkennen, dass ich mich in einem Tunnel befinde.

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SWR2 Wort zum Tag

26APR2024
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Da ist ein reicher Mann, fromm. Erhält sich an alle Gesetzte und fragt sich dennoch: Reicht das. Reicht das, was ich tue, ist es richtig, wie ich lebe. Trotz seines tiefen Glaubens und all seiner Bemühungen ist er sich nicht sicher das ewige Leben zu erreichen. Also fragt er Jesus, was er noch tun kann. Diese Geschichte aus dem Markusevangelium gehört zu meinen liebsten. Jesus antwortet ihm, dass er seinen ganzen Reichtum verkaufen, den Erlös den Armen schenken und fortan selber arm sein soll. Im Anschluss sagt Jesus diesen Satz: „Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Reich Gottes gelangt.“ Den Satz finde ich wundervoll. Allerdings nicht unbedingt wegen seines Inhalts. Der ist natürlich wichtig und ein Kernpunkt des Christlichen Glaubens, aber es geht mir jetzt nicht darum. Mich interessiert mehr die Art und Weise, in der Jesus da spricht.

Als ich, da war ich noch klein, die Stelle zum ersten Mal gehört habe, musste ich lachen. Denn ich habe das witzig gefunden. Weil ich mir vorgestellt habe, wie ein Kamel versucht sich durch ein Nadelöhr zu zwängen. Und ich kann mir gut denken, dass in diesem Moment einige der Hörer Jesu auch schmunzeln mussten. Vielleicht hat er selbst auch ein bisschen gelacht. Ganz egal wie ernst das Thema eigentlich gewesen ist, da war auch ein bisschen Humor mit dabei. So stelle ich es mir zumindest vor. Und das macht mir diese Geschichte und die Person Jesus allgemein noch sympathischer. Es geht um die Grundstrukturen unseres Daseins. Um die existenziellsten Fragen, ja, man kann sagen: Eigentlich geht es bei Jesus die ganze Zeit ans Eingemachte. Aber trotzdem gibt es bei all der Tiefe und Ernsthaftigkeit auch noch Platz für ein Schmunzeln. Das finde ich ungeheuer wichtig. Denn es zeigt mir: Jesus war zwar ein hochmoralischer Mensch, aber er war kein Moralist. Er war nicht verbissen oder verbohrt, seine Botschaft war nicht bitter, sondern lebensbejahend. Der reiche Mann, dem aufgetragen wurde seinen Besitz zu verkaufen, fand das wahrscheinlich nicht so witzig. Aber ihm wurde der Auftrag nicht mit erhobenem Zeigefinger erteilt, sondern – so deute ich es - mit einem Lächeln. Und das macht viel aus. Wie schwer die Aufgabe, vor der ich stehe auch sein mag, sie wird noch schwerer, wenn dabei nicht einmal mehr Raum für ein Lächeln oder Schmunzeln ist.

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SWR2 Wort zum Tag

25APR2024
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Immer wieder drängt sich im Leben die Frage auf, was denn das alles soll. Gerade wenn es wie derzeit so viel Leid und Elend in der Welt gibt. Wenn jeden Tag von der Eskalation eines bestehenden oder dem Ausbruch eines neuen Konfliktes die Rede ist. Klimakrise, Krieg in Gaza, Krieg in der Ukraine. Und das sind nur die größten Geschehnisse, von denen wir täglich hören. Es gibt noch so vieles mehr, wo die Welt nicht so genau hinschaut. Da frage zumindest ich mich oft, warum das alles sein muss. Was das alles für einen Sinn haben soll.

Aber der Blick in die große Politik ist nicht einmal nötig, auch in meinem kleinen Alltag kommt sie immer wieder hoch: Die Frage nach dem Sinn. Ich habe beispielsweise ein Buch geschrieben, aber niemand interessiert sich dafür. Oder wenn ich mich verliebt habe, aber vom anderen kommt nichts zurück. Das sind so Situationen, in denen das Leben nicht das hält, was es verspricht oder ich mir von ihm erhofft habe. Die mich zweifeln lassen am Sinn und Zweck des Ganzen. Wozu soll ich mich noch abmühen, wenn sowieso nichts dabei rauskommt. Es gibt solche Momente. Ich denke, jeder kennt das. Der Sinn des Lebens ist eine der großen Menschheitsfragen, die philosophische Literatur ist voll davon. Auch das Christentum sichert mir den Sinn des Lebens zu. Zumindest verstehe ich das „Fürchte Dich nicht“ so, von dem in der Bibel immer wieder die Rede ist, das Gott seinen Geschöpfen quasi immer wieder zuruft. Aber manchmal reichen alle Lehren, aller Glaube und alles Vertrauen eben nicht aus. Da brauche ich mehr.

Mir hilft es da, mich an den sinnvollsten Moment meines Lebens zu erinnern: Eine gute Freundin von mir ist schwanger gewesen. Der Vater des Kindes hatte sich aus dem Staub gemacht, sie war gerade in eine neue Stadt gezogen, aber wegen Corona gab es kaum Möglichkeiten jemanden kennenzulernen. Sie wollte unbedingt eine Hausgeburt, die Hebamme hat dem aber nur zugestimmt, wenn sie während und nach der Geburt nicht alleine ist. Schließlich hat sie mich gefragt, ob ich da sein könnte. Und so bin ich Zeuge dieser Geburt geworden. Ein bisschen konnte ich auch helfen. Und ich habe dieses kleine Wesen auf die Welt kommen sehen, habe seinen ersten Schrei gehört. Als einer der ersten Menschen hab ich den Kleinen berührt und in den Arm genommen. Das war das bewegendste, das ich je erlebt habe. In diesem Moment war alles sinnvoll. Es war alles richtig. Es war richtig, dass dieses Kind auf die Welt kommt und es war richtig, dass es Leben gibt, dass es Menschen gibt. Seither denke ich, dass der Sinn des Lebens das Leben selbst sein könnte. Dass mit jedem neuen Leben auch sein Sinn geboren wird.

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SWR2 Wort zum Tag

20JAN2024
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Ich freue mich immer, wenn jemand von meinen Freunden oder Bekannten heiratet. Ganz besonders wenn dann Kinder kommen und sie eine Familie gründen. Ich finde Familie sehr wichtig, sie ist der Ort an dem ein neu geborener Mensch zum ersten Mal anderen Menschen begegnet. Der Ort, der seine Anfänge prägt.

Eine Besonderheit des christlichen Glaubens ist, dass auch Gott in Menschengestalt auf die Welt gekommen ist. Und auch er ist zum ersten Mal in seiner Familie als Mensch anderen Menschen Aug in Aug begegnet. Ich finde es spannend, was das denn für eine Familie war, in die Gott geboren wurde. Da ist eine unehelich schwangere Frau, die mit ihrem Verlobten, der nicht der Vater des Kindes ist, diese Familie gründet. Man kann da nicht gerade von grundsoliden Verhältnissen sprechen. Es ist keine Familie, die den Idealvorstellungen der Kirche entspricht, in die Jesus da hineingeboren wird. Im Gegenteil. Die Amtskirche hätte in den folgenden 2000 Jahren so einiges an diesen Verhältnissen auszusetzen gehabt. Ich finde das eigentlich verwunderlich. Denn einerseits hat die Kirche eine klare Definition davon, was als Familie gilt und was nicht. Verkürzt gesagt: Verheiratete Eltern, eigene Kinder. Andererseits beruft sie sich aber auf Jesus, der in eine Familie geboren ist, die diesem kirchlichen Idealbild nicht entspricht. Ich finde es grundsätzlich nicht schlimm und nicht falsch ein bestimmtes Familienbild zu bevorzugen. Das ist völlig in Ordnung, aber ich finde es schwierig ein solches Bild als das einzig richtige zu propagieren. Denn es gibt eben nicht nur diese eine ideale Form. Vermutlich ist das Ideal sogar eher selten geworden und gerade heute gibt es eine Vielzahl von Möglichkeiten Familie zu bilden, zu pflegen und zu leben. Und mein Eindruck ist, dass diese Möglichkeiten nicht zwangsläufig schlechter sind als die klassische Vorstellung. Sie sind nur ein bisschen anders. Ich stelle mir vor, dass Maria, Joseph und Jesus trotz der von den gesellschaftlichen Forderungen her gesehenen schwierigen Voraussetzungen, eine glückliche Familie gewesen sind. Auch wenn sie vielleicht die verlangte Form nicht ganz eingehalten haben, sie haben ihr Zusammensein mit Leben und mit Liebe gefüllt. Das ist doch das Wichtigste. Ich glaube, die Autoren der Evangelien haben die heilige Familie ganz bewusst ein bisschen unheilig dargestellt. Weil sie einen Blick für die Wirklichkeit hatten. Weil sie wussten, wie es läuft bei den Menschen. Da sind sie manchen  kirchlichen Vorstellungen weit voraus. Sie sind von der Wirklichkeit ausgegangen, nicht von einer Idealvorstellung. Das hätte der Amtskirche zu allen Zeiten in vielen Bereichen auch gut getan. Und würde ihr auch heute noch guttun.

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SWR2 Wort zum Tag

19JAN2024
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Große Liebe habe ich zum ersten Mal in der Kirche gespürt. Ganz konkret als Jugendlicher im Gottesdienst. Allerdings hatte das wenig mit Gott oder der Messe selbst zu tun. Das gab nur den Rahmen vor. Ich war 15 und schwer verliebt. Das Ziel dieser meiner Liebe war so alt wie ich und wunderschön. Jeden Sonntag saß sie mit ihren Eltern in der Kirche. Ganz vorne. So, wie es ihr gebührte. Sie ist so ein Mensch für die erste Reihe gewesen. Davon war ich damals überzeugt. Ich bin hinten gesessen, irgendwo in der riesigen Kirche meiner Heimatstadt, wo es ein bisschen dunkler war. Jeden Sonntag bin ich in den Gottesdienst. Freilich, weil ich das Bedürfnis dazu hatte, aber eigentlich wegen ihr. Um sie zu sehen, um vielleicht einen Blick von ihr zu erhaschen oder – noch besser – ein Zunicken oder gar ein Lächeln. In den Liedern, die gesungen wurden, habe ich sicherlich Gott verherrlicht, aber eigentlich sie. Wenn ich vor dem Allerheiligsten gekniet habe, dann habe ich eigentlich vor ihr gekniet. Wenn es darum ging still zu beten, dann habe ich nicht gebetet, sondern an sie gedacht. Wenn von der Liebe Gottes die Rede war, so habe ich nur die Liebe zu ihr im Sinn gehabt. Ich habe bei der Wandlung nicht auf den vom Priester empor gehaltenen Leib Christi geschaut, sondern auf ihren Rücken und ihren Hinterkopf und habe dort alles Anmutige der Welt entdeckt. Ich hätte alles für sie getan und stellte mir das auch so vor. Wie es nun mal so ist, mit 15, den Gefühlen und Sehnsüchten schutzlos ausgeliefert, habe ich mich diesen völlig hingegeben. Heute kann ich darüber schmunzeln, finde mein Fühlen sogar ein bisschen bedenklich, in jedem Falle kitschig. Damals aber war es der Mittelpunkt meines Lebens, dem ich alles untergeordnet habe.

Wir sind uns dann irgendwann sogar näher gekommen und ein Stück gemeinsam gegangen. Letztendlich habe ich das dann gründlich vermasselt. Danach haben wir uns aus den Augen verloren. Jeder hat seine eigene Richtung eingeschlagen.

Ich verbinde Gottesdienst und Kirche ganz stark mit dieser Geschichte und diesen Gefühlen. Wahrscheinlich, weil es dort angefangen hat. Wahrscheinlich, weil meine ungezügelte Verliebtheit irgendetwas mit Gott zu tun hat. Vielleicht ein religiöses Moment hat. Wie dem auch sei. Ich hoffe, es geht ihr gut und sie ist glücklich. Sie ist nicht mehr in meinem Leben. Gott ist geblieben.

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SWR2 Wort zum Tag

18JAN2024
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Kürzlich habe ich mich mit einer Freundin unterhalten, die derzeit etwas überlastet ist. Sie hat geklagt, dass ihr alles zu viel werde. Irgendwann ist dann der Satz gefallen, der häufig in solchen Gesprächen vorkommt: „Aber das ist ja alles Jammern auf hohem Niveau“. Das ist eine Aussage, die ich natürlich erstmal verstehen kann, aber sie regt mich auch auf. Denn ich weiß nicht, was das eigentlich soll. Sie klagt über ihren Kummer und relativiert ihn dann, indem sie behauptet, dass das gar kein wirklicher Kummer ist. Zumindest im Vergleich zu den Sorgen anderer. Das klingt edelmütig und weitblickend. Aber ich glaube, das ist es nicht. Mir kommt es so vor, als würde sie sich ein schlechtes Gewissen machen, weil sie unter keinen „richtigen Problemen“ leidet. Aber nur um dadurch ein scheinbar reines Gewissen zu bekommen, weil es ihr ja bewusst ist. Doch in Wirklichkeit wird sie von ihren Sorgen gequält und fühlt sich noch dazu schlecht, weil es irgendwie keine „richtigen“ Sorgen sind.

Das erinnert mich an etwas aus meiner Kindheit. Ich war das, was man ein „näschiges“ Kind nennt. Ich wollte eigentlich nur Spätzle essen, sonst nichts. Aber es wurde immer wieder verlangt, dass ich von allem probiere. Und zwar oft mit der Begründung, dass „Die Kinder in Afrika“ dankbar wären, wenn sie das hätten, was ich hatte. Das wären sie wahrscheinlich, aber bei mir hat es nur folgendes ausgelöst: Ich hatte ohnehin ein schlechtes Gewissen, weil mir nichts geschmeckt hat. Zusätzlich fühlte ich mich dann noch schuldig, weil es anderen viel schlechter ging. Das Ergebnis war nicht, dass ich alles gegessen, sondern dass ich mich doppelt geschämt habe. Und den „Kindern in Afrika“ hat es auch nichts gebracht, dass sie dafür herhalten mussten mich zur Demut zu erziehen. Ähnlich scheint es bei diesem „Jammern auf hohem Niveau“ zu sein.

Ich denke, alle Sorgen sind erstmal echt. Auch wenn sie noch so klein scheinen, auch wenn sie bei uns natürlich oft aus unserem überschäumenden Wohlstand heraus entstehen. Wenn sie mir zusetzen, sind sie da. Indem ich sie relativiere, kann ich mich vielleicht als ehrlich oder achtsam inszenieren, aber die Probleme sind damit nicht gelöst, sondern eher vergrößert.

Wenn ich tatsächlich der Ansicht bin, dass meine Sorgen klein und nichtig sind und ich darunter leide, dass es mir zu gut geht, dann ist es wohl besser etwas an meinem Leben oder zumindest an meiner Haltung dazu zu ändern. Es könnte ein guter Anfang sein dankbar dafür zu sein, wie ich leben kann, anstatt mich deswegen schuldig zu fühlen. Und aus dieser Dankbarkeit heraus wirksam werden für die, denen es schlechter geht.

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SWR2 Wort zum Tag

09DEZ2023
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Jürgens Todestag war auf den 18. August festgesetzt worden.

Ich habe den Sommer in den Bergen auf einer Hütte verbracht. Jürgen war das Schwein, das auf der benachbarten Alm aufgewachsen ist. Am genanntem Datum sollte ein kleines Fest dort oben stattfinden. Zu diesem Anlass sollte Jürgen geschlachtet werden. Sein Leben war also auf diesen Tag hin angelegt und sollte da in einen Festbraten münden. Weil ich gerne und viel laufen gehe, bin ich zwei Monate lang beinahe täglich an Jürgens Gehege vorbeigekommen. Ich habe gesehen, wie er in der Erde gewühlt hat, gefressen hat und gewachsen ist. Als dann der 18. August immer näher gekommen ist, bin ich ab und zu an seinem Zaun stehengeblieben und habe ihm zugeschaut. Er hat unbekümmert die Sachen gemacht, die er eben macht. Nichts von seinem nahen Tod ahnend. Mein Vegetarierherz hat natürlich geblutet.

Am  Tag vor seinem Tod, stand ich wieder am Zaun. Da hatte ich das große Bedürfnis ihn zu warnen. „Morgen wirst Du geschlachtet“, habe ich ihm zugerufen. „Heute ist Dein letzter Tag“. Ich habe mir eingebildet, dass er das wissen sollte. Ich habe auch kurz darüber nachgedacht ihn zu befreien, ihm eine Chance zu geben davonzukommen. Aber er hat auf meinen Zuruf nicht einmal reagiert, es hatte geregnet und er sich in einer Dreckpfütze gesuhlt.

Am 19. August kam ich in der Frühe wieder vorbei. Jürgens Gehege war leer. Ich bin mit einem sonderbaren Unbehagen am Zaun gestanden. Ich weiß nicht, wie ein Schwein denkt und fühlt, aber ich konnte es nicht verhindern mich an seinem Gehege mit ihm zu vergleichen. Jürgen hat bis zu seinem Lebensende kerngesund und grunzend in seinem Element gelebt. Im Vergleich zu den meisten seiner Artgenossen hatte er ein privilegiertes Leben. Er war wahrscheinlich ein glückliches Tier. Ich lebe auch ein privilegiertes Leben, ich bin ein freier, selbstbestimmter, glücklicher Mensch. Ich will noch lange leben. Und ich hatte gedacht, Jürgen will das sicher auch. Deshalb habe ich ihn gewarnt, dass er geschlachtet werden soll. Aber er hat nicht reagiert. Natürlich konnte er mich nicht verstehen, ich habe ihn vermenschlicht und mich selbst auf ihn projiziert. Er hat einfach weitergemacht mit dem, was er immer gemacht hat. Er hat sich nicht dafür interessiert, wann er sterben muss. So habe ich es gedeutet. Und irgendwie, glaube ich, dass er damit recht gehabt hat.

Denn ich denke, es ist gut, dass wir den Zeitpunkt nicht kennen, an dem wir sterben müssen. Ich zumindest will es gar nicht wissen. Ich will weiterleben in der Hoffnung, dass es weitergeht. Bis es irgendwann vorbei ist. Irgendwann - Das genügt, mehr muss ich gar nicht wissen.

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SWR2 Wort zum Tag

08DEZ2023
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Vor Kurzem musste ich mal wieder eine Vollbremsung hinlegen. Ich weiß nicht mehr was gewesen ist, vielleicht habe ich am Radio was verstellt, vielleicht - ich gestehe es – am Handy rumgedrückt. Auf jeden Fall war ich kurz unaufmerksam. Als ich wieder auf die Straße geschaut habe, war da plötzlich ein Müllaster, der vorher noch nicht dagewesen ist. Ich bin auf die Bremse gestiegen und konnte gerade noch rechtzeitig halten. Aber fast wäre es schiefgegangen und es hätte möglicherweise böse Folgen haben können. Glück gehabt! habe ich gedacht. Ich war danach eine Weile lang ganz schön angespannt, erst allmählich ist der Schreck von mir abgefallen. Und auf der restlichen Fahrt habe ich darüber nachgedacht, in wie vielen Situationen ich schon Glück gehabt habe. Wie oft es knapp gewesen ist.

Nicht nur beim Autofahren, auch mit dem Fahrrad, oder wenn ich zu Fuß unterwegs gewesen bin. Es gibt ja allerhand Gefahren. Ganz banale Sachen. Nasses Laub zum Beispiel, auf dem ich schon oft ausgerutscht bin oder vereiste Pfützen im Wald. Wenn man nicht aufpasst, kann schnell was schief gehen. Aber nicht nur die eigene Unaufmerksamkeit ist gefährlich, auch die der anderen. Sieht mich der Autofahrer nachts, wenn ich mit dem Rad unterwegs bin?

Ich bin auf jeden Fall schon in einigen brenzlichen Situationen gewesen. Aber mir ist noch nie etwas passiert. Ich habe mir noch nie was gebrochen, mich noch nie schwer verletzt. Auch zuhause, die meisten Unfälle, heißt es ja, passieren im Haushalt. Auch da ist mir - Gott sei Dank - noch nie etwas Ernstes zugestoßen. Keine Schnittverletzungen in der Küche, kein Ausrutschen in der Dusche. Irgendwie, so mein Eindruck, bin ich ein Glückskind. Sonst wäre ich wohl schon lange nicht mehr hier. Das wird mir immer klarer, je älter ich werde.

Vielleicht hält jemand eine schützende Hand über mich. Vielleicht gibt es so etwas wie einen Schutzengel. Ich weiß es nicht. Jedenfalls hatte ich bislang mehr Glück als Unglück, wenn es um die alltäglichen Gefahren geht. Vielleicht auch mehr Glück als Verstand. Dafür bin ich sehr dankbar, denn das ist nicht selbstverständlich. Neulich hatte ein Freund von mir einen schweren Unfall. In einer Situation, die ich schon hundertmal heil überstanden habe.

Es ist so eine Sache mit dem Glück. Man braucht viel davon, jeden Tag. Und ich wünsche mir, dass es genug davon für alle gibt. Denn, das weiß jeder, das hat jeder schonmal im eigenen Umfeld oder am eigenen Leib erlebt. Oft genügt es nur einmal Pech zu haben. Und alles ist anders.

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SWR2 Wort zum Tag

07DEZ2023
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Vor Jahren bin ich mal nach einer langen Wanderung in einem typischen alpenländischen Urlaubsort gelandet. In den Straßen ist mir an vielen Häusern ein Schild mit der Aufschrift Fremdenzimmer aufgefallen.

Ich bin dann in ein Wirtshaus gegangen, das völlig überfüllt gewesen ist. Ich habe nur noch Platz an einem Tisch gefunden, an dem schon eine Gruppe gesessen hat. Wie sich herausstellte, waren es lauter Einheimische. Wir kamen ins Gespräch und unterhielten uns über die Berge der Region. Die interessantesten Routen durch die Wände, die idyllischsten Seen, die urigsten Almen und die schönsten Aussichtspunkte. Weil ich schon oft dort in der Gegend gewesen war und mich einigermaßen auskannte, konnte ich gut mitreden und ich hatte den Eindruck gehabt, dass ich akzeptiert wurde. Da es allesamt ältere Männer gewesen sind und es mich immer interessiert, wie es früher gewesen ist, fragte ich schließlich, wie sehr sich der Ort gewandelt hat. Wovon die Leute hier leben und wie groß der Einfluss des Tourismus ist. Dabei bin ich auch auf die auffallend vielen Fremdenzimmerschilder zu sprechen gekommen. Ich hatte den Eindruck, dass jeder, der hier lebt, sein Geld mit Tourismus verdient oder zumindest die Kasse ein wenig damit aufbessert. Das war auch so, habe ich zur Antwort bekommen. Von der Landwirtschaft zu leben lohne sich nicht mehr, sagten sie, viele von den Jungen arbeiteten in der Stadt und pendelten hin und her, einige lebten ganz vom Tourismus. Aber beinahe jeder vermietete Zimmer an Touristen. Einer von Ihnen sagte, dass er auch zwei Fremdenzimmer anbiete. Aber eigentlich, fügte er hinzu, kämen dort seit vielen Jahren immer die gleichen Gäste, die hier Urlaub machen. Das sei bei den meisten so. Man kenne sich mittlerweile und freue sich immer schon, wenn zu den entsprechenden Zeiten die entsprechenden Gäste kommen. Die anderen am Tisch stimmten zu, dass es bei ihnen auch so sei und auch bei allen, die sie kannten.

Natürlich geht es bei dem ganzen um Tourismus, auch darum Geld zu verdienen. Die Gäste, auch wenn sie schon lange kommen, zahlen vermutlich die normalen Tarife. Aber dennoch, ich finde, es ist ein schönes Bild. Wenn man überlegt, was passieren kann, wenn man Fremdenzimmer anbietet. Es ist gut zu wissen, dass in all den Fremdenzimmern mittlerweile Freunde wohnen. 

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SWR2 Wort zum Tag

08JUL2023
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Vor Kurzem war ich mit einem Freund beim Klettern in den Alpen. Wir sind ganz darauf konzentriert gewesen den Weg nach oben zu finden und die Sicherungen zu legen. Irgendwann sind wir auf einen kleinen Absatz gekommen, auf dem loses Geröll gelegen ist. Auf der Suche nach dem Weiterweg haben wir mit dem Seil ein paar Steinbrocken in die Tiefe gestoßen. Zum Glück konnte die Seilschaft, die nach uns geklettert ist, rechtzeitig reagieren und es ist nichts passiert. Wäre jemand getroffen worden, wäre das schlimm ausgegangen. Da ist mir wieder klar geworden, dass man nicht nur nach oben, sondern auch nach unten schauen muss. Dass andere zu Schaden kommen können, wenn ich nicht genug Rücksicht nehme...

Hätte ich diese kleine Geschichte jetzt gehört, würde ich mich wahrscheinlich fragen: Warum erzählt der uns das? Das ist doch selbstverständlich: Man muss Rücksicht aufeinander nehmen. Man muss im Blick haben, was um einen herum geschieht.

Es stimmt: Das weiß doch jeder. Diese Geschichte ist einfach. Geradezu alltäglich.

Ich glaube, dass das mit den meisten wesentlichen Dingen so ist. Wir wissen doch Bescheid. Wir wissen darüber Bescheid, dass Kriege nichts bringen, und die Welt kaputt geht – um nur die großen Themen zu streifen. Im Kleinen wissen wir, dass es wichtig ist zuzuhören, verständnisvoll, nachsichtig und rücksichtsvoll zu sein. Jeder weiß, dass er nicht allein ist auf der Welt. Natürlich gibt es Dilemmata und Krisen, die schwer zu lösen sind. Aber die grundsätzlichen Pfeiler für ein gelingendes Leben und Zusammenleben haben wir doch schon lange erkannt und verstanden. Zumindest ist das Wissen darüber verfügbar. Es gibt keinen Erkenntnismangel. Man könnte sagen: wir sind so gescheit - aber irgendwie werden wir nicht gescheiter.

Denn das Klima kippt, es herrscht Krieg, es gibt Armut, Hunger, Ungerechtigkeit – Die Liste ließe sich endlos fortführen. Warum lassen wir, um das Bild vom Anfang noch einmal aufzugreifen, andauernd Steinbrocken auf andere fallen, obwohl wir wissen, dass das falsch ist?

Das frage ich mich schon lange. Denn ich selbst scheitere ja auch immer wieder an meinem Anspruch. Zum Beispiel will ich zuverlässiger sein, als ich es oft bin.

Es ist fast so, als würde all das schöne Wissen nichts bringen. Etwas Wichtiges fehlt.

Ich nenne das gerne: Fleischwerdung. Wenn die Erkenntnis nicht vom Kopf in den Leib und von da ins Handeln sickert, bringt sie nichts. Wir kommen nicht weiter, wenn wir nur klug daherreden. Unsere Erkenntnis muss Fleisch werden – Wirksam werden.

Und die Idee ist nicht von mir. Ich hab sie mir von Gott geliehen.

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