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SWR4 Abendgedanken

17SEP2024
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„Rausfahren, wenn andere reinkommen!“ – Ein großes Schild aus rostigem Stahl steht vor einem Backsteinhaus mit einem großen Tor. Darüber ein rotes Kreuz auf weißem Hintergrund. Das habe ich im Urlaub auf einer der deutschen Nordseeinseln gesehen. Und erst mal gar nicht verstanden, worum es hier geht. „Rausfahren, wenn andere reinkommen!?“ Ist das Werbung für eine nächtliche Kneipentour oder was?

Das große Tor stand offen, also bin ich neugierig reingegangen. Und schnell ist mir klargeworden, dass ich mit der Kneipentour wohl auf dem falschen Dampfer war. Das rote Backsteinhaus entpuppt sich als alter Bootsschuppen, darum das große Tor. Und es hat früher ein Rettungsschiff beherbergt. Immer wieder kam es vor den Inseln in der Nordsee dazu, dass Schiffe kenterten und die Besatzung in Not geriet. Im Jahr 1854 sank eins der großen Auswandererschiffe auf dem Weg nach Amerika in einem furchtbaren Sturm und die Inselbewohner mussten zusehen, wie die Menschen in den eisigen Fluten ertranken. Aus dieser Not wurde dann 1865 die Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger gegründet. Von da an sind mutige Männer und später auch mutige Frauen rausgefahren und haben ihr Leben riskiert, um das Leben anderer zu retten. Hut ab, kann ich da nur sagen.

Was mag ihre Motivation gewesen sein? -  Früher, da hat man den mausearmen Insulanern unterstellt, sie wollten vor allem – nach Seeräubermanier – die Ladung und die wertvollen Gerätschaften auf den Schiffen abgreifen und sich so ein paar Taler dazu verdienen. Mag sein, dass das auch vorgekommen ist. Aber ich bin mir sicher, die Männer, die sich damals in der Seenotrettung ehrenamtlich engagiert haben, die hat etwas anderes angetrieben. Sie wussten, wie erbarmungslos das Meer sein kann. Sie wussten, wie furchtbare Angst man dort draußen haben kann. Und sie haben gehandelt, weil sie helfen wollten. Weil ein Menschenleben, auch das eines Unbekannten, für sie wertvoll war. Vielleicht haben sie auch geglaubt, dass Gott ein Gott ist, der das Leben will, nicht den Tod, ein Gott, der für die Hoffnung steht, nicht für die Verzweiflung. Und dass Gott dort, wo Menschen sich lieben und füreinander da sind, uns ganz nahe ist. Damals, wie heute.

 „Rausfahren, wenn andere reinkommen!“ – Ich finde, dass das auch ein gutes Motto für die Arbeit unserer Kirche und vielleicht sogar für jeden Christen und jede Christin heute sein könnte. Dorthin gehen, wo sonst niemand ist. Da helfen, wo alle anderen schon aufgegeben haben. Kein einziges Menschenleben aufgeben. Und so einen Gott bezeugen, der Leben will und nicht den Tod. Eben rausfahren, wenn andere reinkommen.

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SWR4 Abendgedanken

16SEP2024
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Am letzten Schultag vor den Sommerferien bin ich über den Schulhof gegangen. Denselben Weg, den gleich auch alle Schülerinnen und Schüler nach Hause gehen würden, die Zeugnisse im Ranzen, einen langen Sommer vor sich. Da lese ich auf dem grauen Asphalt mit bunter Kreide geschrieben: „Du bist mehr als Deine Noten.“  Etwa zehn Schritte weiter folgt eine weitere Zeile „Du bist wundervoll.“ Und wieder etwas weiter steht: „Schöne Ferien!“

Ich gebe es zu: Ich musste an diesem Morgen schnell mal blinzeln und mit den Tränen kämpfen. Denn: Die Kinder, die mit strahlendem Lächeln und nur Einsern und Zweiern nach Hause laufen, die interessiert das, was da steht, vermutlich wenig. Aber die andern, die gerade schwarz auf weiß bescheinigt bekommen haben, dass ihre Leistung eben nicht ganz so gut ist, werden die diesen Satz lesen: „Du bist mehr als deine Noten!“? Und wird das ein Trost für sie sein? Ich hoffe es aus ganzem Herzen. Denn für mich ist es in diesem Moment wie ein Fingerzeig von oben, der mich daran erinnert, was Gott versprochen hat:  

„Du bist mehr, als Deine Noten. Du bist wundervoll!“ – Es tut auch mir gut, wenn ich das gesagt bekomme. Gerade in den Momenten, in denen ich daran zweifele. Und solche Momente gibt es ganz sicher auch im Leben einer Lehrerin. Dann gilt der Satz auch mir: Du bist mehr als all das, was schief geht. Du bist wundervoll.

Manchmal, wenn alles um mich herum einzustürzen droht, dann kann ich das nicht glauben. Dann hilft es nichts, mir zu sagen: „Lass mal an uns selber glauben…“, wie die Lyrikerin Julia Engelmann einen ihrer Gedichtbände nennt. Manchmal, da glaube ich nicht mehr mal daran, dass Gott sein Versprechen hält, an mich zu glauben. Und dann kann auch ich nur drauf vertrauen, irgendwann doch wieder Gottes Zusage zu spüren:

„Wenn Du schon lange nicht mehr an Dich glauben kannst, und an mich schon erst recht nicht, dann glaube ich weiter an dich. Wenn Du Dich so gar nicht leiden kannst, Dich hässlich, grausam, lieblos findest, dann mag das ja alles stimmen. Aber ich liebe dich trotzdem.“

Nun hat das neue Schuljahr begonnen. Der Schriftzug auf dem Schulhof ist längst vom Regen weggewaschen. Aber ich nehme mir vor, ihn trotzdem mit ins neue Schuljahr zu nehmen. Und ihn mir und auch meinen Schülern und Schülerinnen ab und an zu sagen: „Du bist mehr, als Deine Noten. Du bist wundervoll!“ – Genau das ist es!

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SWR4 Abendgedanken

14JUN2024
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Zu Weihnachten hat mir ein lieber Mensch eine Karte geschrieben. Sie steht seitdem auf meinem Schreibtisch. Darauf ist ein Gedicht abgedruckt. Und irgendwie hat dieses Gedicht es mir angetan. Immer wieder habe ich die Karte gelesen. Erst wusste ich selbst nicht so recht, warum. Dann ist es mir klar geworden. Ich lese Ihnen das Gedicht mal vor:

Als Josef zu träumen begann,
packte ihn der Engel am Kragen
und flüsterte:
Fürchte dich nicht.
Weglaufen gilt nicht.
Rechne mit dem Unberechenbaren.
Es könnte ein Geschenk des Himmels sein.

In der Weihnachtsgeschichte erfährt Josef, dass seine Verlobte, Maria, schwanger ist. Und zwar nicht von ihm. Und dennoch: Er läuft nicht weg. Er kümmert sich um sie. Aus Liebe, trotzdem? Aus Mitleid? Weil der Engel es ihm sagt? – Wir wissen es nicht. „Rechne mit dem Unberechenbaren.“ Das Jesuskind hat ihm bestimmt nicht nur Freude gebracht, sondern auch viele Sorgen bereitet. Aber wir Christen sagen natürlich: Dieses Kind ist ein Geschenk des Himmels. Von Gott für uns Menschen.

„Rechne mit dem Unberechenbaren. Weglaufen gilt nicht. Es könnte ein Geschenk des Himmels sein.“ Für mich haben sich diese Worte im letzten halben Jahr immer wieder bewahrheitet. Es ist wirklich so geworden, wie die Postkarte es beschreibt. Das war schön.

Ein Beispiel: Einige Schüler und Schülerinnen von mir haben sich für den Reli-Unterricht das Thema „Verschwörungstheorien“ gewünscht. Da wäre ich schon gern weggelaufen. Ich kann das nicht, war mein erster Gedanke. Wie soll ich das denn machen? Aber: Auf meinem Schreibtisch stand eben diese Postkarte, auf der steht: „Weglaufen gilt nicht.“ Und: „Fürchte Dich nicht.“ Letzte Woche hat ein Schüler dann im Rausgehen zu mir gesagt: „Danke fürs Augenöffnen!“ Und ich dachte: „Rechne mit dem Unberechenbaren. Welch ein Geschenk des Himmels.“

Die Postkarte hängt jetzt an der Wand über meinem Schreibtisch. Und wenn wieder einmal eine unangenehme Herausforderung auf mich wartet, dann sage ich mir: 

Fürchte dich nicht.
Weglaufen gilt nicht.
Rechne mit dem Unberechenbaren.
Es könnte ein Geschenk des Himmels sein.

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SWR4 Abendgedanken

13JUN2024
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„Jassin, jetzt halt doch mal Deinen Mund!“ – Wie oft habe ich diesen Satz im letzten Schuljahr gesagt? Unzählige Male vermutlich. Es war zum Verzweifeln. Und trotzdem: Da sitzt er vor mir, dieser Jassin. Aus Syrien geflohen. Die Eltern hier in Deutschland von der neuen Kultur und Sprache überfordert. Er muss sich durchschlagen. Baut viel Mist, keine Frage. Aber dennoch… Irgendwie ist er eben doch… ein super Kerl!

Julia Engelmann hat ein Gedicht verfasst. Manchmal wünsche ich mir, es könnte für einige meiner Schüler wahr werden:

„Ich wünschte mir, du könntest dich
nur einen Tag mit meinen Augen sehen.
Vielleicht würde dir das helfen,
und du würdest dann verstehen,
wie gut du bist und dass du alles schaffen kannst (…).“

Dieser Blick, mit dem wir andere Menschen ansehen. Ich finde, der ist entscheidend. Sehe ich den Menschen, dem ich gegenüberstehe, vernichtend an? Sehe ich das, was fehlt? Sehe ich ihn im Minus? Oder schaffe ich es, seine Möglichkeiten zu sehen? Das, was sein könnte. Das, was werden könnte? Kann ich einen Menschen so ansehen, dass mein Blick ihn groß und stark und mutig macht. Ich schaffe das nicht immer. Natürlich nicht.

Manchmal sehe ich in meinem Unterricht einfach nur das Kind vor mir, das kippelt und rumhampelt und nervt. Aber manchmal, da schaffe ich diesen Perspektivwechsel. Und, ich bin mir ganz sicher: Die Menschen um mich herum merken, wie sich sie ansehe. Ob ich ihnen in meinem Kopf ein Minus oder ein Plus gebe. Ob ich sie verschrumpeln oder wachsen und gedeihen sehe.

Ich glaube: Der Blick, der das sieht, was Wunderbares sein könnte, das ist der Blick, den Gott sich wünscht. Das ist der Blick, den Gott auf uns hat. Nicht verurteilend. Vernichtend. Sondern ermunternd, Mut machend. So dass wir wachsen können.

Ich glaube fest, dass die Worte aus dem Gedicht von Julia Engelmann auch Gottes Worte sein könnten: „Ich wünschte mir, du könntest dich nur einen Tag mit meinen Augen sehen. Vielleicht würde dir das helfen, und du würdest dann verstehen, wie gut du bist und dass du alles schaffen kannst (…).“

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SWR4 Abendgedanken

12JUN2024
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Die Bibel erzählt vom Propheten Mose, wie er beim Schafe-Hüten an einem Dornbusch vorbeikommt. Der Busch brennt. Er brennt und brennt und verbrennt nicht. Das erregt Moses Aufmerksamkeit. Er erkennt: Gott will mir hier etwas sagen. Und so ist es auch. Mose bekommt den Auftrag, der Anführer seines Volkes zu werden und es aus der Sklaverei zu befreien. Es von Ägypten ins gelobte Land zu führen. In dem nicht nur Milch und Honig fließen, sondern in dem sie frei sein werden von aller Fremdherrschaft und Unterdrückung durch andere.

Mir ist diese Geschichte im Lauf meines Lebens sehr wichtig geworden: Mose hört im Dornbusch einen Ruf, der ihm im Kopf bleibt, der ihn nicht mehr loslässt: „Ihr sollt frei sein!“ Gottes Wille ist es, dass die Menschen seines geliebten Volkes frei sein sollen. Frei von aller Unterdrückung. Frei zu leben. Und darum macht er Mose Mut: „Du kannst das! Mach‘ Deinen Mund auf! Der Weg wird nicht leicht! Aber ich gehe ihn mit Dir!“

In meinem Studium hat mich ein Theologe aus Lateinamerika besonders fasziniert: Gustavo Gutiérrez.  Angesichts der Not und des Elends, in dem viele Menschen in Lateinamerika in den 1970er Jahren lebten, entwickelt Gutiérrez sein Denken und seinen Glauben: Dieses Elend ist nicht gottgewollt. Gott lehnt alles ab, was Menschen klein macht. Er will, dass sie wachsen und gedeihen können. Er ist ein Gott des Lebens. Oder in Gutiérrez‘ Worten: „Dass es am Nötigsten fehlt, um wie Menschen leben zu können, widerspricht dem Willem Gottes (…). Wenn man den Glauben an ihn bekennt, dann bedeutet das, dass man [jede] menschenunwürdige Situation ablehnt.“

Und das gilt auch heute: Wenn man den Gott des Lebens bekennt, dann bedeutet das, dass man jede menschenunwürdige Situation ablehnt. Und dass man darum, wie Mose, den Mut zusammennimmt, sich auf den Weg zu machen, um sie zu beenden. Im Kleinen wie im Großen. Und jeden Tag neu.

Wenn ich die Geschichte von Mose am brennenden Dornbusch im Reli-Unterricht mit meinen Schülerinnen und Schülern bespreche, dann ist für sie meist erstmal das Wichtigste, wie das denn sein kann, dass der Dornbusch nicht verbrennt. Sie versuchen, es naturwissenschaftlich zu erklären, rätseln daran rum, aus welchem Holz der Busch war und so. Und es ist schön zu sehen, wenn sie irgendwann verstehen: Wie das funktioniert haben könnte, das ist gar nicht entscheidend. Entscheidend ist Gottes Auftrag an Mose: Etwas gegen Unterdrückung und Unrecht zu unternehmen. Auch heute noch.

Klar: Der Weg dahin ist nicht leicht. Aber wir dürfen uns sicher sein: Der Gott des Lebens geht mit.

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SWR4 Abendgedanken

11JUN2024
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Ich unterrichte bei mir an der Schule in einem Klassenraum, in dem die hintere Wand mit einem dicken, schwarzen Schriftzug beschmiert ist: „Ich bin dick und stolz drauf!“ Meist ärgern mich ja die Schmierereien in der Schule. Muss ja nicht sein. Und die Hausmeister haben wieder die Arbeit beim Putzen und Überstreichen. Aber dieser Spruch fasziniert mich. Klar, ich weiß nicht, ob er ernst gemeint ist. Aber: Gibt es da wohl wirklich eine Schülerin, die sich einfach in ihrem Körper wohl fühlt, auch wenn er nicht der allgemein erwarteten Schönheitsnorm entspricht? Ist da ein Schüler unterwegs, der selbstbewusst sagt: „Ich bin gut, so wie ich bin. Der Rest interessiert mich nicht!“

In genau diesem Klassenraum habe ich letztens eine Stunde zum Thema „Rechtfertigungslehre“ gehalten. Ziemlich trockener Stoff: Die Reformation, Martin Luther und seine für den evangelischen Glauben zentrale Aussage: „Die Menschen sind vor Gott gerecht durch den Glauben, nicht durch die Taten.“ Gott liebt jeden Menschen als Person, auch wenn wir natürlich manchmal Sachen tun, ihm nicht gefallen. Ich wollte meinen Schülern und Schülerinnen vermitteln: „Gott findet euch ok, so wie ihr seid. Ihr seid von ihm geliebt, angenommen. Ihr seid in Ordnung!“

Nach der Stunde aber war ich mit mir unzufrieden. Das war keine Glanzleistung. Viel zu verkopft. Die Hälfte der Schüler ist wahrscheinlich eingeschlafen. Aber dann kommt die Klassenarbeit. Und die Schülerinnen und Schüler sollen sich dazu äußern, ob sie finden, dass die Rechtfertigungslehre für das Leben heute noch relevant ist. Und was lese ich? „Die Rechtfertigungsbotschaft hilft vielleicht jemandem wie mir, dem das Äußere und das Aussehen so wichtig sind. Jetzt kann ich irgendwie „freier“ durch’s Leben gehen.“

Wie wunderbar! Wenn die doch so trocken anmutende Lehre von der Rechtfertigung das mit meinen Schülerinnen und Schülern macht, dass sie freier durchs Leben gehen, dann ist, finde ich, alles gewonnen! Es ist angekommen: „Gott sieht dich liebend an, so wie du bist. Du darfst Dich mögen! Mach Dich unabhängig von den Meinungen, die Rest der Welt vielleicht über dich hat. Gottes Meinung zählt! Du bist o.k.“

„Ich bin dick und stolz darauf!“, steht an der Wand in diesem Klassenzimmer. Gut so. Die Rechtfertigungslehre auf Schüler-Deutsch.

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SWR4 Abendgedanken

10JUN2024
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Letztens habe ich mit meinen Kindern im Bus gesessen, auf dem Weg nach Hause. Und da sehen wir plötzlich, dass ein junger Mann wie ein Verrückter die Straße entlang sprintet. Aber so richtig. „Warum rennt der denn so, Mama?“ – Die nächste Bushaltestelle war zwar noch ein ganzes Stück weg – aber ich habe trotzdem geantwortet: Wahrscheinlich will er den Bus noch kriegen! Und ja, ich hatte recht, der junge Mann rannte und rannte, immer neben dem Bus her, die Wilhelmstraße in Tübingen entlang. Und dann sogar über eine rote Ampel! Nach und nach wurden immer mehr Fahrgäste im Bus auf ihn aufmerksam. „Wo ist er? Wo ist er? Schafft er’s?“

Das war so eine nette Atmosphäre auf einmal im Bus. Alle haben dem Supersportler die Daumen gedrückt. Der Weg bis zur nächsten Haltestelle war nämlich noch ziemlich weit. Würde er durchhalten? Die Stimmung stieg, wir hätten ihn, glaube ich, am liebsten alle aus dem Bus heraus angefeuert. Aber das hat sich dann doch niemand getraut. Aber ein Lächeln ist über die Gesichter gehuscht, wir kamen uns wie eine heimlich-verschworene Gemeinschaft vor.

Dann hat der Bus angehalten. Alle habe die Hälse gereckt. Wo ist er? Die erste Tür ist wieder zugegangen, die zweite auch. Warum macht der Busfahrer das denn? Oh nein! – Aber, dann, große Erleichterung. Unser Sprinter sprang vorne beim Busfahrer rein. Und der? Steht auf, streckt dem Mann die Hand hin und schüttelt sie, und sagt: „Mann, ich bin 30 gefahren! Reife Leistung, wirklich!“ Und dann verbeugt er sich.

Allgemeine Erheiterung im Bus. Der junge Läufer ist total überrumpelt und verdrückt sich noch schwer atmend und auch etwas unangenehm berührt auf einen Stehplatz am Rand. Alle wenden sich wieder dem zu, was sie vorher gemacht haben: Am Handy daddeln, Zeitung lesen, nach draußen stieren, miteinander quatschen.

Und ich? Grinse in mich hinein. Es gibt doch einfach wundervolle Menschen. Die machen mein Leben so lebenswert. Und mir schießt ein kurzes Stoßgebet durch den Kopf: „Danke, Gott! Es ist so gut, in dieser deiner Welt zu sein!“

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SWR4 Abendgedanken

22MRZ2024
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In der Bibel gibt es ein Gebet. Vielleicht kennen Sie es: „Aus der Tiefe rufe ich zu dir. Herr, höre meine Stimme! Lass deine Ohren merken auf die Stimme meines Flehens!“ (Ps 130, 1-2). Das ist aus Psalm 130. Und ich liebe diesen Vers, denn er zeigt: Schon immer, auch schon vor tausenden von Jahren haben sich Menschen in Not an Gott gewandt. Sie glaubten fest: Wenn sie zu Gott rufen, schreien, dann wird er sie hören. Dann wird er helfen.

Eine Kollegin von mir hat vor ein paar Wochen eine Predigt über dieses Gebet gehalten. Und die hat mich sehr berührt und fasziniert. Sie hat sich nämlich dieses alte Gebet ein bisschen genauer vorgeknöpft. Im Original wurde es auf Hebräisch geschrieben. Und wenn man diesen Originaltext liest und einmal anders übersetzt, dann landet man bei einer neuen Aussage. Und die ist auch wunderschön.

In der Übersetzung meiner Kollegin heißt es: „Aus Tiefen rufe ich Dich, Herr. Mein Herr, höre meine Stimme! Neige Deine Ohren der Stimme meines Flehens zu!“

In der Übersetzung, die uns die geläufige ist, klingt das so, als sei der Mensch, der betet, in der Tiefe. Im Loch. Er sitzt, sozusagen, ganz tief im Dreck. Aber im hebräischen Text der Bibel kann man das auch anders verstehen: „Aus Tiefen rufe ich Dich, Herr.“ Das heißt dann: Gott ist in der Tiefe. Und der, der betet, ruft ihn aus dieser Tiefe zu sich hoch. Dann ist Gott noch tiefer, als ich es bin. Er ist in jedem Elend immer schon da. Egal, wie tief ich gesunken bin, egal, wie dreckig es mir geht, egal, wie einsam oder verzweifelt ich bin, Gott ist immer schon da. Noch tiefer da. Und kann mich rausholen. Davon ist der Beter dieses alten Gebets überzeugt.

Wenn wir in tiefsten Nöten stecken, in Schuld verstrickt oder verursacht durch andere, wenn wir ganz, ganz unten sind, dann ist Gott immer schon da. Selbst dann, wenn wir es nicht mehr merken, uns völlig gottverlassen fühlen. Er ist da. Unter uns. Um uns aufzufangen und neu ans Licht zu holen.

Wie bei Jesus am Kreuz. Er war ganz, ganz unten, verzweifelt und fühlte sich gottverlassen. Und trotzdem. Gott hat ihn wieder ans Licht geholt. Das Dunkel, die Tiefe ist für Gott kein Hindernis. Eigentlich ist das schon die Osterbotschaft. Möge sie Sie durch die kommende Karwoche begleiten.

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SWR4 Abendgedanken

21MRZ2024
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„Musik halt! Musik schafft alles!“ – Das hat diese Tage eine Freundin, selbst eine wunderbare Musikerin, zu mir gesagt. Seit vielen Jahren hatte ich es endlich mal wieder zu einem Konzert von ihr geschafft, mich zwei Stunden lang von ihrer Musik verzaubern und davontragen lassen und danach liebe, alte Freunde wiedergetroffen, mit denen der Kontakt schon lange abgebrochen war. Es war ein wertvoller Abend. Balsam für meine Seele. „Musik halt! Musik schafft alles!“

Vor ein paar Wochen habe ich einen Artikel gelesen mit der Überschrift: „Die müde Gesellschaft“. Müde. Ja. Das passt, habe ich sofort gedacht. Müde sind wir gerade alle. Wo kommt das her? Ist das nur der Winter, die Dunkelheit, die jetzt dann hoffentlich bald vorbei ist. Oder ist das mehr? Sind das auch die Sorgen um das Geld? Die Sorgen um die Zukunft, vor einer Eskalation von Gewalt und Terror?

Seit Beginn des Krieges gegen die Ukraine geht mir ein Abendlied nicht mehr aus dem Kopf. Es ist von Jörn Philipp. Und immer wieder ertappe ich mich dabei, dass ich es summe und singe und es sich, tatsächlich, wie Balsam auf meine müde, irgendwie geschundene Seele legt. Ich lese es ihnen vor. Ein bisschen Seelenbalsam:

Wenn der Abend kommt,

und die Nacht beginnt,

bitten wir, Herr bleibe bei uns,

weil wir müde sind.

Friede Stadt und Land,

Friede Herz und Hand,

Friede allen, auch den Menschen,

die uns unbekannt.

 

Du bist Anfang, Weg und Ende,

halte schützend deine Hände,

über unser ganzes Leben,

lass uns nicht allein.

 

Mir tut dieses Lied gut. Der Wunsch nach Frieden für alle, auch für die, die wir gar nicht kennen, berührt mich. Natürlich ändert es nicht die Welt, wenn ich das Lied vor mich hin summe. Aber es erinnert mich daran, wie Gott seine Welt eigentlich gedacht hat. Es hält etwas in mir lebendig: Den Friedenswunsch, den ich dann morgens hoffentlich wieder weitertragen kann.

Das Lied geht noch weiter:

 

Wenn der Abend kommt,

und die Nacht beginnt,

bitten wir, Herr bleibe bei uns.

Weil wir müde sind,

unser Wollen, Wirken, Streben,

was wir lieben, was wir leben,

legen wir in deine Hände,

lass uns nicht allein.

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SWR4 Abendgedanken

20MRZ2024
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In den sozialen Medien bin ich vor einiger Zeit auf ein Lied von Konstantin Wecker aufmerksam geworden. Ein junger deutscher Sänger mit Wurzeln in Burkina Faso, Ezé Wendtoin, hat es neu interpretiert. Der Text geht so:

Wenn sie jetzt ganz unverhohlen
Wieder Nazi-Lieder johlen
Über Juden Witze machen
Über Menschenrechte lachen
Dann steh auf und misch dich ein:
Sage nein!

Genau das ist es. Sage nein! Mir als Christin ist das wichtig: Nein zu Antisemitismus, zu Rassismus und zu der Menschenverachtung, die dahintersteckt. Jesus war Jude. Menschen jüdischen Glaubens sind unsere Geschwister. Darum ist es richtig, dass unter andrem an der Stiftskirche in Tübingen ein großes Banner hängt, auf dem steht „Nie wieder ist jetzt!“. Darum ist es richtig, dass der evangelische Landesbischof Gohl direkt nach dem Terrorangriff der Hamas festgestellt hat: „Antisemitismus ist Sünde. Wer Juden hasst, wendet sich gegen Gott selbst.“[1] Er hat recht: Die Ablehnung von Menschen jüdischen Glaubens darf in unserer Kirche und in unserer Gesellschaft keinen Platz haben.

Immer wieder lassen mich die Bilder des Krieges der Hamas gegen Israel erschaudern: Die Brutalität des Mordens durch die Hamas-Terroristen im letzten Oktober, das Schicksal der Geiseln, das Leid ihrer Angehörigen. Und zugleich das unsägliche Leid der Menschen in Palästina: Wie die Hamas die Bevölkerung als Schutzschild nutzt, hungernde Menschen, nicht versorgte Kranke und zerstörte Häuser und Existenzen. Und ich bete, dass all das ein Ende hat. Bald.

Und ich finde: Natürlich darf und muss man Israels Palästina-Politik kritisch betrachten. Ich sehe die Siedlungs-Politik kritisch. Und wo sind die humanitären Korridore, der konsequente Schutz der Zivilbevölkerung, die das Völkerrecht einfordert? Aber dennoch: Egal, was der Staat Israel tut oder unterlässt, Menschen jüdischen Glaubens ihre Menschlichkeit abzusprechen, sie aufgrund von ihrer Religion abzulehnen oder sie zu beschimpfen oder zu diskriminieren. Da gilt: Sage Nein!

Ich finde, jeder Christ und jede Christin ist genau dazu aufgerufen. Das ist nicht immer leicht: Eine kurze Bemerkung im Kollegenkreis, eine kleine Stichelei beim Abendessen mit Freunden. Es ist anstrengend, da immer klare Kante zu zeigen, sich angreifbar zu machen. Aber es richtig. Und leider nötig.

 

[1] Kanzelwort von Landesbischof Ernst-Wilhelm Gohl aus Anlass des Angriffs der Hamas auf Israel vom 15.10.2013, Quelle: https://www.elk-wue.de/news/2023/13102023-kanzelwort-zum-angriff-auf-israel (zuletzt aufgerufen am 14.2.2023)
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