SWR2 Wort zum Tag

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09DEZ2023
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Jürgens Todestag war auf den 18. August festgesetzt worden.

Ich habe den Sommer in den Bergen auf einer Hütte verbracht. Jürgen war das Schwein, das auf der benachbarten Alm aufgewachsen ist. Am genanntem Datum sollte ein kleines Fest dort oben stattfinden. Zu diesem Anlass sollte Jürgen geschlachtet werden. Sein Leben war also auf diesen Tag hin angelegt und sollte da in einen Festbraten münden. Weil ich gerne und viel laufen gehe, bin ich zwei Monate lang beinahe täglich an Jürgens Gehege vorbeigekommen. Ich habe gesehen, wie er in der Erde gewühlt hat, gefressen hat und gewachsen ist. Als dann der 18. August immer näher gekommen ist, bin ich ab und zu an seinem Zaun stehengeblieben und habe ihm zugeschaut. Er hat unbekümmert die Sachen gemacht, die er eben macht. Nichts von seinem nahen Tod ahnend. Mein Vegetarierherz hat natürlich geblutet.

Am  Tag vor seinem Tod, stand ich wieder am Zaun. Da hatte ich das große Bedürfnis ihn zu warnen. „Morgen wirst Du geschlachtet“, habe ich ihm zugerufen. „Heute ist Dein letzter Tag“. Ich habe mir eingebildet, dass er das wissen sollte. Ich habe auch kurz darüber nachgedacht ihn zu befreien, ihm eine Chance zu geben davonzukommen. Aber er hat auf meinen Zuruf nicht einmal reagiert, es hatte geregnet und er sich in einer Dreckpfütze gesuhlt.

Am 19. August kam ich in der Frühe wieder vorbei. Jürgens Gehege war leer. Ich bin mit einem sonderbaren Unbehagen am Zaun gestanden. Ich weiß nicht, wie ein Schwein denkt und fühlt, aber ich konnte es nicht verhindern mich an seinem Gehege mit ihm zu vergleichen. Jürgen hat bis zu seinem Lebensende kerngesund und grunzend in seinem Element gelebt. Im Vergleich zu den meisten seiner Artgenossen hatte er ein privilegiertes Leben. Er war wahrscheinlich ein glückliches Tier. Ich lebe auch ein privilegiertes Leben, ich bin ein freier, selbstbestimmter, glücklicher Mensch. Ich will noch lange leben. Und ich hatte gedacht, Jürgen will das sicher auch. Deshalb habe ich ihn gewarnt, dass er geschlachtet werden soll. Aber er hat nicht reagiert. Natürlich konnte er mich nicht verstehen, ich habe ihn vermenschlicht und mich selbst auf ihn projiziert. Er hat einfach weitergemacht mit dem, was er immer gemacht hat. Er hat sich nicht dafür interessiert, wann er sterben muss. So habe ich es gedeutet. Und irgendwie, glaube ich, dass er damit recht gehabt hat.

Denn ich denke, es ist gut, dass wir den Zeitpunkt nicht kennen, an dem wir sterben müssen. Ich zumindest will es gar nicht wissen. Ich will weiterleben in der Hoffnung, dass es weitergeht. Bis es irgendwann vorbei ist. Irgendwann - Das genügt, mehr muss ich gar nicht wissen.

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