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SWR2 / SWR Kultur

  

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SWR Kultur Wort zum Tag

27JUL2024
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„Probiers noch mal“ hat der Stuttgarter Großvater meines Mannes immer gesagt, wenn bei seinen Kindern oder Enkeln wieder einmal etwas schiefgelaufen war. Leider kann ich zwar alles Mögliche, aber kein Schwäbisch, denn der Satz „Probiers noch mal“ klingt, in freundlichem Schwäbisch geäußert, noch mal so mutmachend. Finde ich.

Im Unterschied zu seinem Sportlehrer, der den zweiten Versuch beim Felgaufschwung am Reck stets mit abfälligen Bewertungen garniert hat, war der Stuttgarter Opa für meinen Mann ein wohlwollender Mutmacher. Er hat sich damit in gut biblische Tradition gestellt. Mich erinnert sein „Probiers noch mal“ nämlich an die Szene im Lukasevangelium, als Jesus Simon ermutigt, nach einem großen Misserfolg beim Fischefangen die Netze doch noch einmal auszuwerfen. „Meister, wir haben die ganze Nacht gearbeitet und nichts gefangen, aber auf dein Wort hin will ich die Netze auswerfen,“ antwortet Simon. Und hat Erfolg.

Oder ich denke an den erschöpften Propheten Elia, der einfach nicht mehr für Gott streiten kann und von einem ziemlich geduldigen Engel ermutigt wird, es doch noch einmal zu versuchen. Menschen wie der Stuttgarter Opa sind wie Engel, die helfen, sich wieder aufzurappeln und es eben, trotz aller Misserfolge, noch einmal zu versuchen. Sie machen Mut zum Leben und zum nächsten Versuch. Klar, manchmal stellt sich auch nach wiederholten Versuchen heraus, dass man für den Felgaufschwung einfach nicht geboren ist. Oder dass man nach einem vergeigten Examen möglicherweise besser einen alternativen Berufsweg einschlagen sollte, als es noch mal und noch mal zu versuchen. Vielleicht gibt es ja einen anderen Beruf, der einem selbst und anderen mehr zum Segen gereicht. Doch in vielen Fällen gelingt es tatsächlich, die Welt beim zweiten Versuch aus einer neuen Perspektive zu betrachten. Ob nun oben vom Reck aus, oder auf dem Podium, wenn einem das Zeugnis überreicht wird. Dann wirft man die Netze aus und hat reiche Beute und spürt, dass sich die Anstrengung gelohnt hat.

Das mutmachende „Probiers noch mal“ ist wie eine Atempause, die einem hilft, die ganze Angelegenheit noch einmal in Ruhe zu betrachten, statt in der allerersten Verzweiflung die Netze in den Mülleimer zu werfen oder alle sportlichen Aktivitäten einzustellen. Mag sein, es klappt nicht alles, aber setz erst mal auf die schwäbisch-engelhafte Unterstützung.

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SWR Kultur Wort zum Tag

26JUL2024
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„Die Tiere bekommen als erste ihr Futter“ hat mir meine Großmutter erklärt. Dabei hat sie ihren Kanarienvögeln einen Schnitz Apfel in den Käfig geschoben und Körner und Wasser in Schälchen gefüllt. Ich war etwa fünf Jahre alt und fand diesen Satz im besten Sinne des Wortes merk-würdig. Ich habe ihn mir bis heute gemerkt, obwohl ich selbst nie ein Tier besessen habe. Für mich steht der Satz meiner Großmutter stellvertretend für eine Haltung, die die eigene Person zurücktreten lässt gegenüber anderen, die bedürftig sind. Eben nicht „Me first“, sondern zuerst die Schwächeren, die, die sich nicht selbst helfen können. Sogar ich, das von ihr über alles geliebte Enkelkind, musste mit dem Frühstück warten, bis die Kanarienvögel versorgt waren. Dann erst bekam ich mein Müsli. Meine Großmutter hat ihren Satz übrigens ganz entschieden vorgebracht. Da gab es keine Diskussionen. Die Tiere kommen zuerst dran. So ist es eben. Ich habe damals nicht nur gelernt, dass – jedenfalls für meine Großmutter – die Kanarienvögel am Morgen Vorrang vor den Menschen haben, sondern auch, dass man nicht verhungert, wenn man mal auf das Essen wartet. Im Gegenteil schmeckt das Frühstück sogar viel besser, wenn man vorher einem kleinen Geschöpf das Lebensnotwendige gegeben hat.

Was das Verhungern betrifft: Meine Großmutter hat im Krieg noch selbst gehungert. Noch schlimmer war für sie, dass sie ihr Kind – meinen Vater - nicht jeden Tag satt bekommen hat. Diese Erfahrung hätte ja auch dazu führen können, sich in späteren, guten Zeiten, den Teller randvoll zu häufen, ohne an andere zu denken. Und zwar als erste Tat am Morgen. Doch meine Großmutter hat Haltung bewiesen. Im Krieg und danach. Krieg und Hunger können dazu führen, dass Menschen sich ent-menschlichen. Dass sie ihre Werte verlieren, und ihre Einstellung zum Leben. Meine Großmutter hat das nicht zugelassen. Für sich nicht – und nicht für ihre Familie. Die christlichen Werte, die sie einmal gelernt hatte – Nächstenliebe, Barmherzigkeit, das Eintreten für Gottes Geschöpfe – die hat sie auch in der Not nicht vergessen und dies an ihren Sohn weitergegeben, auch zu Zeiten, als sie ihm zu ihrem Schmerz nicht ausreichend Brot geben konnte. Und später, in besseren Zeiten, an mich, ihr Enkelkind. Und mir den Teller mit einem jedenfalls immer ganz randvoll gefüllt: mit sehr, sehr viel Liebe.

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SWR Kultur Wort zum Tag

25JUL2024
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„Man muss den Kindern zeigen, dass sie etwas können“ hatte er mir erklärt. Ich kann mich nach all den Jahren noch genau erinnern. Wir hatten mit der Gymnasialklasse eine Exkursion zu einer Klosterruine unternommen. Er war am selben Tag mit seiner Hauptschulklasse dabei, im Kloster eine archäologische Ausgrabung durchzuführen. Er stand in der Grube mit der Schaufel in der Hand und hat mir erklärt, warum diese Aktion für seine Klasse so wichtig sei. Seine Schülerinnen und Schüler waren währenddessen mit Feuereifer dabei, kleine Scherben auszubuddeln und sorgfältig mit Pinseln vom Staub zu befreien. Warum er ausgerechnet mir sein pädagogisches Konzept erläutert hat, weiß ich heute nicht mehr. Wahrscheinlich habe ich neugierig gefragt, ob ich nicht auch mitmachen dürfte. Doch diese archäologische Ausgrabung war nicht für mich Gymnasiastin gedacht, sondern exklusiv für seine Klasse. „Die Kinder haben nicht viele Erfolgserlebnisse, das ist für dich viel einfacher“ hat er mir erklärt. „Hier erleben sie, dass sie etwas können. Das ist wichtig. Denn sie sind wertvolle Menschen, in ihnen steckt viel. Man muss ihnen nur helfen, das zu entdecken.“ Ich weiß noch: Ich hätte gerne auch mitgemacht, vor allem hätte ich aber gerne ihn als Lehrer gehabt. Ich habe gespürt: Dieser Mann ist etwas ganz Besonderes. Von ihm könnte ich viel lernen. Über das Leben. Über mich. Über Güte. Seine Worte, seine Haltung haben sich mir tief eingeprägt.

Später habe ich in meinem Beruf mit Kindern aus vielen gesellschaftlichen Milieus zu tun gehabt. „Man muss den Kindern zeigen, dass sie etwas können.“ Was ich als Schülerin gehört habe, wurde zum Anspruch an mich als Pfarrerin. Mein Augenmerk hat deshalb auch denen gegolten, die es im Leben nicht so einfach hatten. Denen, die ein bisschen länger gebraucht haben, bis sie etwas verstanden haben. Denen, die um alles kämpfen mussten, auch um Erfolg und Anerkennung. Ich habe überlegt, wie ich die Konfirmandenstunde so gestalten könnte, dass alle Freude daran haben. Wir haben dann mit einem Spiel begonnen, an dem sich alle beteiligen konnten. Und immer wieder habe ich an diesen Lehrer gedacht. An seine menschenfreundliche Güte. Schade, dachte ich, dass er nie erfahren wird, wie nachhaltig bedeutsam sein Impuls gewesen ist. Neulich, als ich meine Mutter im Altersheim besuchte, habe ich plötzlich seinen Namen gehört. Ein alter Herr hat seine pflegebedürftige Frau besucht. Ich habe ihn angesprochen. Tatsächlich, der Lehrer! Und so konnte ich ihm, Jahrzehnte später, erzählen, wie wichtig er für mich geworden ist. Er hat sich, ganz bescheiden, gefreut. Und ich konnte endlich „Danke“ sagen.

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SWR Kultur Wort zum Tag

12JUN2024
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Menschen freuen sich aus ganz unterschiedlichen Gründen und auf unterschiedliche Weise. Mir scheint, die unterschiedlichen Freude-Typen bilden sich bereits in der Kindheit heraus. Der eine freut sich eher still für sich, die andere will in ihrer Freude die ganze Welt umarmen. Wahrscheinlich hat schon der kleine Caspar David Friedrich eher versonnen in den Sonnenuntergang am Meer geschaut und den großartigen Anblick eher still im Herzen bewegt, während Franz Beckenbauer am meisten Spaß hatte, wenn er mit anderen Jungs zusammen gekickt und ein Tor geschossen hat. Einschließlich lautstarkem Jubel. Jedenfalls kann ich mir das gut vorstellen.

Was für ein Freude-Typ man ist, bekommt man daher am besten heraus, wenn man sich an die eigene Kindheit erinnert. Was hat damals so richtig Freude gemacht? Und wie hat es sich damals angefühlt? Manche Menschen denken vielleicht an Weihnachten und an ein besonderes Geschenk, das sie damals beglückt hat. Der Puppenkinderwagen, die Märklin-Eisenbahn, das erste eigene Fahrrad: Was für eine Freude! Andere erinnern sich an ein festliches Essen, z.B. anlässlich der Konfirmation. Ich weiß noch heute, Jahrzehnte später, was es da zu essen gab und wie schön es war, mit meiner Familie zu feiern. Und, klar, auch im Mittelpunkt eines Festes zu stehen.

Das Schöne ist, dass man solche Freuden-Quellen wieder zum Sprudeln bringen kann, auch wenn man schon längst den Kinderschuhen entwachsen ist. „Geh aus mein Herz und suche Freud“ hat schon Paul Gerhard gedichtet, und mit diesem sinnreichen Hinweis kann ich mich auf Quellensuche begeben. Was hindert mich daran, einem Fußballverein beizutreten. Wenn ich mich zu alt fühle zum Kicken – meine Lieblingsmannschaft freut sich über einen neuen Fan beim Heimspiel. Ich kann mich auch auf den Weg zum nächsten Fluss oder See machen und mich dort stillvergnügt ein paar Stunden zum Sonnenuntergang hinsetzen. Dafür muss einfach Zeit sein. Wenn ich mich über einen Puppenwagen oder ein Fahrrad gefreut habe, dann wäre es doch eine gute Idee, damit ein Kind in der Familie zu beschenken. Geteilte Freude ist bekanntlich die schönste Freude, da kann man Weihnachten auch im Juni feiern. Sicher gibt es auch jemanden, der gerne mit mir richtig gut essen gehen möchte, um das Leben zu feiern.

So gesehen haben wir unsere Freude durchaus ein gutes Stück in der eigenen Hand. Wir können sie zumindest aktiv suchen: geh aus mein Herz, und suche Freud. Paul Gerhard meinte, dass die Freude, die ich auf einer solchen Entdeckungstour finde, ein Gottesgeschenk ist. Wie auch immer diese Freude sich konkret zeigt. Da kann ich ihm nur zustimmen.

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SWR Kultur Wort zum Tag

11JUN2024
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In der Dankbarkeit wird die Freude persönlich. Diesen Satz habe ich neulich aufgeschnappt und mir gleich aufgeschrieben. Er gehört zu der Sorte Sätze, die mich spontan beeindrucken und auf den zweiten Blick dann irritieren. Denn: Was soll das bedeuten: In der Dankbarkeit wird die Freude persönlich?

Etwas persönlich nehmen ist in der Regel ja eher negativ besetzt. Ich nehme etwas persönlich und bin dann beleidigt oder zornig. Meine Seele ist dann insgesamt ärgerlich, ich nehme das ganze persönlich. Freude ist jedoch nicht negativ. Kann ich sie persönlich nehmen, so wie einen Vorwurf oder einen kritischen Hinweis? Vielleicht meint der Satz ja, dass ich mich intensiver freuen kann, wenn ich meine Freude persönlich nehme. Mit einer Freude, die meine Seele so ausfüllt wie mein Zorn und mein Beleidigt-Sein. Nur halt positiv. Ich nehme meine Freude persönlich. Ich bin ganz erfüllt von ihr.

Weiter gefragt: Ist eine solche Freude ohne Dankbarkeit unpersönlich? Ich kann mich doch auch einfach so freuen, ohne jemandem dafür dankbar zu sein, und das betrifft mich doch auch persönlich, einfach, weil ich es bin, die sich freut. Doch offenbar hängt beides enger zusammen, als ich zunächst gedacht habe.

Denn es stimmt ja: Ich bin dankbar, wenn etwas nicht selbstverständlich ist, sondern besonders. Ein großes oder kleines Lebensglück unterbricht meinen Alltag. Das kann ein unerwarteter Anruf sein, oder, manchmal ganz banal, ein Parkplatz, den ich in einer zugeparkten Gegend finde, wenn ich es gerade ziemlich eilig habe. Oder, viel aufregender, ein Kuss, oder eine herzliche Umarmung. Ein Gewinn oder eine Prüfung, die ich geschafft habe. Das kann ich alles so hinnehmen und mich auch darüber freuen. Wenn ich jedoch dankbar bin, dann mache ich meiner Seele klar:

Es ist ein Geschenk, dass ich das gerade erleben darf. Selbst, wenn ich – wie bei einer Prüfung – viel dafür getan habe: Zuletzt ist es ein Geschenk. Wenn ich dafür dankbar sein kann, dann gewinnt meine Freude eine andere Qualität. Sie strahlt nach außen aus. Merkwürdigerweise gerade dadurch, dass ich sie persönlich nehme.

Also tatsächlich: In der Dankbarkeit wird die Freude persönlich.

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SWR Kultur Wort zum Tag

10JUN2024
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Geteilte Freude ist doppelte Freude – so das Sprichwort. Dem kann ich nur zustimmen! Wir Menschen sind Resonanzwesen und leben im und vom Austausch anderen. Schon Neugeborene sind in der Lage, Mimik nachzuahmen. Wenn Papa die Zunge herausstreckt, dann ahmt das Baby ihn nach. Kein Lebewesen imitiert so mühelos wie der Mensch – und ist so sehr angewiesen darauf, dass andere reagieren. Kinder lernen nur, gut mit ihren Gefühlen umzugehen, wenn Erwachsene sie ernst nehmen und mitfühlen. Leider merken sie auch schon sehr bald, dass es nicht so einfach ist mit der Resonanz. Wenn sie mit einem selbstgemalten Bild aus dem Kindergarten kommen, Mama oder Papa aber nur einen flüchtigen Blick darauf werfen und zwar „Ganz toll, mein Schatz!“ sagen, in Wirklichkeit aber gerade mit etwas ganz anderem beschäftigt sind. Oder wenn sie einen großen Kinderkummer haben und die Erwachsene meinen, dass Kinder sich halt nicht so anstellen sollen.

Was bei Kindern jedoch noch ganz selbstverständlich funktioniert – Sie freuen sich mit anderen, lassen sich von einer Begeisterung mühelos anstecken – das ist leider bei Erwachsenen keineswegs mehr selbstverständlich. Es ist wirklich nicht leicht, jemanden zu finden, der meine Freude von Herzen teilen mag. Schnell kommt da statt Mitfreude Neid auf. Oder man hat ein schlechtes Gewissen wegen des eigenen Glücks und behält, was einen freut, lieber für sich.

Menschen, die sich wirklich mitfreuen können, sind daher kostbar. Auf einer Tagung hat mir ein Wissenschaftler neulich von seiner Tante Waltraud erzählt. Waltraud aus Castrop-Rauxel hat er immer angerufen, wenn er über irgendetwas richtig glücklich war. Sie war der einzige Mensch, von dem er sicher wusste, dass sie sich aufrichtig mit ihm freut. Waltraud war Feuer und Flamme, wenn ein Anruf kam. Sie hat immer interessiert nachgefragt und war richtig begeistert über jeden Erfolg und selbst über kleine Glücksmomente. Waltraut, sagt der Wissenschaftler, war ein echter Glücksfall für mich. Ein Gottesgeschenk. Leider ist Waltraud irgendwann gestorben. Aber noch in der Erinnerung strahlt nach, wie gut sie dem Mann getan hat, und noch die Erinnerung an die geteilte Freude ist schön.

Ich wünsche Ihnen einen Menschen wie Waltraud. Der sich mit Ihnen freuen mag und kann. Einen Menschen, mit dem Sie erleben können, dass geteilte Freude tatsächlich doppelte Freude ist.

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SWR Kultur Wort zum Tag

20APR2024
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Die Finnen sind die glücklichsten Menschen der Welt. Das hat der „Weltglücksbericht“ gerade wieder bestätigt. Im internationalen Ranking stehen sie auf Platz 1. Und das, obwohl sie in einer politisch extrem bedrohlichen Lage mit einer langen Grenze zu Russland leben.

Die Ursachen für dieses Finnenglück sind vielfältig. Die Finnen leben Chancengleichheit und Gleichberechtigung, sie sind im Umgang miteinander freundlich und zuvorkommend und kümmern sich umeinander. Emotionale Fähigkeit steht als Lehrfach auf dem Stundenplan. Vor allem aber: Finnen sind nicht neidisch. Sie vergleichen sich nicht mit anderen Menschen. Neid ist ihnen fremd.

Kein Wunder, dass wir Deutschen im Glücksranking wieder abgerutscht sind. Platz 24. Objektiv gesehen geht es uns ziemlich gut. Aber es scheint, dass wir ein Volk sind, das ganz besonders anfällig dafür scheint, sich vom Neid auffressen zu lassen. Mit unserem Neid vertreiben wir uns aber selbst aus dem Paradies. Jedenfalls gibt es Millionen Menschen auf der Welt, die sehr gerne mit uns tauschen würden. Doch der Neid vernebelt den Blick auf unsere eigene gute Wirklichkeit.

Neid gilt als eine der sieben Todsünden. Neid vergiftet und zerstört Beziehungen. Wer niemandem etwas gönnt und sich ständig vergleicht, wird garantiert unglücklich.

Neid ist – Stichwort Paradies – eine sehr alte schlechte Eigenschaft des Menschen. Davon erzählt eine der Schöpfungsgeschichten in der Bibel. Der erste Mensch ist neidisch auf Gott, der als einziger vom Baum in der Mitte des Gartens essen darf. In der nächsten Generation bringt Kain seinen Bruder Abel aus schierem Neid um.

Jede Sünde führt zu einem getrübten Blick. Es geht also um einen Perspektivwechsel. Statt zu schauen, was der Nächste mehr hat, wäre es eine Idee, auf das zu schauen, was er braucht. Statt auf das Glück der anderen zu schielen, könnte ich mich freuen über das Glück, das mir selbst geschenkt ist. Wenn es richtig gut läuft mit dem Perspektivwechsel: Ich könnte auf die Idee kommen, mein Glück zu teilen!

Glücklicherweise gibt es viele Menschen, die das können. Gönnen und Teilen. Etwa alle, die sich für andere engagieren und so viel Sinn im Leben fühlen.

Vielleicht sollte man sie in Schulen schicken, so dass sie ihre Erfahrungen weitergeben können. Oder auch das Schulfach „emotionale Fähigkeiten“ bundesweit einführen. Oder beides.

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SWR Kultur Wort zum Tag

19APR2024
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Was wäre mein Leben ohne einen richtig guten Freund oder eine richtig gute Freundin? Eine Freundin, der ich bedingungslos vertrauen kann. Ein Mensch, der mir, wenn es notwendig ist, auch einmal auf die Sprünge hilft, mich ergänzt und zugleich Verständnis für mich hat. Der Reformator Martin Luther hatte einen solchen Freund. Philipp Melanchthon. Heute ist sein Todestag, am 19. April 1560 ist er gestorben.

Melanchthon war für Luther ein außerordentlicher Glücksfall, ein Freund auf Augenhöhe, intellektuell ebenbürtig, ein ausgezeichneter Wissenschaftler und Kenner der antiken Schriften, zugleich ein Reformer, der offen war für neue naturwissenschaftliche Erkenntnisse.

Altes und Neues konnte er in seinem Denken verbinden und so verwundert es nicht, dass er schnell für die Gedanken der Reformation entflammt ist, die sich durch Martin Luther verbreitet haben. Er hat seinen Freund dann in politischen und religiösen Konferenzen vertreten, wenn der als Geächteter nicht reisen konnte.

Wichtige Bekenntnisschriften stammen aus Melanchthons Feder. Wenn Martin Luther wieder einmal als Hitzkopf agierte, versuchte Melanchthon zu vermitteln.

Die Freundschaft hat beiden gutgetan. Denn Melanchthon profitierte auch selbst! Er war nämlich jemand, der sich das Leben schwer machte. Er war bis aufs Äußerste skrupulös ist darüber immer wieder krank geworden. Schlaflosigkeit und Magengeschwüre quälten ihn. Ständig hat er gegrübelt: Waren seine Entscheidungen richtig oder falsch? Welche Konsequenzen würden sich ergeben? Würde er schwere Sünden auf sich laden? Melanchthon zweifelte. In dieser Situation hat ihm sein Freund Martin Luther weitergeholfen. Luther ist zwar ein Hitzkopf gewesen, doch zugleich ein sensibler Seelsorger. Pecca fortiter, zu deutsch: Sündige tapfer! lautet sein Ratschlag an seinen Freund Melanchthon. Dieser Ratschlag könnte heute glatt als moderner therapeutischer Hinweis durchgehen. Eine kluge Intervention!

Wenn du Angst vor den Konsequenzen deines Handelns hast, obwohl du eigentlich alles wohl bedacht hast: Riskiere es, schau dem, was du vorhast, mutig ins Auge! Die Folgen des eigenen Handelns kann schließlich kein Mensch vollständig übersehen. Und Luther hat noch eins draufgesetzt: glaube noch tapferer. Auch noch der letzte Rest an Zweifel, der an den Magenschleimhäuten Melanchthons genagt hat, sollte beseitigt werden. Sündige tapfer, glaube noch tapferer!

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SWR Kultur Wort zum Tag

18APR2024
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Ein Physikprofessor hat mir von einem faszinierenden Gedankenexperiment erzählt, das Albert Einstein zu verdanken ist. Angenommen, ein Mensch hätte einen Zwillingsbruder und begäbe sich auf eine Reise in einem Raumschiff mit sehr großer Geschwindigkeit in den Kosmos. Beide Zwillingsbrüder haben eine Uhr dabei. Nach Einsteins Theorie vergeht die Zeit in dem mit Lichtgeschwindigkeit durchs Weltall rasenden Raumschiff unendlich viel langsamer als auf der Erde. Wenn der Raumfahrer daher nach einem Jahr auf seiner Uhr umkehrt, trifft er nach seiner Rückkehr die Ururur-Enkel seines Zwillingsbruders. Bei genügend großer Geschwindigkeit könnte man tatsächlich tausend Jahre zu einem Tag machen. Auch wenn das tatsächlich wissenschaftlich bewiesen ist: Das Gedankenexperiment sprengt, ganz klar, mein Vorstellungsvermögen.

Mir als Theologin fällt dazu der Psalmvers ein: Tausend Jahre sind vor dir, Gott, wie der Tag, der gestern vergangen ist. Daraus folgt nicht, dass die Psalmen schon die Relativitätstheorie erfasst hätten. Es folgt aber daraus, dass eine eindimensionale oder gradlinige Auffassung von Zeit auch theologisch verstanden sicher zu kurz greift.

Ich bewundere Menschen wie Albert Einstein. Heute ist sein Todestag. 1955 ist er gestorben. Ganz ohne künstliche Intelligenz, rein mit der Kraft seiner Gedanken, hat er die Relativitätstheorie entwickelt. Es ist so unfassbar, was Menschen erdenken und erfinden können! Übrigens auch böseste Dinge! Albert Einstein stammte aus einer jüdischen Familie. Seine Schriften wurden von den Nationalsozialisten verbrannt, er emigrierte und half anderen so viel er konnte, aber Familienangehörige wurden von den Nazis ermordet. Antisemitismus und rechtsradikales Denken treiben gerade wieder ihr Unwesen. Es ist eben einfacher, eindimensional zu denken, als Relativitäten einzuplanen.

Aus den Wundern der rasenden Zeit und der Komplexität des Kosmos einen Gottesbeweis zu konstruieren, funktioniert nicht.

Leider nicht, mag mancher sagen. Ich finde: Es ist doch einfach schön, über Faszinierendes zu staunen! Ich muss nicht alle Feinheiten der Relativitätstheorie verstehen. Es kann doch reichen, zu staunen. Faszinierend! Wie übrigens der Astronaut Spock in meiner als Kind so geliebten Serie „Raumschiff Enterprise“ immer gesagt hat. Faszinierend! Und wer mag, so wie ich, kann dafür Gott loben.

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SWR2 Wort zum Tag

20MRZ2024
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Heute ist Frühlingsanfang! Das Grün sprießt, den drohenden Spät-Frösten zum Trotz. Mir scheint: Jede Knospe lebt das Lob Gottes, der uns Menschen diese anmutige Zeit des Frühlings geschenkt hat. Und jedes sprießende Grün ist auch ein Trost in schwierigen Zeiten. Gerade blühen die Mandelbäume, ein zartes Rosa färbt dann die Pfalz, und Tausende fahren hin, um sich an dieser Pracht zu erfreuen. Sie tun das auch, weil dieses Blütenmeer der Seele wohltut. Der jüdische Schriftsteller Schalom Ben-Chorin hat einmal gedichtet: Freunde, dass der Mandelzweig wieder blüht und treibt, ist das nicht ein Fingerzeig, dass die Liebe bleibt? Schalom Ben-Chorin beschreibt in dem Lied sehr drastisch den Schrecken, den die Welt abseits der Blütenmeere auch hat: Tausende zerstampft der Krieg. Er hat alles am eigenen Leib erlebt, in München geboren musste er zur Zeit der Nazidiktatur seine Heimat verlassen und fand Zuflucht in Israel. Freunde und Familienangehörige fanden dagegen im Holocaust den Tod. Doch er schließt sein Lied mit den Worten: Freunde, dass der Mandelzweig, sich in Blüten wiegt, bleibe uns ein Fingerzeig, wie das Leben siegt.

Einen Fingerzeig – den brauchen wir. Besonders und gerade in frostigen Zeiten. Nur mit intellektuellen Appellen allein werden wir Menschen nämlich nicht getröstet. Wir brauchen lebendige Bilder, Hoffnungszeichen, etwas, dass wir mit Leib und Seele spüren können. So wie Mandelblüten. Oder die zartgrünen Sprösslinge im Garten oder im Park.

Dass Grün uns Menschen guttut, besonders das Grün des Frühlings nach langer, kalter Winterzeit, das ist sogar wissenschaftlich bewiesen und für jeden Menschen unmittelbar erfahrbar. Wer gestresst ist, kann am besten zu einem Spaziergang im Frühlingswald aufbrechen. Manche meinen sogar, Frühlingsgrün hilft gegen Bluthochdruck. Doch den zarten kleinen Blüten gelingt noch mehr, als gestresste Menschen zu erden. Schalom Ben-Chorin hat das gewusst.

Es hat etwas Großartiges, dass es diesen frühlingszarten Boten gelingt, sogar gegen die Gewalt des Kriegs und des Schreckens aufzutrumpfen. Mag sein, dass die Stiefel über das Grün hinwegtrampeln. Aber sie werden es nicht schaffen, die Macht des Frühlings aufzuhalten, diese Zeichen der Liebe, seinen Blütensieg. Der Mandelzweig treibt, die Liebe bleibt. Jede Blüte ein Gottesgeschenk.

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