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SWR Kultur Wort zum Tag

In einer alten jüdischen Geschichte fragt der Rabbi: „Wann beginnt der neue Tag?“ Blöde Frage, kann man denken, ist doch klar: wenn die Nacht rum ist, wenn der Wecker klingelt, wenn die Sonne aufgeht. Das weiß der nachdenkliche Rabbi natürlich auch. Doch wie bei jeder echten Frage wird etwas Neues angepeilt, über das schon Gewusste und Selbstverständliche hinaus, deshalb gibt es ja auch keine dummen Fragen. Die Antwort des Rabbi hat es in sich: Der neue Tag beginnt, sagt er, „wenn du in das Gesicht irgendeines Menschen blickst und deine Schwester oder deinen Bruder erkennst. Doch bis dahin ist die Nacht noch bei uns.“ Eine Antwort, die mich jedes Mal neu umhaut.
Bis dahin ist es Nacht bei uns, und das stimmt ja auch. Wenn ich mich den Tagesnachrichten aus der Ukraine, aus Gaza oder dem Südsudan überlasse, dann sieht es tatsächlich finster aus. Wenn ich den Zynismus der großen Weltpolitik mitbekomme, werde ich ratlos bis wütend. Manche sagen, die Welt sei derzeit am Taumeln. Was bisher Halt gab ist am Rutschen – politisch, sozial, auch religiös, und überhaupt. Ein Grundgefühl von drohendem Verlust frisst sich voran, als ginge es überall bergab. Das Schwarz-Weiß-Denken nimmt zu, die Stimmungen sind schnell gereizt und aggressiv gegeneinander. Dabei wäre es so einfach, wie der Rabbi sagt: dem anderen Menschen, der mir heute begegnet, wirklich ins Gesicht sehen und in ihm die Schwester erkennen, den Bruder: ob schwarz oder weiß, ob alt oder jung, ob faszinierend schön oder grenzwertig komisch, ob Aus- oder Inländerin - „alle Menschen werden Brüder“ - und Schwestern. Wenn wir diese Haltung nicht doch noch mehr in die Tat umsetzen würden. Entweder rücken wir zum globalen Dorf zusammen mit gleichberechtigter Bevölkerung oder das Ganze geht hoch wie beim Vulkanausbruch. Entweder Licht und der Blick in das fremde Antlitz, mit all der Bedürftigkeit und Schönheit darin, oder weiterhin „die im Dunklen sieht man nicht“. Der Rabbi hat Recht!
Der neue Tag, das ist nicht einfach der Sonnenaufgang kalendarisch heute am 11. Oktober, nein: es ist die Chance, dass die Schöpfung erwacht auf dem Gesicht des Mitmenschen. Und das hängt auch von unserem Blick ab, von offenen Sinnen und Gedanken. Man sieht nur mit dem Herzen gut.
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Für alles und jedes gibt es Beratung, und das ist gut so. Vom Beipackzettel für die Medikamente bis zum Arbeitsamt oder für Ehe und Familie. Offenkundig geht es oft so kompliziert zu, dass wir professionellen Rat brauchen und hoffentlich auch suchen. In früheren Zeiten gebrauchte man dafür ein altmodisches Wort: nicht nur von Kenntnis und Wissen war die Rede, sondern von Weisheit. Heute würde man vielleicht sagen: professionell und spirituell. Jüngst las ich den tollen Satz: „Weise ist ein Mensch, der von jedem etwas lernt“ - und der entsprechend etwas zu sagen hat, und zwar zum Leben im Ganzen.
Die jüngst verstorbene Margot Friedländer war solch ein weiser Mensch. Die Judenverfolgung in Deutschland überlebt, kam sie im hohen Alter aus dem Exil in den USA zurück und ging hier in die Schulen und an die Öffentlichkeit: sie wollte und konnte die Essenz ihres Lebens weitergeben: „Werdet Menschen“, sagte sie. Und nur ganz verhärtete Leute konnten sich ihrem Charme entziehen, ihrer Lebenserfahrung und ihrer Weisheit, ihrem offenen uralten Gesicht.
Im biblischen Buch der Weisheit lese ich im sechsten Kapitel: „Strahlend und unvergänglich ist die Weisheit; wer sie liebt, erblickt sie schnell, wer sie sucht, findet sie … Wer sie am frühen Morgen sucht, braucht keine Mühe, er findet sie vor seiner Türe sitzen.“ (Weis 6,12.14) Welch goldenes Wort gleich für den Tagesanfang: was wir suchen, sitzt vor der Haustür. Wir wissen ja längst, was gut ist und gut tut. Bloß müssen wir es oft erst anderswo suchen und erfragen, und oft kann Beratung durch andere äußerst hilfreich sein, nein, nicht Beratung nur, sondern Begleitung. Wenn es da Klick macht und einleuchtet, sehen wir urplötzlich, was wir längst schon wissen. Warum denn sonst ist ein ehrliches Lob Balsam für unsere Seele? Warum tun Nachsicht und Vergebung gut? Und warum freuen wir uns am Schönen und Guten? Warum helfen wir, wenn jemand hinstürzt, fast automatisch? Es ist uns ins Herz geschrieben. Für die Bibel ist klar, dass da immer Gott im Spiel ist. Die Frau Weisheit ist von Anfang an seine Assistentin. Jetzt, heute Morgen, sitzt sie vor meiner Haustür. Ich kann sie befragen, ich kann sie in diesen Tag hinein um Begleitung bitten. „Werdet Menschen“, sagt sie. Staunt, dass ihr schon seid, was ihr werden sollt: Mitmenschen, Mitgeschöpfe.
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Die Bibel hat schon Recht: “Jeder Tag hat genug eigene Plage“, auch heute (Mt 6,34). Aber ebenso realistisch dürfen wir doch ergänzen: jeder Tag ist auch für eine schöne Überraschung gut. Man darf den Tag auch vor dem Abend loben, jetzt schon, selbst wenn ein Berg von Arbeit und Problemen vor mir liegen sollte. Einer, der das lernte und lebte, war Dag Hammarskjöld. Deshalb schaue ich gern in seine innere Glaubenswerkstatt, sein Tagebuch. Da notiert er einmal: „Jeder Tag der erste.—Jeder Tag ein Leben. Jeden Morgen soll die Schale unseres Lebens hingehalten werden, um aufzunehmen, um zu tragen und zurückzugeben.“ Dieses Bild von der Schale unseres Lebens gefällt mir. Offen sein für das, was kommt. Womöglich klingt manches von gestern noch nach, vielleicht war die Nacht nicht so gut, und man konnte nicht schlafen, aber jetzt liegt ein neuer Tag vor uns, mit all seinen Routinen und Überraschungen. Dieser Dag Hammarskjöld hat das zum Ritual gemacht: abends gut abschließen, und jetzt auf in den neuen Tag, offen und zupackend, vor allem zuversichtlich und mit viel Vertrauen. Das Bild von der leeren Schale klingt vielleicht ein bisschen idyllisch nach Kaffeekränzchen oder Teetrinken, aber Hammarskjöld war ein illusionsloser Realist, ein Arbeitstier könnte man sagen. Bloß mittendrin, als Grundhaltung von allem war ein innerer Friede, eine reine Empfänglichkeit. Dieser Mystiker der großen Weltpolitik wusste sich im Dienst eines Höheren, er vertraute dem Wirken Gottes. Seine Ein-Tages-Spiritualität finde ich sehr lebenspraktisch. Als wär‘s heute der erste Tag: was da auf mich zukommt, ist einmalige Chance, die will ich nicht verpassen. Selbst wenn es die übliche Routine wäre, heute ist heute und nur heute. Jetzt am Morgen also gilt es, die leere Schale dieses Tages hinzuhalten, „um aufzunehmen, um zu tragen, um zurückzugeben“.
Eine Mystikerin früherer Zeiten, Mechthild von Hackeborn, hat das vor gut 700 Jahren mal so beschrieben: „Wenn der Mensch wüsste, was er an einem einzigen Tag alles Gutes erleben und tun kann! Dann würde sich sein Herz, sobald es erwacht, mit großer Freude füllen: dass da ein Tag angebrochen ist, an dem er für Gott leben und sich entfalten kann. Und die Freude würde sein Herz so weit machen, dass er den ganzen Tag über zu allen Dingen, die er zu tun und zu ertragen hat, größeren Eifer und mehr Stärke hätte.“ Jeder Tag voller Chancen, dem ich dann hinhalten kann die Schale des Lebens, des Überlebens aller.
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Heute, am jüdischen Sabbat, will ich an eine wunderbare Frau erinnern, mit der ich oft im Gespräch bin. Etty Hillesum ist ihr Name, eine hellwache lebenshungrige Niederländerin. Aufgrund einer Lebenskrise beginnt die frisch gebackene Juristin Anfang 1941 ein Tagebuch - für mich eines der größten Bücher des 20. Jahrhunderts, nicht nur ein faszinierendes Dokument der Zeitgeschichte, sondern der bewegende Blick in eine spirituelle Lebenswerkstatt. „Ich will die Chronistin dieser Zeit sein“, so lautet der Titel. Der letzte Eintrag darin nach 19 Monaten ist typisch für die empathische Kraft des Ganzen: „Man möchte ein Pflaster auf vielen Wunden sein“ – geschrieben in den schrecklichen Zeiten der Nazi-Besetzung und Judenverfolgung.
Am 26. August 1941, also vor fast genau 84 Jahren, notiert die suchende Etty: „In mir gibt es einen ganz tiefen Brunnen. Und darin ist Gott. Manchmal ist er für mich erreichbar. Aber oft liegen Steine und Geröll auf dem Brunnen und dann ist Gott begraben. Dann muss er wieder ausgegraben werden.“ (132) . Und ganz am Schluss ihrer Aufzeichnungen heißt es, wie im Rückblick auf den intensiven Weg des Tagebuchs: „Was war das im Grunde für eine seltsame Geschichte von mir: Von dem Mädchen, das beten lernte. Es ist meine intimste Gebärde, intimer als jede Gebärde mit einem Mann.“ (693). Ja, diese junge Frau hat Gott entdeckt und ist ein betender Mensch geworden. Im Herbst 1943 ist sie in Auschwitz ermordet worden, nicht einmal 30-jährig.
„Hineinhorchen“ – dieses deutsche Wort war für Etty Hillesum besonders wichtig. In der Tat ein Codewort authentischer Spiritualität. Im September 1942 notiert sie: „Eigentlich ist mein ganzes Leben ein einziges unablässiges `hineinhorchen`, in mich, in andere, in Gott. Und wenn ich sag: `Ich horch hinein `, dann ist es eigentlich Gott in mir, der ` hineinhorcht`. Das Wesentlichste und Tiefste in mir, das auf das Wesentlichste und Tiefste im anderen horcht. Von Gott zu Gott.“ (658) Ich kenne keine genauere Umschreibung dessen, was man Mystik nennen könnte – nicht in großen Worten oder auf besonderen Höhenflügen, sondern in der ganz banalen Alltagstreue.
Übrigens wusste zu Lebzeiten Etty Hillesums praktisch niemand von ihrem Tagebuch, aber sie tat vielen gut und strahlte Zuversicht aus. Unsereinem bleiben wenigstens ihre Texte, eine wahre Schatzkammer voller Sabbatkraft.
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Anfang dieses Monats hat Präsident Trump die Chefin des amerikanischen Amtes für Arbeitsstatistik entlassen, eine höchst kompetente langjährige Beamtin. Der einzige Grund für die willkürliche Entscheidung offensichtlich: ihm passten die veröffentlichten Zahlen der Arbeitslosen nicht, er will Erfolgsmeldungen um jeden Preis. Da wiederholt sich die uralte Geschichte: man bestraft den Überbringer der unangenehmen Botschaft; die selbst aber will man sich vom Leibe halten, sie täte weh und erforderte den Blick in den Spiegel. Genau so ging es dem mutigen Propheten, den wir Johannes den Täufer nennen. Der predigte damals ungeschminkt und fernab vom Machtzentrum Jerusalem in der Wüste: er las den Mächtigen dort die Leviten und taufte die Leute zum Zeichen ihrer Umkehr und Erneuerung. Später in Galiläa musste er dem Fürsten Herodes Gottes Strafe androhen; der hatte seinem Bruder die Frau ausgespannt und lebte in wilder Verbindung, absolut gegen göttliches Gesetz und gegen königliche Vorbildpflicht. Aber statt die Kritik des Johannes ernst zu nehmen, ließ Herodes ihn ins Gefängnis werfen und später hinrichten. Heute gedenkt die Kirche dieses jüdischen Märtyrers, dem Vorläufer Jesu.
Vermutlich war Jesus zunächst ein Hörer und Schüler dieses Johannes, vielleicht dann sogar sein Assistent. Jedenfalls kam er immer wieder auf diesen mutigen und rechtschaffenen Mann zu sprechen. Sein Schicksal ließ Jesus nicht gleichgültig. Beide verbindet die feste Überzeugung, dass Gottes Reich, Gottes Weltherrschaft nahe ist. Beide waren überzeugt, dass das Unrecht in der Welt nicht ungestraft bleibt und dass es letztlich doch keine Zukunft hat. Denn Gott ist gerecht und wirkt. Bei Gewaltanwendung knickten sie nicht ein. Gerade heraus nannten sie Unrecht beim Namen und standen ein für Gottes Willen. Sie lebten aus der Vision, dass Gottes Weltherrschaft ständig schon im Kommen ist; er lässt jene aufstehen und auferstehen, die sich seiner Gerechtigkeit annehmen.
Ich finde es schön, solche Menschen als himmlische Begleiter zu haben. Johannes hat damals diesem Jesus den Weg bereitet, warum sollte er es nicht auch heute bei mir tun? Ich bin nicht Alexej Nawalny oder Maximilian Kolbe, die ebenfalls mit dem Leben bezahlten. Ich brauche schon Rückenstärkung, wenn ich in der S-Bahn den Mund aufmachen will, wenn Ausländer angepöbelt werden. Von größeren Einsätzen ganz zu schweigen. Heute, da wir Johannes des Täufers und seines Mutes gedenken, bin ich einfach dankbar, dass wir nicht bei null anfangen müssen. Wir sind umgeben von Menschen, die es vor uns gewagt haben, anständig zu sein und mit Gottes Gegenwart zu rechnen.
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Gleich in der ersten Ansprache kam Papst Leo auf den Augustinerorden zu sprechen, dem er selber angehört. Tief geprägt ist er von diesem Augustinus, dem genialen Nordafrikaner aus dem heutigen Tunis. Von ihm übernahm der Papst auch das Motto für seinen eigenen Dienst, ziemlich aktuell auch für heute:“ in illo uno unum / in diesem Einen sind wir eins“. Oder etwas ausführlicher übersetzt: „in ihm, der eins ist mit sich und allem und Gott, sind wir eins“. Damals im Zerbrechen des römischen Reiches und der begonnenen Völkerwanderung eine brandaktuelle Maxime: Einheit in Vielfalt, wirkliche Verbundenheit aller Geschöpfe untereinander und mit Gott, Zusammengehörigkeit also und nicht egoistische Ausgrenzung. Gemeint mit dem Einen ist natürlich Christus: in ihm hat sich Gott mit jedem Menschen gleichsam vereinigt, wie das letzte Konzil sagte, er ist der Inbegriff des Friedens. Jeder Mensch ist Gottes Ebenbild, und Christus dabei ganz besonders.
Was ich bei Augustinus besonders sympathisch finde: er ließ sich Zeit mit seiner Christwerdung; er liebte das wilde Leben; von dem, was man so Heiligkeit nennt, keine Spur. Er lebte während der Studien in Karthago und hatte eine Lebensgefährtin, die er später freilich schnöde zurückließ – gewiss kein Ruhmesblatt. Ehrgeizig und sinnenfreudig, war Augustinus auf schnelle Karriere aus, und das gelang dem Hochbegabten auch. Kaum 30-jährig wurde er in Mailand Lehrer und schnell Professor. Konsequent auf Wahrheitssuche, ließ sich Augustinus nicht mit halben Antworten abspeisen. Unermüdlich durchstreifte er fragend die damaligen Sinnangebote, bis er dann endlich fündig wurde und sich taufen ließ.
„Unruhig ist unser Herz, bis es Ruhe findet in dir“ – kaum ein Satz wird so oft zitiert wie dieser aus den großartigen Bekenntnissen des Augustinus, der ersten Autobiografie der Menschheit und nicht zufällig ein einziges Gebet. Gott, „du bist mir innerlicher als ich mir selbst, du bist mir höher, überlegener als ich selbst ...“. Tiefste Innerlichkeit im eigenen Leben und entschiedenste Mitverantwortung für die Weltverhältnisse gehören bei Augustinus zusammen, vielleicht war er der wirkmächtigste aller christlichen Theologen: Seelsorger und Bischof, Kirchenpolitiker und Startheologe. Vor allem war er ein liebender Mensch, ergriffen und ergreifend. Heute ist der kirchliche Gedenk- und Namenstag für diesen Heiligen. Wie gut, dass wir solch himmlische Begleiter haben.
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Der biblische Psalm, der mir der liebste ist, beginnt so: „Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat. Er vergibt dir all deine Schuld und heilt alle deine Krankheiten. Er rettet dich mitten aus Todesgefahr und krönt dich mit Güte und Erbarmen. Er gibt dir in deinem Leben viel Gutes – überreich bist du beschenkt.“ (Ps 103 Genfer Übersetzung). Eine tolle Zusage und Zuversicht. Klar, das klingt zunächst reichlich übertrieben; zu schön, um wahr zu sein. Aber ganz realistisch ist gleich auch von Krankheit und Schuld die Rede, sogar von Gevatter Tod. Von Schönfärberei also keine Spur, aber dennoch pure Lust aufs Dasein statt Schwarzseherei. Die ganze Realität wird ins Gebet genommen. Alles ist überglücklich in das Licht einer strahlenden Güte getaucht. Und das ist nur der Anfang, es folgen weitere zauberhafte Bilder von der Lebensmacht namens Gott. „So hoch der Himmel über der Erde ist, so überragend groß ist seine Güte über allen, die ihn lieben und ehren. Wie Vater und Mutter ihren Kindern liebevoll zugewandt sind, so begegnet Gott allen, die mit ihm rechnen und ihn ernst nehmen. Er weiß ja, was wir für Geschöpfe sind.“
Diese Verse sind mir besonders ans Herz gewachsen. Ein richtiges Kontrastprogramm zum üblichen „wie du mir, so ich dir“. Man spürt förmlich, wie diese Psalmverse die üblichen Mechanismen von Verrechnung und Vergeltung radikal durchbrechen. Die Fachleute sprechen plastisch auch von Sprengmetaphern. Da werden die gängigen Muster von Vorwurf und Erwartung durchkreuzt. Dass wir Mist bauen und schuldig werden, ist als fast selbstverständlich vorausgesetzt. Nicht die Schuld ist das Problem, sondern das fehlende Vertrauen auf solche Schöpfergüte. Dieser Gott ist die Großzügigkeit in Person, nichts als freigebendes Zuvorkommen. Kein Wunder, dass jemand, der ihm glaubt, in einem anderen Psalm sagt: „Mit meinem Gott überspringe ich Mauern.“ Nicht auszudenken, wie die Welt aussehen würde, wenn wir aus dem Hamsterrad von Schuld und Vergeltung heraus träten. Und wenn ich aufhören könnte, mich schlechtzureden oder mir Vorwürfe zu machen.
Ja, „lobe den Herrn, meine Seele und vergiss nicht, was er dir schon Gutes getan hat“. Das sind Sätze fürs Leben, für jeden Tag. Man sollte die Psalmen essen, meinte einmal Dorothee Sölle, also nicht nur lesen, nein gut kauen und einverleiben. Es ist Kraftnahrung, es fördert die Lebensfreude und auch den Dank. Und sie öffnen die Augen. Schwarzseher und Unkenruferinnen gibt es ja genug. Also auf zum Psalmenfrühstück.
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„Aller Augen warten auf dich, du gibst ihnen Speise zur rechten Zeit. Du tust deine milde Hand auf und erfüllst alles, was lebt, mit Wohlgefallen“ - mit diesem Tischgebet bin ich groß geworden. Kein Löffel Suppe, kein Bissen ohne diese Worte zuvor. Solch ein Innehalten ist nicht nur ernährungsmäßig gesund und bringt Ruhe an den Tisch und ins Herz, es stiftet auch Gemeinschaft. Einmal am Tag wenigstens so über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen, tut gut. Einmal am Tag so zum Ausdruck zu bringen, dass das Dasein nicht selbstverständlich ist, dass wir ständig Beschenkte sind, ist sinnvoll. Das kann schon früh am Morgen sein, gleich zum Frühstück, und natürlich bei jeder Mahlzeit.
„Aller Augen warten auf dich“ - dieses Tischgebet stammt aus dem schönsten Gedicht- und Gesangbuch der Menschheit, den biblischen Psalmen (Psalm 104). Da findet sich dieses Loblied auf die Schöpfung und ihre Bewahrung: „Du, mein Gott, groß und erhaben bist du …, in Licht hüllst du dich wie in ein Gewand, den Himmel spannst du wie ein Zeltdach aus.“ So heißt es gleich zu Beginn, und dann werden Kosmos und Natur besungen, die Welt der Tiere und der Menschen: „wie zahlreich sind doch deine Werke … Alle Lebewesen warten auf dich, du gibst ihnen Speise zur rechten Zeit.“ Welch eine Freude über den Reichtum der Schöpfung, welch ein Vertrauen in jene schöpferische Lebensenergie, ohne die wir nicht wären.
Vor allem dieses „alle Lebewesen warten auf dich“ hats mir angetan. Und die Konzentration auf die Vorgänge von Nahrung und Essen. Wir sollten die biblischen Psalmen essen, meinte deshalb einmal Dorothee Sölle, sie sind Grundnahrungsmittel. Beten sei wie Essen: etwas zu uns nehmen, was guttut und Kraft gibt. Dieser Psalm auf die Großzügigkeit Gottes und den Reichtum der Welt kann mit beidem erfüllen: mit größtem Dank für das Dasein in dieser wunderbaren Welt, und mit Beschämung über den weltweiten Skandal von Egoismus und Geiz. Immer noch wäre ja weltweit genug für alle da und niemand müsste hungern; wenn wir nur teilen könnten und nicht raffen müssten. Dass doch endlich alle satt werden und die Speise finden, die ihnen schmeckt. Diesen Tag mit einem Psalmenfrühstück zu beginnen, ist also eine mutige Sache, und kann auch eine Zumutung sein.
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Die einen schwören auf Müsli, andere brauchen ein Ei oder Wurst, die meisten auch Kaffee oder Tee. Das Frühstück ist wichtig, jedenfalls bald am Tag die entsprechende Energiezufuhr. Das gilt auch für Geist und Seele. Morgens die Augen aufzuschlagen, ist ja nicht selbstverständlich; gut durch den Tag zu kommen, auch nicht. Früher war deshalb ein Morgengebet selbstverständlich, ein Kreuzzeichen oder ein Bibelvers, in jedem Fall ein Ritual wie das Frühstück, ein geistlicher Vitaminstoß für den neuen Tag und zu seiner Begrüßung.
Unter den erprobten Nahrungsmitteln christlicher Überlieferung stehen die biblischen Psalmen ganz oben, wunderbare Verdichtungen bewährter Gottesbeziehung. Man solle sie essen wie Brot oder Müsli, meinte Dorothee Sölle einmal. Gut beißen und kauen, gut einspeicheln und verdauen – das gibt Kraft. Heute Morgen blieb ich im Psalm 68 an folgenden Versen hängen: „Ein Vater für die Waisen, ein Anwalt für die Witwen ist Gott im Heiligtum dieser Welt. Gott schenkt vereinsamten Menschen ein Zuhause. Gefangene führt er in Freiheit und Wohlergehen“ (Ps 68,6; Genfer Übersetzung). Schon beim Lesen schmeckt mir das gut, betend erst recht spüre ich Lebenswärme und Ermutigung. Allein der Vers: „Gott schenkt den vereinsamten Menschen ein Zuhause“ – dieser Satz rührt mich. Ich denke an die extreme Wohnungsnot hier im Lande und im Lebenshaus Erde, ich denke an meine eigenen Einsamkeiten.
In solch einem Psalmenfrühstück kommen also ganz konkrete Stimmungen auf den Tisch. Auch handfeste Probleme, an denen wir uns die Zähne ausbeißen. Das Schöne und das Schwere wird ins Gebet genommen. „Laudes“ nennt man das in der kirchlichen Überlieferung, also Lob und Preis. Wir danken fürs Aufstehen und Dasein, wir schauen in den bevorstehenden Tag – und alles wird an jenes Geheimnis adressiert, ohne das wir nicht wären - an die höchste Instanz, den Schöpfer aller Dinge, die Lebens- und Wirkkraft in allem.
Solch ein Psalmenfrühstück ist Gold wert, die Zeit dafür lohnt sich. Und das manchmal so sehr, dass einem dann auch tagsüber dieses goldene Mantra wieder einfällt: „Gott schenkt den vereinsamten Menschen ein Zuhause“.
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Neuerdings ist viel von seltenen Erden die Rede. Das sind Erze, die z.B. für die Herstellung von Handys oder Elektroautos dringend gebraucht werden. Mir gefällt der Ausdruck, lässt er doch das Kostbare und Wichtige dieser Rohstoffe ahnen. Und zugleich lässt er mich fragen, warum nicht Einzahl: eine einzige seltene Erde im Ganzen? Dass es diese Mutter Erde im Universum gibt, ist ja erst recht ein seltenes Kabinettstück. Jeder Fleck Erdboden, auf dem wir so verlässlich stehen, ist ja bei Licht besehen nicht selbstverständlich. Jede Handvoll Erde im Garten ist kostbar. Jetzt, wo die Versteppung und Verwüstung der Erde immer gefährlicher zunimmt, gilt es das umso mehr zu würdigen und zu schätzen. Wir leben nicht im Himmel, sondern auf Erden, irdisch durch und durch.
In diesen Tagen zwischen Ostern und Pfingsten ist viel vom Heiligen Geist die Rede, jedenfalls unter Christenmenschen. “Komm, Schöpfer Geist, kehr bei uns ein“ - als wären wir von allen guten Geistern verlassen und hätten nichts nötiger als diese gute, göttliche Energie. Wer in die Welt schaut, könnte in der Tat zu dieser deprimierenden Diagnose kommen. Denn mit Geist ist nicht eine weltabgehobene Kraft gemeint, schon gar nicht etwas bloß Verkopftes. Nein, es geht um die Musik im Ganzen, um die ganz konkrete irdische Wirklichkeit, darum, wie wir die Welt gestalten und was uns antreibt. Gottes Geist erdet. Das lässt sich an der Lebensart Jesu erkennen. Die Leute spürten, wes Geistes Kind er ist. Wir alle wissen zutiefst, was gut ist und guttut. Nichts ist nötiger als guter, heiler und heiligender Geist.
Das lateinische Wort für Erde heißt humus. Es geht um jene Erde, die wir im Garten in die Hand nehmen, auf der wir stehen, ja die wir sind. „Staub bist du, und zum Staube kehrst zurück“, lautet der alte ernüchternde Satz, mit dem wir in den Schoß der Mutter Erde zurückkehren. Und das lateinische Wort für Demut heißt humilitas, irdisch werden und auf den Boden der Tatsachen kommen. Nicht herum spinnen und hoch hinauswollen, nicht herum jammern und das Irdische schlechtmachen. Nein, der Heilige Geist erdet den Himmel und himmelt die Erde an, er macht menschlich, mitmenschlich und zutiefst irdisch. Seltene Erden. Seltene Erde. Komm, Heiliger Geist, gib uns Erdnähe und Bodenhaftung.
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