SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

28DEZ2023
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Mit Schrecken habe ich vor ein paar Wochen festgestellt, dass ich abstumpfe. Ich höre Nachrichten im Radio von Krieg, Hunger und immer neuen Katastrophen. Und dann koche ich weiter das Abendessen, setzte mich gemütlich über ein gutes Buch und wische die Toten, die Verzweifelten, die Leidenden aus meinen Gedanken, so wie ich die Bilder des Schreckens vom Smartphone wische und lieber die fröhlichen Bildchen aus dem Familienchat ansehe.

Ist das Selbstschutz? Ja, das ist es bestimmt. Immer nur Grauen. Immer nur Erschrecken. Das schaffe ich nicht. Ich habe Angst, Angst davor, selber im Leid zu versinken, wenn ich das Leid anderer zu nah an mich heranlasse. Habe Angst, dass mich die Erkenntnis, dass auch mein Leben brüchig geworden ist, lähmen könnte. Den Alltag unbeherrschbar, unberechenbar macht.

Selbstschutz? Aber um welchen Preis? Ich will nicht abstumpfen. Ich will nicht, dass mir Schrecken und Leid, dass mir Ungerechtigkeit und Gewalt egal werden. Ich will nicht zu einem gefühllosen Ding werden, das das Leid der anderen an sich vorbeirauschen lässt, dem die Welt und die Menschen völlig gleich sind. Ich will ja fühlen, ich will ja mit leiden, Mitleid spüren. Ich will doch Mensch bleiben. Mensch unter Menschen. Mensch bei den Menschen. Mensch mit den Menschen. Mitmensch.

Jakob – der Stammvater des Volkes Israel - habe einmal eine Nacht lang mit Gott gerungen, erzählt die Bibel (1.Mose 32). Während die beiden miteinander ringen, verletzt Gott Jakob an der Hüfte. Jakob hinkt von nun an. Aber am Ende der Nacht segnet Gott ihn.

Welch eine urtümliche Geschichte. Aber vielleicht enthält sie gerade deshalb auch eine urtümliche Wahrheit. Vielleicht kommen wir aus manchen Geschichten eben nur hinkend heraus. Da ist Selbstschutz gut, damit es beim Hinken bleibt und wir nicht fallen. Aber ohne das Hinken, ohne den Schmerz, die Verletzung, ohne das Mitfühlen und Mitleiden, geht es eben auch nicht.

In einem Artikel von dem katholischen Journalisten Raoul Löbbert habe ich folgenden Satz gelesen. Und ich glaube, er ist wahr: „Erst die Unempfindlichkeit gebiert Ungeheuer, die hassen können. (…) Schauen Sie sich die Bilder der Toten und Vermissten an, lesen Sie die Abschiedstexte der Zurückgelassenen und Verwundeten (…), es sind Übungen im Fühlen. Nichts ist wichtiger in verzweifelten Zeiten wie diesen. Wer fühlt, erinnert sich: Etwas verbindet alle Menschen, die lieben. Und manchmal tut Erinnerung eben weh.“

https://www.kirche-im-swr.de/?m=39071
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