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SWR2 / SWR Kultur

  

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SWR Kultur Wort zum Tag

16APR2025
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Manchmal muss man das Leben einfach feiern. Jesus hat das zwei Tage vor seinem Tod erlebt. Er ist bei einem wohlhabenden Freund eingeladen, als überraschend eine Frau den Raum betritt. Sie gießt Jesus wertvollstes Öl über den Kopf, eine Kostbarkeit. So teuer, dass ein Tagelöhner dafür ein ganzes Jahr lang hätte arbeiten müssen. Der Raum dürfte mit dem Duft des Öls geflutet worden sein.

Und: Die Frau schenkt Jesus noch mehr als kostbares Öl. Seine Botschaft ist bei ihr angekommen. Sie handelt, als ob sie jetzt schon Teil der kommenden Welt Gottes ist, von der Jesus mit aller Kraft erzählt hat auf der wilden Reise seines Lebens. Sie feiert das Leben!

Sofort flammt Empörung auf. Wenn man das Öl verkauft hätte, statt es so zu verschwenden, dann hätte man das Geld den Armen geben können.

Jesus stellt sich schützend vor die Frau. Er lässt zu, dass sie überschwänglich ist, voller Hingabe. Verschwenderisch, überfließend wie die Liebe Gottes, von der er so oft gepredigt hat. Mit dem Duft der Salbe entfaltet sich eine Ahnung im Raum: So könnte es sein, wenn die Welt für Augenblicke so ist, wie Gott sie einmal gewollt und geschaffen hat: Wohltuend, voller Liebe und Hingabe. Ohne Krieg und Schmerz. Eine Welt in Frieden. Duftend. Und Gott sah, dass es gut war.

Diese Begegnung der Frau mit Jesus beim Festmahl gibt mir zu denken: Vergiss über dem Einsatz für die Gerechtigkeit das Leben nicht. Oder um es mit den Worten des Liederdichters Wolf Biermann zu sagen: Du, lass dich nicht verbittern in dieser bittern Zeit.

Der Einsatz für eine bessere Welt kann nämlich auf Dauer auch ermüden. Wenn alles Engagement fruchtlos erscheint, wenn immer wieder die triumphieren, die sich selbst an die erste Stelle setzen. Wenn die Kriegstreiber und Diktatoren unbeirrt töten und siegen. Dann kann das hart machen, humorlos und traurig.

Mir scheint: Für alle, die es ernst nehmen mit der Botschaft Jesu, die sich nicht abfinden wollen mit den Ungerechtigkeiten dieser Welt und zugleich darüber müde geworden sind, für sie ist diese Geschichte der Frau mit dem Salböl bewahrt worden.

Du, lass dich nicht verbittern! Lebe! Liebe!

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SWR Kultur Wort zum Tag

15APR2025
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„Worauf freuen Sie sich nach dem Tod?“ Diese interessante Frage hat der Bestatter Julian Heigel in einem Tweet gestellt. Und viele haben geantwortet.

Die meisten Antworten auf seine Frage finde ich ziemlich witzig. Wie lustig ist etwa die kurze Antwort: „Erst mal ausschlafen! Dann die anderen besuchen.“ Oder: „Endlich leben.“ Oder auch ganz frisch-fromm-fröhlich-frei: „Jesus sehen.“

Worauf freue ich mich nach dem Tod? Die Frage ist auch deshalb so reizvoll und tiefgründig, weil sie, ganz beiläufig, unterstellt, dass nach dem Tod tatsächlich noch etwas kommt. Etwas, das fröhliche Gespanntheit auslösen könnte.

Ich glaube an die Auferstehung. Aber: Freue ich mich auch darauf?

Der gruselige Pfarrer, der mich vor Jahrzehnten konfirmiert hat, hat uns im Konfirmandenunterricht die Ereignisse nach dem Tod ziemlich plastisch geschildert. Er hat damals erklärt, dass nach dem Tod eine Art Kinofilm auf Großbildleinwand ablaufen würde, der alle Schandtaten unseres Lebens der versammelten Schar der Auferstandenen vorführen würde. Ein beeindruckendes Szenario. Aber nicht unbedingt ein Grund zur Freude. Ich war schon mit 14 Jahren nicht scharf darauf, dass meine Mutter erfährt, wer ihr einmal fünf Mark aus dem Portemonnaie geklaut hat. Heute denke ich, dass sie das sowieso gewusst hat und selbst im Himmel daraus keine große Sache mehr machen wird.

Worauf freue ich mich?! Ich freue mich auf ein himmlisches Fest – jedenfalls hat Jesus das seinen Freundinnen und Freunden versprochen. „Das Himmelreich gleicht einem König, der seinem Sohn die Hochzeit ausrichtet,“ hat er gesagt. Oder er hat den Himmel mit einem großen Festessen verglichen, zu dem ein Gastgeber großzügig einlädt.

Worauf freue ich mich, nach dem Tod? Ich freue mich auf ein Fest voller Musik, Tanz und Lachen. Ich möchte lachen über das, was in meinem Leben gelungen ist, aber auch humorvoll auf das schauen, was so richtig peinlich war. Ich freue mich auf ein Fest, zu dem ich eingeladen bin und ganz selbstverständlich dabei sein darf. Ein Fest ohne Kater am nächsten Tag. Ein Fest, das nachschwingt und nachklingt und die Herzen zum Himmel schweben lässt.

Wobei, im Himmel, da bin ich dann ja schon.

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SWR Kultur Wort zum Tag

14APR2025
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„Stille Woche“ wird die Karwoche genannt. Dabei ist es damals in Jerusalem gar nicht leise zugegangen. Die Evangelien berichten: Jesus hat getobt und gewütet, er ist sogar ungerecht und verletzend. Bekannt ist die Szene, in der Jesus die Händler und Geldwechsler aus dem Tempel vertrieben hat. Weniger bekannt ist, dass Jesus einen Feigenbaum verflucht und ihn verdorren lässt, weil der Baum keine Früchte trägt. Die arme Pflanze ist dabei völlig unschuldig, denn es war an diesem Frühlingstag nicht die Jahreszeit für Feigen.

Ich bin froh darüber, dass die Jüngerinnen und Jünger die Erinnerung daran bewahrt haben. Jesus weiß, ahnt zumindest, dass sein Tod kurz bevorsteht. Noch vier Tage, und er wird am Kreuz sterben. Er flucht, bevor der Tag kommt, an dem andere ihn verfluchen werden, sein Leben verdorren lassen wie diesen Feigenbaum am Weg.

Wenn ich als Seelsorgerin Menschen begleitet habe, deren Leben sich dem Ende zuneigte, dann waren die auch nicht immer sanft. Nicht jeder kann ruhig eine schwere oder tödliche Krankheit akzeptieren, lebenssatt Abschied nehmen und friedlich mit einem Lächeln auf den Lippen sterben. Wahrscheinlich kennen Menschen, die im Krankenhaus oder im Hospiz begleiten, auch das: Diesen Zorn von Sterbenden gegenüber denen, die weiterleben können. Eine bittere Wut, die ganz oft ungerecht wirkt und verletzend. Es gibt Menschen, die zum Ende des Lebens ungeahnte Kräfte entwickeln und um jeden Atemzug kämpfen. Gegen den Tod. Und gegen die, die sie begleiten.

Ich meine: Für sie alle ist diese Geschichte vom ersten Tag der Karwoche festgehalten worden. Jesus kennt auch das: Diese Wut über den Tod, vielleicht auch die Scham darüber, ungerecht zu sein und in der Erregung gerade die zu verletzen, die am wenigsten dafür können. Gut, wenn es Menschen gibt, die das aushalten. So wie die Jüngerinnen und Jünger, die - zumindest an diesem Tag vor Jesu Tod in Jerusalem - bei ihrem Herrn geblieben sind.

So kann die Geschichte von Jesus, der einen Feigenbaum verflucht, trösten. Jesus kennt Zorn. Kennt auch Wut. Zeigt, dass das sein darf.

Am Ende eines Lebens sind keine moralischen Appelle angebracht. Sterbende sollte man nicht erziehen. Wer weiß, wie es mir einmal geht, wenn das Ende meines Lebens kommen wird. Ich wünsche mir dann Menschen an meiner Seite, die verständnisvoll sind. Die mich, hoffentlich, lieben können. Zumindest ertragen mögen.

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SWR Kultur Wort zum Tag

02APR2025
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Im letzten Jahr musste ich ins Krankenhaus. Zwei Tage nur. Doch manche Szenen haben sich mir tief eingeprägt: Eine Frau, die aus dem Arztzimmer kommt, der fragende Blick ihres Partners, Tränen, eine unbeholfene Umarmung. Menschen mit Gehhilfen, die sich mühsam durch den Gang schleppen. Patientinnen, die bang auf ihre Operation warten.  

Wie sehr wir daran leiden, wenn es uns persönlich trifft. Oder, was noch schlimmer ist: wenn das Liebste, der nächste Mensch, krank wird.

Wenn ich einen Menschen liebe, der so leidet, erkenne ich auch im gequälten Gesicht eine Schönheit. Das ist wohl Gottes Blick auf uns, seine Menschen. Jeder Mensch eine zerbrechliche Schönheit. Manchmal, wenn wir jemanden lieben, der krank ist und gefährdet, und uns ängstigen um sein Leben, dann spüren wir in unserer Liebe und Sorge etwas von Gottes Liebe zu uns Menschen. Unsere Liebe hängt ja nicht von der Perfektion ab, sondern an dem Menschen, der zu mir gehört.

„Hätte Gott das nicht anders machen können“, hat mich mein Sohn einmal gefragt, als er ein Kind war. „Hätte er Menschen nicht anders machen können? Perfekt zum Beispiel?“ „Nein, mein Schatz“, habe ich geantwortet, „er wollte es wohl so“. So zerbrechlich. So fragil. Und so schön. Wir sind keine Götter, wir sind Menschen. Und damit sterblich.

Hätte er das nicht anders machen können? Ja, manchmal frage ich das auch, wie mein Kind damals. Hätte er sich nicht perfekte Menschen erschaffen können? Nicht so schwach, nicht so – menschlich? Ist seine Liebe nicht verschwendet an Wesen, die eine Krankheit entstellen und töten kann?

Offenbar wollte er es so, auch wenn es manchmal nur sehr schwer zu ertragen ist. Das Leben kann man nicht absichern. Es ist ein Geschenk. Nicht für die Ewigkeit, es ist für die Gegenwart.

Wenn ich das aushalten mag, dann kann, mitten in der Zerbrechlichkeit des Lebens, eine Stärke der eigenen Art entstehen. Wenn ich das Leben als Geschenk sehe, gerade so wie es ist, nicht perfekt, sondern arm, bedürftig, verwundet, und trotzdem gerade so lebendig und schön, dann kann sich Schwäche in Stärke verwandeln.

Wenn ich die Linien der Zerbrechlichkeit meines Lebens nachziehe, dann führen mich diese Linien stets weiter zu anderen Menschen, die mich trotzdem lieben. Und trösten. Und sie führen mich zu Gott.

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SWR Kultur Wort zum Tag

01APR2025
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Im Januar haben wir meine Mutter zu Grabe getragen. Ein trüber Tag. Immerhin: Als ich, die Urne im Arm, mit meiner Familie zum Grab gelaufen bin, hat es kurz nicht geregnet.

Die meisten Menschen sagen, dass meine Mutter und ich uns sehr ähnlich gesehen haben. Offenbar hat sie mir einen guten Schwung ihrer Gene weitergegeben: die Form meiner Nase und die Farbe meiner Augen, meine Gesichtsform und die Füße - alles genau festgelegt. Wie einzelne Buchstaben in einem Alphabet. Aber dann formt das Leben aus Buchstaben Worte und aus den Worten bilden sich Sätze. Mit den Jahren entsteht daraus ein Buch. Das Buch des Lebens. Ich schreibe auf seinen Seiten, andere Menschen tragen sich ein, schreiben mit an meiner Lebensgeschichte. Ich glaube: auch Gott schreibt mit. Ich weiß, an manchen Tagen ringe ich um die richtigen Worte, suche nach einem Inhaltsverzeichnis, weiß nicht, in welchem Kapitel ich gerade bin und wie die nächste Seite aussehen soll und kann. Den Tod meiner Mutter hatte ich an diesem Tag auf dieser Lebensseite nicht erwartet, und doch war es so.

Ein außerordentliches Buch. Mein Lebensbuch, und doch haben viele mitgewirkt, es trägt viele Handschriften. Ich bin zwar die Autorin, aber nicht die einzige, von Anfang an sind andere Menschen beteiligt und so gehört mir zwar mein Lebensbuch und doch gehört es mir nie ganz.

Bei der Trauerfeier hat der Pfarrer die Lebenslinien meiner Mutter nachgezeichnet. Ich habe mich erinnert, wieviel Seiten meines Lebens von meiner Mutter geprägt worden sind. Und ich habe mich gefragt, wieviel Seiten für mich wohl noch geschrieben werden. Irgendwann wird die letzte Seite aufgeschlagen.

Beim gemeinsamen Essen nach dem Gottesdienst haben wir vom Leben meiner Mutter erzählt. Und ihre Freundinnen und Kollegen haben Geschichten beigetragen, die ich zum Teil noch gar nicht kannte. Ich habe gemerkt, wie spannend es ist, aus dem Lebensbuch eines Menschen zu hören. Sogar dann, wenn ich meine, diesen Menschen besonders gut gekannt zu haben. Jeder Mensch bleibt geheimnisvoll. Für sich, für andere. Nur Gott kennt jedes Wort.

Buchstaben des Lebens. Auf dem Familiengrabstein stehen die Namen meiner verstorbenen Verwandten, bald wird der Steinmetz den Namen und die Lebensdaten meiner Mutter eingravieren. Gold auf schwarzem Marmor. Die Daten eines Menschen. Das Buch ihres Lebens ist an einem anderen Ort aufbewahrt.

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SWR Kultur Wort zum Tag

31MRZ2025
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Sie ist eine der bekanntesten und wirkmächtigsten Erzählungen der Bibel: Der Sündenfall. Im Paradies. Ein Mann, eine Frau, ein Garten mit zwei besonderen Bäumen. Verbotene Früchte. Und eine verführerische Schlange. Natürlich ging es nicht um die Frucht an sich.  Es gab genügend anderes Obst im Garten. Es war dieses Versprechen der Schlange: „Ihr werdet sein wie Gott“ Die Schlange hatte sogar noch eins draufgesetzt: „Ihr werdet wissen, was gut und böse ist“. Dieser Kombination aus Allmacht und Allwissenheit konnten die ersten Menschen nicht widerstehen. Sein wie Gott – das ist bis heute verführerisch. Diktatoren tun gern so, als seien sie wie Gott. Allmächtig.

Die Bibel erzählt: Gott wirft die ersten Menschen aus dem Paradies, um das Schlimmste zu verhindern. Sie sollen nämlich nicht auch noch vom Baum des Lebens essen und unsterblich werden. Eine alte Geschichte – für mich hat sie eine tiefe Weisheit. Und ich finde sie verblüffend tröstlich, obwohl die Angelegenheit für die ersten Menschen scheinbar fatal endet.

Tatsächlich tröstet es mich sehr, dass wir Menschen sterblich sind – gerade im Blick auf die Diktatoren dieser Welt. Es wäre doch grauenhaft, wenn sie ewig leben würden. Gott sei Dank konnte noch kein Geld und keine Macht der Welt die Unsterblichkeit erkaufen. Ich danke Gott dafür, dass er damals rechtzeitig die Reißleine gezogen hat.

Die Schlange hatte übrigens gelogen. Jedenfalls hatte sie nur die halbe Wahrheit erzählt, und das ist in der Regel besonders schlimm.

Denn die Menschen hatten zwar gelernt, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, doch das mit der Allwissenheit hatte nicht geklappt. So erklärt die biblische Geschichte, dass jede Entscheidung über Gut und Böse immer ein bisschen unscharf bleibt. Einfach, weil sie nicht über die menschliche Perspektive hinauskommt. Den kompletten Überblick haben wir Menschen nie. Mit meinem Patenonkel, einem sehr klugen Richter, habe ich mich oft über die Grenzen menschlichen Richtens unterhalten. Der Grundsatz „In dubio pro reo“ war ihm wichtig. Im Zweifel für den Angeklagten, auch wenn womöglich viele Indizien gegen ihn sprechen. Auch der beste Richter ist nicht Gott. Mein Patenonkel hat das als Christ sehr ernst genommen. Er fühlte sich einem demokratischen Rechtssystem verpflichtet. Schrecklich sind dagegen Richter, die sich einbilden, auch noch über Leben und Tod richten zu dürfen. Im Grunde, finde ich, ist jedes Todesurteil eine Gotteslästerung.

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SWR Kultur Wort zum Tag

27NOV2024
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Alles ist erlaubt, das ist kein Kampfruf aus den 1968er Jahren der Studentenrevolte. Alles ist erlaubt, sagt der Apostel Paulus im 1. Korintherbrief. Sogar zweimal schärft er es ein: Alles ist erlaubt.

Bibelkundige Hörerinnen und Hörer werden einwenden, dass es bei Paulus mit einer Einschränkung weitergeht! Nämlich: Alles ist erlaubt, doch nicht alles baut auf, alles ist erlaubt, doch nicht alles dient zum Guten. Also wird es unter Christenmenschen nichts mit der großen Freiheit? Ich finde, dass der Apostel Paulus in diesem Fall eine sinnvolle Warnung ausspricht. Paulus sieht klar, dass jede Freiheit immer doppelt gefährdet ist. Nicht nur dann, wenn sie ängstlich vermieden wird – so wie es die 68er ihren Eltern vorgeworfen haben, sondern auch dann, wenn sie rücksichtslos ausgenutzt wird.

Ihre Freiheit können Menschen verspielen. Man braucht nämlich schon Mut zur Freiheit. Noch mal zu den 68ern: Nach dem Krieg hatten sehr viele Menschen in der Bundesrepublik wenig Lust, sich mit der nationalsozialistischen Vergangenheit auseinanderzusetzen. Die 68er haben sehr zu Recht den Muff unter den Talaren beklagt – und damit waren nicht nur die Talare der Universitätsprofessoren, sondern auch die der Richter gemeint, die oft genug eine dunkelbraune Vergangenheit hatten. Wer damals nachgehakt und nachgefragt hat, ist schnell unter Druck geraten. Es hat Mut gekostet, den Mund aufzumachen. Das ist bis heute so.

Die Freiheit, zu der Paulus ermutigt, ist aber auch gefährdet, wenn sie als Vorwand dient, sich alles herauszunehmen. Wenn ich mir die Freiheit anmaße, Hassposts zu senden oder andere zu bedrohen oder Gewalt auszuüben. Wenn ich mir in der Familie rücksichtslos alles herausnehme, ohne an die anderen zu denken. Wenn ich in meinen Arbeitsbeziehungen nur meine eigene Karriere verfolge. Das zerstört Beziehungen. Oft genug zerstört das sogar Leben. Deshalb lebt Freiheit davon, dass man die Freiheit anderer Menschen respektiert. Freiheit kann sich nur im lebendigen Netzwerk unserer Beziehungen frei entfalten. Freiheit funktioniert, wenn sie konstruktiv wirkt. Und gut tut.

Einfach ist die Sache mit der Freiheit nicht – ganz klar. Christliche Freiheit ist kein Geschenk, das man sich ins heimische Regal stellen kann und dann muss sie nur noch ab und zu abgestaubt werden. Für Freiheit muss man kämpfen. Mutig. Und liebevoll. In Beziehung.

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SWR Kultur Wort zum Tag

26NOV2024
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Toleranz ist alles andere als selbstverständlich. Bestes Beispiel dafür ist Jesus Christus selbst. Schon erstaunlich, dass die Bibel die Geschichte eines ziemlich intoleranten Jesus bewahrt und nicht aus dem Evangelium getilgt hat. Jesus wird in der Geschichte durchaus in einem schlechten Licht gezeigt – zumindest nicht im allerbesten. Konkret geht es um die Begegnung Jesu mit einer Frau aus der Provinz Syrien, zu Jesu Zeiten ein multikulti-Gebiet, bewohnt von Leuten, mit denen viele nichts zu tun haben wollten. Diese Frau bittet Jesus inständig, ihre kranke Tochter zu heilen. Während er unzähligen anderen geholfen hat, weist Jesus diese Frau schroff ab. Er sei nur für seine eigenen Landsleute zuständig. Und Jesus setzt sogar noch eins drauf. Man gibt das Brot schließlich den eigenen Kindern und wirft es nicht den Hunden hin, sagt Jesus. Schrecklich, ohne Mitgefühl, eine grobe Beleidigung. Ausgerechnet Jesus grenzt einen Menschen aus. Dabei hat er kurz zuvor noch viele geheilt. Allerdings Menschen, die so ausgesehen haben wie er selbst.

Die Bibel beschönigt nichts. Intoleranz ist eher angeboren als Toleranz, sogar bei Jesus. Man kann das naturwissenschaftlich versuchen zu entschuldigen. Intoleranz ist natürlich. Schon ein Säugling muss unterscheiden lernen. Es ist überlebenswichtig, dass er weiß, zu wem er gehört, wem er vertrauen darf und wem nicht, er lernt die Gruppe kennen, zu der er gehört. Glücklicherweise wird die Natur durch die Kultur ergänzt. Wenn es gut läuft, besucht das Kind später einen Kindergarten, in dem es ganz unterschiedlichen Kindern begegnet und lernt, dass es mit den allermeisten gut gemeinsam spielen kann – unabhängig von Hautfarbe und Muttersprache.

Jesus war nicht in einem solchen Kindergarten. Erst als Erwachsener hat er eine entscheidende Lektion in Sachen Toleranz bekommen. Zu seinem Glück – und zu unserem! – hat sich die Frau nicht abschrecken lassen. Sie war hartnäckig. Und schlagfertig: Auch die Hunde bekommen ein paar Brocken vom Tisch ihrer Herren ab, meint sie. Eine Frau begegnet ihm auf Augenhöhe und lässt sich nicht einschüchtern. Jesus ändert seine Haltung, er erweist der Frau Respekt. Und die Tochter wird geheilt.

Das ist die gute Nachricht. Toleranz lässt sich erlernen. Es hilft, wenn man einander auf Augenhöhe begegnet. Und dem anderen eine zweite Chance gibt. So wie die Frau aus Syrien Jesus eine zweite Chance gegeben hat.

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SWR Kultur Wort zum Tag

25NOV2024
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Eine internationale Konferenz. Eine Bibelarbeit zum Gleichnis vom Barmherzigen Samariter. Wir sind eine gemischte Gruppe, Männer, Frauen, Menschen aus Tansania, Indonesien, Deutschland. "Was berührt Euch an diesem Gleichnis?", lautet die Frage. Berührt die Geschichte mich überhaupt noch? Ich kenne sie in- und auswendig: Ein Mensch liegt verletzt am Wegesrand, viele gehen vorbei. Einer hält an, kümmert sich, sorgt für den Menschen. Wir schweigen. Dann sagt ein Teilnehmer aus Tansania: „freedom to open the heart“. Die Freiheit, das Herz zu öffnen. Das war es! Das hat es getroffen! Freedom, to open the heart.

Was braucht es, um einem anderen Menschen das zu geben, was er zum Leben oder Überleben braucht? Moralische Grundsätze? Gewiss. Das Wissen darum, dass unterlassene Hilfeleistung, jedenfalls in Deutschland, strafbar ist? Möglicherweise auch das. Eine gute Erziehung? Immer nützlich. Pflichtbewusstsein? Ja sicher. Vor allem aber: Freiheit! Eine innere Freiheit, das Herz zu öffnen. Der Tansanier hat für mich einen Kern der Geschichte mit einem Satz getroffen. Es braucht eine große innere Freiheit, um das eigene Herz zu öffnen.

Leider gibt es viel, was dieser Freiheit im Wege steht. Die Sorge darum, dass das, was mich angeht, zu kurz kommt. Eine Prioritätenliste, die scheinbar Wichtigeres auf die vorderen Plätze rückt. Jede Menge Vorurteile. Oder Gleichgültigkeit. Auf der anderen Seite steht diese große Freiheit, die hilft, das eigene Herz zu öffnen.

Mich hat der Gedanke des Mannes aus Tansania auch deshalb berührt, weil er den Fokus auf das Herz des Menschen setzt, der dem Verletzten hilft. Ich bin fast ein bisschen neidisch auf diesen Menschen. Auf seine Autonomie. So wäre ich auch gerne! Vielleicht hat Jesus diese Geschichte gerade deshalb so erzählt. Eben nicht den moralischen Zeigefinger erhoben, sondern neugierig darauf gemacht, ebenso frei zu sein wie der Barmherzige Samariter. Er macht Lust darauf, das eigene Herz zu öffnen, in aller Freiheit.

Im Rückblick bin ich dankbar für alle Menschen in meinem Leben, die so frei waren, für mich ihr Herz zu öffnen, Eltern, Freundinnen, Lehrer. Die mich überrascht haben, mit ihrer Großzügigkeit und ihrer Nachsicht. Vielleicht fallen auch Ihnen solche besonderen Menschen ein. Diesen Menschen sei an diesem Morgen gedankt und an sie gedacht. Schenke Gott uns allen den Mut und die Lust daran, es auch selbst einmal auszuprobieren. Freedom to open the heart.

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SWR Kultur Wort zum Tag

16OKT2024
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Meine Schwester und ich haben uns als Kinder immer um den Knust gestritten. So nannten wir in der Familie das Endstück des Brots, das am meisten Kruse hat. Der Knust eines frisch gebackenen Brots schmeckt einfach unfassbar lecker. Das finde ich bis heute. Schon den Geruch von frischem Brot liebe ich!

Jesus hat sich das „Brot des Lebens“ genannt. Es kommt nicht von ungefähr, dass er sich genau mit diesem Lebensmittel identifiziert. Denn für die meisten Menschen auf der ganzen Welt ist Brot eine Lebensgrundlage. Jesus will nicht exklusiv als Kaviar oder Sahnehäubchen des Lebens für manche Menschen, sondern für alle da sein und ihre Grundbedürfnisse stillen. Ich bin das Brot des Lebens, sagt Jesus. Das kann man glauben, so wie ich, oder es kann einen gleichgültig lassen. Interessant ist aber, dass dieses „Ich bin das Brot des Lebens“ in der Bibel in einem größeren Zusammenhang steht. Jesus hat einer sehr großen, sehr hungrigen Menge Menschen Brot zu essen gegeben. Und alle sind satt geworden. Beides gehört also eng zusammen, und das finde ich sehr wichtig. Auch für Menschen, die keine Christen sind. Die Welt ist erst dann in Ordnung, wenn alle Menschen satt zu essen haben und kein Mensch mehr hungern muss.

„Ich bin das Brot des Lebens“ wäre wenig wert, wenn Jesus sich nur um einen spirituellen Hunger kümmern würde, nicht aber um den leibhaftig spürbaren, beißenden Hunger, wenn man nichts zu essen hat. Also nicht dieses: Ich habe Appetit und Lust, sondern: Ich habe Hunger. Ich kenne dieses Gefühl zum Glück nur in der Kurzform. Meine Großmutter und mein Vater haben noch wirklich gehungert. Jahrelang Das ist eine ernste Sache.

Jesus kümmert sich um beides. Um den seelisch-geistig-geistlichen und um den leiblichen Hunger. Letztlich lässt sich das auch nicht voneinander trennen. Denn hungernde Menschen haben keine Zeit und keine Kraft für schöngeistige Dinge. Die Menschen, die Jesus nachgefolgt sind, die haben erst dann ihren seelisch-geistigen Hunger spüren können, als auch ihr Bauch satt geworden ist. Das Gehirn braucht für seine Arbeit auch Kalorien! Wir Menschen sind eine Leib-Seele-Einheit. Wir brauchen Brot für Leib und Seele.

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