Alle Beiträge

Die Texte unserer Sendungen in den SWR-Programmen können Sie nachlesen und für private Zwecke nutzen.
Klicken Sie unten die gewünschte Sendung an.

Filter
zurücksetzen

Filter

Datum

SWR1

     

SWR2 / SWR Kultur

    

SWR3

  

SWR4

      

Autor*in

 

Archiv

14OKT2024
AnhörenDownload
DruckenAutor*in

Erster Schultag! Nach kurzer Zeit wollte mein Sohn seinen Schulweg schon allein gehen. „Nein, das ist doch noch zu früh!“ sag ich. „Lass uns dich doch noch eine Weile begleiten. Bald ist es dann so weit, und du kannst allein gehen.“
Doch mein sechsjähriger Sohn zeigt bereits echte Verhandlungshärte. Zwei Tage nur, dann will er allein gehen! Na gut, mit einem mulmigen Gefühl gebe ich nach. Und so kommt dann viel schneller als vorhergesehen der Tag, an dem er von der Haustür weg in Richtung Schule loszieht.
Schon länger versuche ich mich gedanklich auf diesen Tag einzustellen, um meinen Sohn dann ganz souverän gehenlassen zu können. Doch an diesem ersten Morgen fühlt sich das so gar nicht souverän an. Meine Magengegend bleibt taub und schmerzt. Es ist eben doch nicht alles Kopfsache im Leben. Als mein Sohn schließlich um die Ecke biegt und nicht mehr zu sehen ist, hilft auch mein Winken nichts mehr. Jetzt muss ich also wirklich lernen loszulassen.
Loslassen. Eigentlich klingt das ziemlich einfach. Einen Ball kann man leicht loslassen, er springt auf den Boden und wieder zurück in die Hand. Bei einer Glasflasche ist das schon komplizierter. Wenn ich loslasse, zerbricht die Flasche. Aber einen Menschen loszulassen – für mich eine echte Kunst. Denn ich überlasse ihn sich selbst und kann ihn nicht mehr beschützen. Andererseits: lasse ich nicht los, bleibt er abhängig von mir und das heißt unfrei. Das will ich auf keinen Fall!
Was sich in diesen ersten Tagen in mir abspielt, ist schwer in Worte zu fassen. Da ist meine Vernunft, die klar sagt: loslassen ist lebenswichtig! Da ist aber auch meine Gefühlswelt, die meinen Sohn am liebsten festhalten und beschützen möchte. – Ich weiß, dass es anderen Eltern genau so geht. –
Mir hilft da der Glaube ein bisschen weiter. Er verbindet beide Ebenen in mir: die Vernunft und die Gefühle. Und dieser Glaube sagt mir: übe loszulassen – jeden Tag -, weil du sicher sein darfst, dass Gott da ist, der dich und deinem Sohn begleitet. Das ist keine Garantie. Für mich aber ein echter Anker.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=40853
weiterlesen...
12OKT2024
AnhörenDownload
DruckenAutor*in

„Machst du auch Trauungen unterm Riesenrad?“, so bin ich gefragt worden. Ja, ich war dabei. Zum Trau-Fest mit 80 Paaren auf dem Dürkheimer Wurstmarkt. Das erste Mal für uns als Kirche, für uns Pfarrerinnen und Pfarrer. Und für das Helferteam vor Ort. Bibel, Ballons und Segensbändchen: Alles ist gerichtet, im Weindorf, wo ich trauen darf.

Dann kommt Jasmin, ganz in Schwarz mit einem Blumenstrauß. Dramatisch geschminkt, die Haare zu Teufelshörnchen gedreht. Daneben Christian, auch edel schwarz, Gehrock, Silberstock. Gothics, Gruftis sind sie. „Echt, die Beiden traust du?“, raunt mir eine Dame aus dem Helferteam zu. Schon steht das Paar vor mir. So schwarz wie ich in meinem Talar. Christian strafft sich, Jasmin strahlt und weint zugleich. Der Moment ist ihnen heilig. Fernsehkameras und Schaulustige um uns herum sind vergessen.

"Liebe verliert nie die Hoffnung und hält durch bis zum Ende.“ Diesen Trauspruch haben die Beiden gewählt. Denn sie haben durchgehalten im 13. Jahr ihrer Ehe. Mit Krisen, Krankheiten und schließlich der Trennung. Es war zu Ende. Aber nur fast. „Wir lieben uns jetzt umso tiefer, wir fangen neu an, dazu brauchen wir Hilfe“, hat das Paar im Vorfeld gesagt. Eben darum bitten sie um Segen.

Zwei in Schwarz, bei denen viele rot sehen. Und denken, alle Gothics gleich Friedhofsschänder oder Kirchenfeinde. Aber wer sie mal kennenlernt… „Also ich muss sie beide jetzt umarmen“, sagt die Dame aus dem Helferteam, die zuvor so skeptisch war, „das war so schön, was ich über sie gehört habe, Gott segne sie!“ Jasmin schluchzt wieder. Christian drückt mich und meint „Wir sind so berührt von dieser Trauung“. Ich war es auch. Es tut einfach gut, wenn Kirche da ist, wo sie sein soll: nah bei den Menschen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=40804
weiterlesen...
11OKT2024
AnhörenDownload
DruckenAutor*in

Heute ist der internationale Mädchentag. Er erinnert an die Rolle und Rechte von Mädchen und Frauen. „Hier ist nicht Mann noch Frau“, alle sind gleich vor Gott, heißt es in der Bibel. Und ähnlich steht es in den Menschenrechten. Aber mit den Mädchenrechten steht es nicht überall gut. Viele haben keine Rechte, kennen sie nicht mal, weil sie nicht lesen und schreiben können.

Rund 140 Millionen Mädchen auf der Welt können keine Schule besuchen. Sie müssen sich Bildung erkämpfen. Wie Malala Yousafzai, geboren 1997 in Pakistan. Dort gehen damals nur die Jungen zur Schule. Aber ihr Vater, ein Lehrer, denkt fortschrittlich. Er gründet eine eigene Schule, auch für Mädchen wie seine Malala. Als sie zehn Jahre alt ist, ergreifen die radikalislamischen Taliban die Macht, zerstören Schulen und verbieten es - bei Strafe - Mädchen zu unterrichten.

Malala und ihr Vater lassen sich nicht einschüchtern. Sie kämpfen weiter für das Recht jedes Kindes auf Bildung. Dann ein Attentat: Auf Malala wird geschossen, ein Schuss trifft direkt in ihr Gesicht. Sie überlebt, wie durch ein Wunder. Die Welt ist entsetzt über den Anschlag auf ein 15jähriges Mädchen und mit ihr solidarisch. Malala wird noch mutiger, ihre Stimme noch lauter. Genau vor 10 Jahren, 2014, erhält sie den Friedensnobelpreis. Als jüngste Preisträgerin mit nur 17 Jahren.

Mädchen, Frauen – wir Frauen - können vieles erreichen, wenn wir denn dürfen. Dazu sollten wir nicht gegen Männer kämpfen müssen, sondern mit ihnen gemeinsam. Um das gleiche Recht für alle. Das Recht auf Bildung und Selbstbestimmung. Der Welt-Mädchentag heute erinnert daran: Mädchenrechte sind Menschenrechte.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=40803
weiterlesen...
10OKT2024
AnhörenDownload
DruckenAutor*in

Mit Mechthild Werner, guten Morgen. „Sie wollen zu mir?“, eine Dame streckt den Kopf aus der Tür. „Nein, ich hab bei meiner Mutter geklingelt“, sage ich. Vor deren Tür stehe ich nämlich im Seniorenstift. Scheinbar hört sie mein Klingeln nicht. Dafür aber die Nachbarin im Appartement nebenan.

„Ich bin Papelmann“, sagt sie durch den Türspalt, „Ihre Frau Mutter ist nicht da, sie ist beim Sport…denke ich…“, sie fährt sich durch die graulila Haare, „ich vergess ja vieles, wissen Sie, ich bin… Ach, Sie können doch bei mir warten, komm Kindchen…“, und schon werde ich hineingezogen. In die Tür und in ihr Leben.

„Na ja, Kindchen bin ich nicht mehr“, sag ich lachend zu Frau Papelmann, die jetzt in Gänze vor mir steht. Lila Haare, Bluse im Leopardenprint, wild wie ihr Blick. Wild entschlossen. „Setzen. Wir trinken was, Kindchen. Gott, wie lang war niemand hier! Da machen wir gar nicht lang rum.“ Zwei Kristallgläser Sekt später weiß ich alles. Zumindest einiges über die Dame auf dem Plüschsofa. Boutiqueverkäuferin war sie. Schönes Haus, netter Mann - früh verwitwet, lang allein gelebt. Bis der Sohn meint, so geht´s nicht mehr, Mama.

„Seitdem sitz ich hier“, sie räuspert sich. „Ich vergess´ viel, aber nie, wie gut´s mir geht. Ja, mit dem da oben im Himmel red´ ich, dass er mich auch erstmal vergessen darf. Aber wenn er mich ruft, soll er nicht lang rum machen.“ „Ihr Wort in Gottes Ohr“, lache ich, „aber jetzt muss ich rüber zu meiner Mutter.“ „Welche Mutter?“ Frau Papelmann ist mit dem Vergessen vertraut. Und mit Gott. „Ich hasse wirklich Leute, die lang rum machen“, meint sie noch in der Tür, „aber der da oben wird´s schon richtig machen.“ Was für ein Gottvertrauen, denke ich, mache nicht lang rum und klingle bei Mama.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=40802
weiterlesen...

Anna und Ludwig Haber haben in der Schwerdstraße gewohnt, ganz in der Nähe von meinem Büro. Ich bin schon oft an ihrem Haus vorbeigekommen. Die beiden wohnen schon längst nicht mehr hier, seit 1939. Da wurden sie gezwungen, ihr Haus zu räumen. Schon vorher hatten sie versucht, aus Deutschland zu fliehen. Nach den Novemberpogromen 1938 wollten sie nach Frankreich ausreisen. Aber man ließ sie nicht mehr gehen. Es war zu spät.

Ich weiß nicht genau, was mit Ludwig und Anna in diesen Novembertagen im Jahr 1938 geschehen ist. Haben Unbekannte ihr Wohnhaus beschmiert und die Fenster eingeschlagen? Ihre Gerberei verwüstet, die seit fast 50 Jahren in Familienbesitz war? Haben Fremde Ludwig zusammengeschlagen und Anna gedemütigt auf den Straßen, auf denen ich heute gehe? Oder waren es doch eher Nachbarn, Geschäftspartner, Bekannte, die ihnen das angetan haben?

Was auch immer genau passiert ist: Wahrscheinlich waren es Nachbarn, Mitbürgerinnen, Bekannte, die es getan haben. Und ganz sicher waren es Nachbarinnen, Mitbürger und Bekannte, die dabei zugesehen haben. Sie haben Ludwig und Anna gedemütigt, bedroht und gequält. Einfach, weil sie Juden waren. Dort, wo Anna und Ludwig Haber früher gewohnt haben, ist heute ein goldener Stolperstein in das Pflaster auf dem Gehweg eingelassen. Nur deshalb weiß ich, wie sie hießen und dass sie hier lebten. Dass ihre Mitmenschen sie leiden ließen. Und dass sie schließlich in Auschwitz ermordet wurden. Ein paar Häuser weiter hängt unter einem Fenster eine Fahne im Regen. „Nie wieder ist jetzt“ steht darauf. Und ich frage mich, ob es wieder passieren könnte, dass ganz normale Leute, so wie Sie und ich, zuschauen, wie ihre Nachbarn oder Bekannten bedroht und gedemütigt werden. Und mit den Schultern zucken. Und sagen: „Ich halt mich da besser raus.“ Ich fürchte, es ist schon ganz oft so. Und ich hoffe, wir werden aufmerksam und mutig genug sein, um das zu verhindern: Dass wir eines Tages im Novemberregen stehen und feststellen: Es ist zu spät.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=40865
weiterlesen...
09OKT2024
AnhörenDownload
DruckenAutor*in

Ich hab´s getan. #PORTO YCN8RNZU. Das hab ich auf´s Briefkuvert geschrieben: Eine digitale Briefmarke. Superpraktisch und superschade, wenn ich die nackten Zeichen sehe. Ohne schöne Marke. Dabei gibt´s heute, am 9. Oktober, so einige Briefmarken-Ausstellungen. Denn bei uns und in 150 Ländern wird Weltposttag gefeiert. Sogar mit einem internationalen Briefschreibe-Wettbewerb für junge Leute. Wow. Wer schreibt noch Briefe?

Ich, aber ich bin auch nicht mehr jung. An Freunde schreib ich gern Briefe oder Karten. Auch an meine briefverrückte Tante, die sich freut, wenn ein Kuvert aus ihrem Briefkasten fällt. Die mir postwendend mit Gedichtzeilen antwortet, die ich entziffern darf. Ja, Briefe lesen und schreiben braucht Zeit und Liebe. Klar mag ich auch die schnellen Chats und Emojis, aber noch mehr diese altmodische Schnecken-Post. Wo wären wir auch ohne sie?

Ohne Post keine Liebesbriefe – davon hüte ich noch eine Schatzkiste voll. Und: Ohne Post keine Bibel. Sie ist voller Briefe von Apostel Paulus und anderen. Die Christengemeinden waren schon damals in aller Welt zerstreut. Da sind Briefe von Israel nach Italien, Griechenland, in die Türkei gegangen, um sich auszutauschen über Glauben, Hoffnung, Liebe. Per Schiff, über den Seeweg. Das hat x mal länger gedauert als heutige News, aber die Verbindung ist nie abgerissen.

Bis heute sind Briefe Gedanken-Übertragung. Langsam und nachhaltig. Gedanken und Gefühle laufen vom Kopf über´s Herz in die Hand auf´s Papier. Zeilen, die in Ruhe geschrieben und immer wieder gelesen werden können. Dazu schöne Briefmarken. Am besten oldschool: mit viel Liebe und Spucke aufgeklebt. Heute am Weltposttag hol ich mir wieder welche.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=40821
weiterlesen...

Der November ist für Familien mit kleinen Kindern der schlimmste Monat, findet Karo. Wenn das Wetter zu mies wird und sie die Kinder nicht einfach zum Spielen rausscheuchen kann. Aber fürs Plätzchenbacken ist es noch zu früh. Und andauernd nur Basteln mit den Kids – das hält ja keiner aus.

Also hat Karo ihren Kindern einen Besuch im Schwimmbad versprochen. Während sie in der großen Kommode nach den Badesachen sucht, verflucht sie sich selbst dafür. Sie hat wenig Lust auf den Chlorgeruch und die Umzieherei. Das Bespaßen der Kinder im Nichtschwimmerbecken, das elende Haareföhnen hinterher. Aber die Kinder freuen sich drauf. Was tut man nicht alles. Karo greift nach der bunten Strandtasche. Die hat sie nach dem Sommerurlaub schnell in der Schublade verstaut – da müssten die Taucherbrillen der Kinder noch drin sein. Sie öffnet die Tasche und findet ein kleines Sammelsurium: Nicht nur die Taucherbrillen, auch noch eine fast leere Flasche Sonnenmilch, ein paar Muscheln, die die Kinder am Strand gesammelt haben. Und Sand. Der Duft der Sonnenmilch steigt ihr in die Nase.

Und sofort hat Karo den Strand vor Augen. Wie sie auf ihrem Handtuch liegt, die Füße im warmen Sand. Wie ihr Mann mit den Kindern im Wasser herumspringt. Karo nimmt eine Muschel in die Hand, befühlt ihre sandigen Rillen, riecht den salzigen Meergeruch. Und hört wieder das Rauschen des Meeres. Sie denkt daran, wie das Meer sie immer beruhigt. Die Weite, der beständige Wechsel von Ebbe und Flut, das gleichmäßige Rauschen. Am Meer fühlt sie sich immer verbunden mit dem, was größer ist als sie, und ihre Alltagssorgen werden ganz klein. Am Meer spürt sie etwas von der Ewigkeit, in der ihre eigene Zeit eingebettet ist. Die Kinder drängeln, sie wollen endlich los. Karo nimmt die Taucherbrillen und stopft die Strandtasche samt Sonnenmilch und Sand wieder in die Schublade. Aber die Muschel steckt sie in ihre Hosentasche. Ihre kleine Erinnerung an das weite Meer. An das Ewige. Das beständig bleibt im Wechsel der Zeiten. Das immer da ist, auch jetzt. Und auf sie wartet.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=40864
weiterlesen...
08OKT2024
AnhörenDownload
DruckenAutor*in

Ich glaube, ich hab Jesus getroffen. Am Kiosk im Speyerer Bahnhof. Dort stehe ich, will mein Wasser zahlen. Meine S-Bahn fährt gleich, ich hab’s eilig. Nur noch ein Mann vor mir, mit Beinschiene und Krücke. Als er dran ist, drängelt jemand rein – ein älterer Mann mit Hut – greift eine Zeitung vom Tresen.

„Hej, ich war dran“, empört sich der Mann vor mir, „dabei sind Sie doch alt, Sie haben Zeit!“ „Hab Sie nicht gesehen“, murmelt der Hutmann über die Schulter. „Ach was, ich komm Ihnen gleich hin“, ruft der mit Krücke und rückt bedrohlich vor. Der mit Hut wird nun auch laut: „Ich hab Sie nicht gesehen da hinten.“ Er dreht sich um. Er trägt eine Augenklappe und droht: „Ich bin alt, aber ich war Boxer. Sehen Sie das?“ Er hält dem Krückenmann seinen Bizeps vor die Nase.

Gerade will ich dazwischen, da sagt der junge Mann an der Kasse: „Moment, ich hätte ja sehen müssen, wer dran ist. Tut mir leid. Schauen sie sich an, sie haben es ja Beide nicht leicht.“ Die Beiden schauen sich nicht direkt an. Aber der Mann mit Hut lässt die Arme sinken, tippt kurz auf seine Augenklappe und geht. Der mit Krücke flucht nur noch leise vor sich hin. Und ist nun endlich dran.

Meine S-Bahn ist weg, aber ich bin erleichtert. Wie gut, wenn sich Menschen gesehen fühlen – selbst in ihrer Wut. „Schauen sie sich an, sie haben es Beide nicht leicht“, das hat er gesagt, der Verkäufer im Kiosk. Jetzt steh ich vor ihm. „Noch was, nur das Wasser?“, fragt er. „Nur das Wasser“, sage ich, „nein, noch etwas: Das war ganz groß von Ihnen, die Zwei zu beruhigen“. „Ach was“, meint er, und strahlt „das hätt doch jeder gekonnt, ich bin ja nicht Jesus“. Nun, ich bin mir da nicht so sicher.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=40801
weiterlesen...

In meiner Familien-WhatsApp-Gruppe war viel los in letzter Zeit. Meistens begann es mit einem Foto, das meine Mutter geschickt hat und der Frage: „Will das noch jemand haben, oder kann das weg?“ Denn meine Eltern ziehen um. Das Haus, in dem ich aufgewachsen bin, wurde ihnen zu groß. Sie verkleinern sich. Also muss sortiert und ausgemistet werden, was sich über Jahrzehnte angesammelt hat.

Bei meinem letzten Besuch stöhnte meine Mutter: „Kein Mensch braucht fünf verschiedene Sorten Geschirr, aber das sind alles Erbstücke. Die kann ich doch nicht einfach wegwerfen!“ Und so haben wir alles aus den Schränken geholt und betrachtet: Das gute Geschirr mit dem Goldrand, das wir nur an Weihnachten benutzt haben; ein Sammelservice von meiner Mutter und zwei von meinen Großmüttern; unzählige Teller, Suppentassen und Schüsseln stapelten sich um uns herum.

Es war nicht leicht, die Sammlung aufzulösen. Denn jedes Teil hat seine eigene Geschichte. Am Ende haben wir uns für einzelne Stücke entschieden, die ihren Platz in der Familie behalten sollen. Die Kaffeekanne in Indisch-Blau steht jetzt bei meinem Bruder in den USA. Meine Schwägerin in Berlin hat das alte Bergische Kaffeegeschirr übernommen. Und ich habe das Teeservice mit den zartblauen Streublümchen drauf von Oma Ilse. Und auch noch zwei winzige Tellerchen mit bunten Blüten, die Oma Kathi gehörten. Die waren wohl dafür gedacht, Pralinen darauf zu servieren. Ich bin eigentlich kein Typ für florale Muster. Aber es gibt mir ein warmes Gefühl, wenn ich daran denke, dass Oma Ilse die Blümchen so sehr mochte. Oder wenn ich mir vorstelle, wie Oma Kathi sich genüsslich eine einzelne Praline auf das kleine Tellerchen legte.

„Prüft alles, und behaltet das Gute“, rät der Apostel Paulus einmal seinen Leuten (1. Tim 5,21). Vielleicht gilt das auch für Erinnerungsstücke. Man kann nicht alles ewig mit sich herumschleppen. Aber es ist schön, ein paar besondere Dinge zu bewahren, die sich mit einem vertrauten Namen und einem warmen Gefühl verbinden.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=40863
weiterlesen...
07OKT2024
AnhörenDownload
DruckenAutor*in

„Mama, da ist ein Einhorn“, ruft eine helle Stimme neben mir am Tisch im Café. Das dazugehörige Mädchen, vielleicht fünf Jahre alt, schwingt ihre Flechtzöpfe und ist wahrlich aufgeregt. „Ein echtes Einhorn, guck doch mal!“ Und schon ist sie verschwunden, die Kleine. „Wer Augen hat zu sehen, der sehe“, heißt es in der Bibel. Aber manchmal trau ich meinen Augen nicht.

Ich sitze mitten in Speyer, auf der Maximilianstraße - und ein Mädchen samt Einhorn wird vermisst. Hab ich geträumt? Nein, denn die Mama ruft jetzt unter den Tisch: „Komm wieder hoch, Anne, was soll das…“ Mama redet weiter mit ihrer Freundin, versucht es zumindest. „Also guckst du jetzt oder nicht“, ruft die Stimme – noch immer unterm Tisch.

„Da ist kein Einhorn zu sehen“, lacht Mama „da unten siehste schon gar nix.“ „Doch, von hier musst du gucken, Mamaaa!“. Die aber will sich weiter unterhalten. Und zwinkert der Freundin zu: „Kinder, was die alles sehen.“ „Nur weil du nie richtig hinguckst“, motzt es von unten. „Na gut“ jetzt bückt sich Mama untern Tisch. „Guck, ganz da oben,“ die Tochter zeigt gen Himmel. „Ja, echt, da sitzt eins“, Mama ist verblüfft, „auf der Apotheke“.

Tatsächlich. Jetzt sehe ich’s auch. Zum ersten Mal. Hoch oben auf dem Giebel thront es: Das Einhorn. Ein Einhorn-Kopf zumindest. Eine Skulptur vor stahlblauem Himmel. „Siehste, Mama“, die Kleine kommt mit rotem Gesicht nach oben, „du glaubst mir oft nicht“. „Hast recht, Anne“, lacht Mama und umarmt sie, „du siehst oft was, was ich nicht seh´“. Tja, Kinder sind Augenöffner für so manche Dinge zwischen Himmel und Erde, denke ich. Und muss grinsen, denn ich weiß nun endlich, warum die Apotheke Einhorn-Apotheke heißt.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=40800
weiterlesen...