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SWR4 Abendgedanken

05JUL2024
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Schwimmbadpommes sind für mich einfach die besten Pommes, am liebsten eine große Portion mit ordentlich Ketchup und Mayo. Ich esse Pommes eigentlich immer gern. Aber im Freibad schmecken sie ganz besonders gut. Vielleicht ist es dieser besondere Mix aus frischer Luft, Sonnencremeduft und Chlor, der Schwimmbadpommes so unwiderstehlich macht. Oder vielleicht lechzt mein Körper nach Kalorien, die er nach einem langen Tag mit Schwimmen und Rutschen dringend braucht.

Diese Kombination aus einem bestimmten Ort und einer Sache, die für mich dort besonders gut oder intensiv ist, kenne ich auch in anderen Zusammenhängen. Zum Telefonieren gehe ich zum Beispiel am liebsten nach draußen. Ich laufe meistens eine ganz bestimmte Route, auf der ich nicht so vielen Leuten begegne. Unterwegs freu ich mich an den Feldern und dem schönen Ausblick. Und ich merke, dass ich dort draußen auf meinem Weg freier sprechen kann. Und ich kann meinem Gegenüber auch besser zuhören.

Ort und Stimmung sind auch für mein Glaubensleben wichtig: Ich gehe nämlich ganz klassisch zum Beten gern in eine Kirche. Ich glaube schon, dass Gott mich jeden Tag begleitet und bei mir ist. Und dass ich deshalb auch überall beten kann. Im Bett, im Auto oder am Schreibtisch. Aber so ganz in Ruhe kann ich beten, wenn ich dafür in eine Kirche gehe. Ich rieche das Wachs der Kerzen, die andere Leute vor mir angezündet haben. Vielleicht schwebt auch noch ein Hauch von Weihrauch durch das Kirchenschiff. Die Sonne bricht sich in den bunten Fenstern. Vielleicht spielt sogar jemand Orgel. Ich suche mir einen Platz irgendwo in den Kirchenbänken. Und dann setze ich mich einfach und fahre innerlich runter. Und auch hier ist es wieder meine Umgebung, die mich das Ganze intensiver erleben lässt. Es ist die besondere Mischung aus Düften, Licht und Einrichtung, die dafür sorgt, dass ich in Kirchen schnell ins Gebet finde und das Gefühl habe, dass Gott mir hier besonders nahe ist. Natürlich klappt das nicht immer und es gibt Tage, da spüre ich nichts von Gottes Nähe. Aber Ort und Atmosphäre helfen mir oft beim Runterkommen und Kraft tanken.

Ich bin froh, dass ich immer wieder spüre, was mir guttut: in einer Kirche, beim Telefonieren oder im Schwimmbad. Dass ich weiß, wie ich am besten mit Gott zur Ruhe komme. Wie ich aufmerksam zuhören und selbst erzählen kann. Oder an welchem Ort die Pommes unvergleichlich lecker sind.

Benjamin Vogel aus Freiburg von der katholischen Kirche.

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SWR4 Abendgedanken

04JUL2024
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Mein Bruder ist Förster und sieht den Wald mit ganz anderen Augen als ich. Wenn ich im Wald bin, höre ich die Vögel zwitschern, sehe wie das Licht durch die Baumkronen bricht und finde das einfach idyllisch. Doch mein Bruder sieht überall um sich herum Entscheidungen, die Jahrzehnte oder sogar Jahrhunderte zurückliegen. Denn im Wald ist vieles gestaltet und ganz bewusst gelenkt worden. So haben die Vor- und Vorvorgänger meines Bruders einmal entschieden, welche Baumarten es geben soll oder wo im Bestand etwas gefällt wurde, damit bestimmte Pflanzen besser wachsen konnten. Mein Bruder weiß haargenau: Im Wald dauert es oft viele Jahrzehnte, bis man sieht, ob eine Entscheidung weise und richtig war oder ob sie in die falsche Richtung geführt hat.

Ich bin beeindruckt, dass auch mein Bruder solche Entscheidungen trifft, von denen er wahrscheinlich selbst nicht mehr erleben wird, ob der Plan dahinter einmal aufgeht oder nicht. Zwei Dinge helfen ihm dabei: Er macht sich ein gründliches Bild der Lage, bevor er dann sorgfältig nach bestem Wissen und Gewissen entscheidet. Und außerdem vertraut er darauf, dass seine Kollegen vor ihm das damals auch so gemacht haben. Und dass seine Förster-Nachfolger einmal verstehen werden, welches Ziel er mit seiner Arbeit im Wald hatte. Und dass sie das in guter Weise weiterführen oder anpassen, wenn etwas Unvorhergesehenes dazwischen kommt.

Von der Art, wie mein Bruder im Wald Entscheidungen trifft, kann ich viel lernen, zum Beispiel für die Kindererziehung: Auch hier tut es gut, wenn Erwachsene sorgfältig entscheiden, weitsichtig sind und viel Geduld mitbringen. Denn es dauert oft Jahrzehnte, bis man sieht, wie sich entwickelt, was man gesät hat. Und wenn die Kinder später groß sind, will ich ihnen vertrauen und sie loslassen können. Vertrauen, dass meine Kinder später als Erwachsene selbst überlegt handeln und ihr Leben gelingen wird. Da kann es gut sein, dass ich vielleicht nicht verstehe, warum sie etwas tun. Aber ich kann darauf zählen, dass sie dafür gute Gründe haben und dass sie aus der Situation das Beste machen wollen.

Das wünsche ich mir: Dass ich es ab und zu schaffe, in Ruhe und sorgfältig zu entscheiden und dass ich dann auch mit Vertrauen in Richtung Zukunft loslasse. So wie mein Bruder als Förster im Wald.

Benjamin Vogel aus Freiburg von der katholischen Kirche.

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SWR4 Abendgedanken

03JUL2024
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Da ist er, der Gipfel! Meine Familie und ich sind ziemlich außer Puste. Gleichzeitig sind alle stolz, dass wir am Ziel unserer Bergtour angekommen sind. Doch bevor wir die Aussicht von hier oben genießen und es die wohlverdiente Vesperpause gibt, stellen wir uns alle ums Gipfelkreuz und machen ein Selfie fürs Familienalbum. Wir haben zwar schon eine Menge solcher Fotos, aber wir sammeln trotzdem gerne weiter. Denn Gipfelkreuze sind immer etwas Besonderes, auch wenn es so viele davon gibt. Allein in den West- und Ostalpen zieren rund 4.000 davon die Berggipfel.

Gipfelkreuze markieren einen höchsten Punkt, aber nicht nur das. Sie zeigen an, dass man es nach langer Wanderung endlich geschafft hat. Sie gehören zum Bergpanorama einfach dazu, so wie Kühe oder Almhütten. Die ersten Gipfelkreuze wurden schon im Mittelalter aufgestellt. Im 20. Jahrhundert gab es dann eine richtige Blütezeit: Denn nach dem Zweiten Weltkrieg errichteten viele Gemeinden Gipfelkreuze, um der Gefallenen zu gedenken oder als Dank dafür, dass Männer wieder nach Hause zurückgekehrt sind. Und so gibt es heute in manchen Regionen kaum einen Berg ohne Kreuz.

Ich schaue mir unser Familienselfie nochmal an und sehe, wie wir alle ziemlich geschafft und gleichzeitig glücklich aussehen. Und hinter uns das Gipfelkreuz. Es zeigt erstmal, dass wir gemeinsam eine anstrengende Herausforderung gemeistert haben. Außerdem ist es als Kreuz ein Zeichen für meinen Glauben und meine Beziehung zu Gott. Und dann bin ich auch beeindruckt davon, dass es Menschen gab, denen es offenbar wichtig war, dass hier ein Kreuz steht. Die dafür gespendet haben oder selbst Material hier raufgebracht und mitgebaut haben. Bergkreuze faszinieren mich einfach, weil in ihnen so viel steckt.

Kein Wunder also, dass ich auf dem Foto mit dem Gipfelkreuz so strahle. Und dazu kommt noch was anderes, was ich jedes Mal erlebe, wenn ich auf einem Gipfel stehe. Ich fühle mich erhaben und werde gleichzeitig demütig, weil ich im Vergleich zu diesem riesigen Berg so klein bin. Oben auf dem Gipfel ist es ruhiger, ich fühle mich dem Himmel ein Stück näher und ich bekomme eine neue Perspektive. Sie lässt mich anders auf meinen Alltag blicken und ich erkenne, dass es noch so viel mehr gibt, als die Probleme oder Sorgen, die sich so oft in den Vordergrund schieben.

Diese Gedanken nehme ich gerne vom Berg oben mit runter für den Rückweg ins Tal. Und unser Familienfoto vor dem Gipfelkreuz erinnert mich daran.

Benjamin Vogel aus Freiburg von der katholischen Kirche.

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SWR4 Abendgedanken

02JUL2024
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Heute, genau um Mitternacht, ist Halbzeit. Dann ist die erste Hälfte des Jahres vorbei und die zweite bricht an. 2024 ist ein Schaltjahr, also sind heute Nacht 183 Tage vergangen und genauso viele kommen noch. Jahresrückblicke kenne ich aus dem Dezember. Doch mitten im Sommer hat so ein Blick zur Halbzeit auch was für sich. Dann kann ich auf die erste Jahreshälfte zurückblicken, und gleichzeitig kann ich überlegen, was das zweite Halbjahr noch bereithalten mag.

Der große Experte in Sachen Rückblick ist für mich Ignatius von Loyola. Er hat im 16. Jahrhundert in Südeuropa gelebt und ist der Gründer des Jesuiten-Ordens. Ignatius hat jeden Abend auf seinen Tag zurückgeschaut. Das war ein wichtiger Teil seiner Spiritualität. Schon vor 500 Jahren war das eine echte Achtsamkeitsübung und noch heute beten viele Menschen nach seinem Vorbild das sogenannte „Gebet der liebenden Aufmerksamkeit“.

Dieser Rückblick geht so: Zuerst werde ich still und bitte Gott darum, dass ich offen bin, damit ich nüchtern und ehrlich auf mein Leben schauen kann. Dann gehe ich meinen Tag Stunde für Stunde durch. Ich erinnere mich daran, wo ich war, wen ich getroffen und was ich gemacht habe. Wie war das für mich? Eher befreiend und leicht oder hat es runtergezogen? Das, was ich jetzt empfinde, gebe ich Gott. Das, was mich belastet, kann ich so vielleicht besser loslassen. Und für das Gute kann ich dankbar sein.

Dann schaue ich auf den kommenden Tag. Wovor habe ich Angst? Und worauf freue mich ich schon so lange? Was sind die nächsten Schritte? Ich bitte Gott, dass er segnet, was kommt und um Kraft, wenn es für mich mühsam und schwer wird.

Das tut abends gut und ordnet, was an Erlebnissen und Gedanken in mir ist. Und heute – genau in der Mitte dieses Jahres – schaue ich weiter zurück und lasse den Blick über die letzten Monate schweifen. Was hab ich dieses Jahr schon erlebt und geschafft? Was war einfach wunderbar?  Was belastet mich noch? Was sind Meilensteile und was ist noch offen? Und ich schaue nach vorn. Was die nächsten sechs Monate wohl kommt? Manches kann ich schon erahnen, doch bestimmt wird mich auch Vieles kräftig überraschen.

Heute Abend bete ich passend zur Mitte des Jahres so: Gott, bitte segne mein Jahr. Alles, was in der ersten Hälfte schon war, und auch die zweite Jahreshälfte. Segne die Menschen, die mir begegnen. Begleite mich, wenn ich enttäuscht werde, wenn ich mich über etwas freue und bei allen anderen Abenteuern. Amen.

Benjamin Vogel aus Freiburg von der katholischen Kirche.

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SWR4 Abendgedanken

01JUL2024
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Ist das Bad geputzt? Habe ich überall staubgesaugt? Und haben wir genug von den hübschen Tellern?

Das geht mir durch den Kopf, wenn wir Besuch bekommen. Denn ich will, dass es unsere Gäste schön haben. Dass sich alle wohlfühlen. Und zum Essen oder Trinken soll es ja auch was Besonderes sein. Sind eigentlich schon Getränke kaltgestellt?

So helikoptere ich durch die Wohnung, bis der Besuch endlich da ist. Ich muss zugeben: Als Gastgeber bin ich ganz schön angespannt.

In der Bibel gibt es eine Gastgeberin, die ähnlich tickt wie ich. Die Frau heißt Martha und ihr gibt Jesus einen Ratschlag, der es für angespannte Gastgeber in sich hat.

Die Episode geht so: Jesus besucht Martha und ihre Schwester Maria. Die beiden wohnen zusammen. Maria setzt sich zu Jesus und hört ihm zu. Ganz anders Martha. Sie wirbelt durchs Haus und ist völlig davon eingenommen, dem hohen Besuch einen würdigen Empfang zu bereiten. Alles muss stimmen. Doch dann ist sie irgendwann genervt davon, dass ihre Schwester Maria ihr nicht hilft. Prompt sucht Martha Unterstützung bei Jesus. Nach dem Motto: „Das findest du doch auch nicht ok, dass meine Schwester nichts tut. Sag doch mal was.“ Aber Jesus bleibt cool und meint: „Martha, Martha, du machst dir viele Sorgen und Mühen. Aber nur eines ist notwendig. Maria hat den guten Teil gewählt, der wird ihr nicht genommen werden.“

Na super – da erhofft sich Martha Unterstützung und will bestätigt werden für das, was sie alles hinkriegt. So liebevoll, fleißig und voller Mühe. Und dann kommt Jesus mit so einem Spruch. Der hätte mich an Marthas Stelle völlig auf die Palme gebracht. Doch ich ahne, worauf Jesus vermutlich hinaus will: Maria ist ganz bei ihrem Besuch. Das ist wohl das, was Jesus „notwendig“ nennt. Maria steht nicht dauernd auf oder überlegt, was noch zu tun ist. Sie kostet die Zeit mit ihrem Gast aus.

Davon kann ich mir als angespannter Gastgeber eine Scheibe abschneiden. Natürlich hab ich mir beim Backen Mühe gegeben und der Kuchen ist lecker geworden. Aber jetzt ist es wichtig, dass ich mir Zeit nehme, ihn zusammen mit meinen Gästen zu genießen.

Ganz beim Anderen sein: Das ist das „Notwendige“, „der gute Teil“, den Maria gewählt hat. Und der umtriebigen Gastgeberin Martha, und auch mir, tut es sicher gut, wenn ich es schaffe, irgendwann mit dem Wirbeln aufzuhören. Und wenn ich schlicht und einfach „da bin“.

Benjamin Vogel aus Freiburg von der katholischen Kirche.

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SWR4 Abendgedanken

13OKT2023
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Das Vater Unser ist für mich das Schweizer Taschenmesser unter den Gebeten. Denn es ist etwas Besonderes, passt in ganz verschiedenen Situationen und praktisch finde ich es auch. So wie mein geliebtes Taschenmesser.

Besonders ist das Vater Unser, weil es direkt von Jesus stammen soll. Die Bibel erzählt im Matthäusevangelium, dass Jesus einmal gefragt wurde, wie man beten soll. Seine Antwort war das Vater Unser. Es ist das Gebet, das im Christentum wohl häufigsten gesprochen wird. In allen Teilen der Welt und jeden Tag aufs Neue. Und so verbinde ich mich beim Beten mit Menschen überall und über die Zeiten hinweg, sogar bis zu Jesus zurück. Das ist ein besonderes Gefühl.

Das Vater Unser ist außerdem vielseitig: Es hat seinen festen Platz im Gottesdienst in der Kirche. Aber auch auf dem Ferienlager rund ums Lagerfeuer wird die Stimmung nochmal deutlich feierlicher, wenn die Kinder und Jugendlichen aufstehen, sich die Hände reichen und das Vater Unser beten. Als Betreuer hab ich das oft erlebt: Man spürt, dass wir eine Gemeinschaft sind.

Auch wenn ich allein bete, weiß ich die Vielseitigkeit meines Lieblingsgebets zu schätzen. Sei es am Sterbebett meiner Oma oder wenn ich zu einer langen Reise aufbreche. Das Vater Unser passt für mich. Und je nachdem, was mich beschäftigt, haben die Bitten des Vater Unser unterschiedliche Bedeutung für mich. Das „Vergib uns unsere Schuld“ kommt mir anders über die Lippen, wenn ich mit jemandem zerstritten bin. Und das „Erlöse uns von dem Bösen“ bete ich angesichts der vielen Kriege auf der Welt heute viel inniger als noch vor ein paar Jahren.

Und praktisch finde ich das Vater Unser, weil ich es wie mein Taschenmesser immer dabei habe. Es begleitet mich auf meinem Lebensweg. Und ich weiß, dass es vielen so geht. Das Gebet ein ganzes Leben lang immer wieder zu sprechen, prägt sich tief ein. Wenn ich es mit Demenzkranken bete, hellen sich die Gesichtszüge auf und der Text ist oft kein Problem. Und wenn mir in einer bestimmten Situation die Worte fehlen, dann ist das Vater Unser so vertraut, dass es Halt geben kann.

Ich hoffe, dass ich das Vater Unser nie verlieren werde, genauso wie mein gutes, altes Taschenmesser. Denn das gilt für beide: Sie sind vielseitig, praktisch und etwas Besonderes.

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SWR4 Abendgedanken

12OKT2023
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„Na, wie war mein Tag?“ – das frage ich mich seit ein paar Wochen immer am Abend. Ich hab ein neues Ritual und damit halte ich einen kleinen Rückblick auf meinen Tag. Dabei helfen mir sechs Karten zum Thema „Alles hat seine Zeit“. Dieser Satz stammt aus dem Buch Kohelet aus der Bibel und auf meinen Karten stehen Fragen wie diese hier: War der Tag heute eher einer zum Klagen oder zum Tanzen? Wurde heute etwas in mir geheilt oder gab es neue Wunden? Und dann sitze ich da und führe mir nochmal vor Augen, was alles war: Wen ich getroffen habe, was ich geschafft hab und was liegen geblieben ist. Was gelungen oder was schiefgegangen ist.

Mein Tagesabschluss dauert oft nur fünf Minuten und er tut mir richtig gut. Weil in der Hektik am Tag vieles untergeht, hilft er mir dabei, abends nochmal genauer hinzuschauen. Ich erinnere mich zum Beispiel an meine Nachbarin. Ihr geht es gerade nicht gut, weil sie Stress mit ihrer Familie hat. Davon hat sie mir neulich erzählt, aber ich war in dem Moment irgendwie mit mir selbst beschäftigt und hab ihr gar nicht richtig zugehört. Sowas wird mir dann abends bewusst. Und ich kann ich mir vornehmen beim nächsten Mal ein besserer Zuhörer zu sein. Oder ich entdecke richtige kleine Schätze in meinem Tag, etwa wenn ich an meine beiden Töchter denke. Wie stark und genial ist es, dass sich die Kleine nur kurz nach dem Schwimmkurs schon traut, vom Dreimeterbrett zu springen. Oder wie selbstständig die Große ist, wenn sie sich nach der Schule allein was Ordentliches zum Mittagessen kocht. Durch mein Abendritual werde ich achtsamer und dankbar dafür, wer und was mein Leben ausmacht und was alles in ihm steckt.

Und auch wenn ich manchmal mit der Bilanz eines Tages nicht zufrieden bin, hilft mir mein Ritual, mit den Ereignissen abzuschließen. Im Gebet bringe ich all das vor Gott. Was ich erledigen konnte und was mich gefreut hat, genauso wie das, was noch unausgegoren ist oder wo ich Mist gebaut habe. Ich bitte Gott um seinen Segen für den Tag so bunt oder stressig wie er eben war. Ich bitte um eine gute Nacht, nicht nur für mich. Und dafür, dass ich den nächsten Tag mit allen Facetten und Überraschungen gut annehmen kann. Mit allem Schwierigen, das zum Klagen ist und auch mit allem, das mich innerlich tanzen lässt.

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SWR4 Abendgedanken

11OKT2023
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Die stabile Seitenlage. Die hab ich neulich beim Erste Hilfe Kurs wieder gelernt. Und dazu hat die Trainerin eine Geschichte über ein ganz besonderes Gesicht erzählt. Und zwar über das Gesicht der Puppe, an denen wir die Wiederbelebung geübt haben. Diese Puppen tragen alle die Gesichtszüge einer unbekannten jungen Frau. Sie war Ende des 19. Jahrhunderts in der Seine in Paris ertrunken. Der Arzt, der ihren Leichnam untersucht hat, war von ihrem Aussehen so angetan, dass er eine Totenmaske, also einen Abdruck ihres Gesichts, gemacht hat.

Ich finde das schaurig, dass jemand das Gesicht einer fremden Toten kopiert. Aber die Geschichte geht ja noch weiter: Etwa 60 Jahre später haben zwei Ärzte Puppen zum Üben der Herz-Lungen-Wiederbelebung entwickelt und entschieden, diesen Puppen das Gesicht der unbekannten jungen Frau zu geben. Das ist es bis heute. Aus einer ursprünglichen Totenmaske wurde eine „Lebensmaske“. Ein Gesicht, an dem man lernt, Leben zu retten.

Tod und Leben können sich so nahe kommen. Das hab ich ganz persönlich letztes Jahr im Sommer erlebt. Da ist überraschend mein Vater gestorben und nur ein paar Tage später ist meine Nichte zur Welt gekommen. In mir haben sich beide Gefühle überlagert: die Trauer, dass mein Vater nicht mehr da ist und mir unendlich fehlt. Und gleichzeitig die Freude über die neue Erdenbürgerin. Dadurch war mein Schmerz nicht weg, aber ich hab in mir eine Weite gespürt und obwohl ich auch so traurig war, eine neue Perspektive bekommen.

Für mich ist das ein wichtiger Teil der christlichen Botschaft: Tod und Trauer werden nicht weggelächelt oder ignoriert. Sie sind Teil unseres Lebens und solche schweren Erfahrungen prägen und beschäftigen einen oft jahrelang. Und gleichzeitig glaube ich, dass da mehr ist. Dass es viele Gründe gibt, sich zu freuen, zu hoffen und zu lachen. Darin steckt so viel Leben. Auch für Jesus waren beide Seiten wichtig: Er war für die da, die traurig waren. Und er war gern in Gesellschaft und ist mit einem tiefen Vertrauen auf Gott durchs Leben gegangen. Und seinen Freunden hat er am Ende sogar leibhaftig zu verstehen gegeben: Der Tod ist nicht das Ende, sondern ein Teil des Lebens. Und das letzte Wort hat das Leben.

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SWR4 Abendgedanken

10OKT2023
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Wissen Sie, was ein Atomsemiotiker macht? Atomsemiotiker überlegen, wie man zukünftigen Generationen mitteilen kann, dass in Atom-Endlagern etwas Gefährliches liegt und dass man dort auf keinen Fall bohren oder graben soll. Auch wenn die ganze Problematik rund um mögliche Atom-Endlager bei uns noch nicht ausdiskutiert ist, irgendwann soll der radioaktive Abfall unter der Erde versiegelt werden. Und dann dauert es mehrere 100.000 Jahre, bis er nicht mehr schädlich ist.

die Forscherinnen und Forscher ist das knifflig: Das ist so eine große Zeitspanne, dass man sich das gar nicht vorstellen kann. Vor nur 10.000 Jahren waren wir noch in der Steinzeit und gerade 5.000 Jahre ist es her, dass die Schrift erfunden wurde. Sprache und Zeichen verändern sich und um sie zu verstehen, braucht man den passenden Kontext. Was muss auf einem Schild stehen, damit man eine Warnung auch in ferner Zukunft lesen kann? Und aus welchem Material kann man das herstellen? Eine brauchbare Antwort hat die Atomsemiotik bisher nicht gefunden, aber die Suche geht weiter.

Solche Gedankenspiele zeigen, dass unsere Entscheidungen Konsequenzen haben – und zwar langfristig. Was wir heute tun, hat Auswirkungen für viele kommende Generationen. Auch bei der Frage nach dem Atommüll.

Und als Christ betrifft mich das nochmal auf einer anderen Ebene. Denn ich glaube, dass Gott uns Menschen diese Schöpfung anvertraut hat. Wenn in der Bibel steht, dass der Mensch die Erde bearbeiten und hüten soll, dann ist das für mich viel mehr als eine alte Geschichte. Ich entdecke darin den Auftrag, dass ich das eben ganz konkret mache: die Erde bearbeiten und hüten. Und auch wenn ich gern Auto fahre, versuche ich mich mehr aufs Fahrrad zu schwingen oder mein Gemüse bei der Bäuerin in der Nähe zu kaufen. Ich weiß, dass ich die riesigen Herausforderungen durch den Klimawandel oder eben auch den Atommüll nicht allein lösen kann. Aber zum einen bin ich nicht allein, und immer mehr Menschen werden sensibel für das Thema. Und zum andern glaube ich, dass ich zumindest ein Bisschen was bewirken kann, damit meine Kinder und deren Kinder, und deren Kinder und so weiter – damit sie eine Lebensgrundlage haben und sich an der Schöpfung freuen können. Und genau dafür arbeiten ja auch die Atomsemiotiker. Sie im ganz großen Stil und richtig knifflig; und ich im Kleinen. Und bei mir ist das ja zum Glück gar nicht so schwer.

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SWR4 Abendgedanken

09OKT2023
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Als Religionslehrer gehe ich gerne raus mit meiner Klasse. Vor allem dann, wenn am Ende einer Schulstunde noch ein bisschen Zeit übrig ist. Dann nehme ich immer ein paar Jonglierbälle mit. Ich kann überhaupt nicht jonglieren, aber gemeinsam klappt‘s. Die Jungs und Mädchen stellen sich im Kreis auf und dann fängt eine an. Zum Beispiel Marie. Marie ruft laut „Robin“ und wirft dann gleich den Ball zu ihm. Dann ruft Robin „Karla“ und so fliegt der Ball weiter bis ihn alle einmal hatten. Bei der nächsten Runde werfen sie ihn wieder in derselben Reihenfolge. Irgendwann geb ich noch einen zweiten oder dritten Ball dazu und manchmal auch einen in umgekehrter Richtung. Das Spiel heißt „Gruppenjonglage“, macht richtig Spaß und die Kinder lernen auch was Wertvolles dabei.

Nämlich dass es darauf ankommt, dass ich aufmerksam für die anderen bin. Dass wir einander beim Namen nennen, gut zuhören und Blickkontakt herstellen. Dass wir uns konzentrieren und aufeinander einstellen. Man kann so einen Ball vorsichtig und gezielt werfen – dann kann der andere ihn gut fangen. Oder man kann mit viel zu viel Schmackes schleudern, dann hat der Fänger keine Chance und die ganze Gruppe kommt durcheinander. Und wenn mal ein Ball runterfällt: Fängt dann eine einen Streit an oder schaffen wir es, darüber zu lachen und neu anzufangen?

Was bei der Gruppenjonglage gelingen kann, lässt sich auch prima auf Gesellschaft oder Kirche übertragen. Wenn es da so ähnlich zugeht, dann freut mich das. Vermutlich, weil es mich an das erinnert, was Jesus vor zwei Jahrtausenden schon vorgelebt hat: Wir sind eine Gemeinschaft, in der es auf jede und jeden ankommt. Und wenn unser Miteinander in Balance sein soll, ist es wichtig, dass wir gut aufeinander schauen und uns nicht mit Gewalt Dinge zumuten oder an den Kopf werfen. Es ist schöner, wenn ich mit dem, was der andere mir sagt oder gibt, auch umgehen kann. Nur so kann ich es auch annehmen.

Und genau wie bei der Gruppenjonglage: Es funktioniert alles viel besser, wenn wir mit offenen Augen miteinander umgehen und möglichst niemand aus dem Blickfeld gerät. Dann fühlen sich Menschen gesehen. Und wenn was schief geht: Ich muss nicht gleich den Verantwortlichen kritisieren und nur noch seinen Fehler sehen, schon gar nicht, wenn er aus Versehen passiert ist. Besser über Missgeschicke zusammen lachen und es dann mit neuem Schwung nochmal probieren. Wo das im Alltag gelingt, geht es herzlicher zu und wir können eine ganze Menge Bälle gleichzeitig jonglieren.

Benjamin Vogel aus Freiburg von der katholischen Kirche.

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