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04MAI2024
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Mein Vater ist 89 Jahre alt. Das glaubt keiner, weil er viel jünger aussieht. Und weil er noch immer neugierig und wach ist. Auch im hohen Alter ist er offen für neue Erfahrungen. Das macht es für ihn aber nicht immer einfach: So wie kürzlich, als wir gemeinsam in einem Konzert waren. Es hat meinen Vater begeistert, wie der junge Pianist Beethovens 3. Klaviersonate interpretiert hat. „So frisch und jugendlich habe ich diese Sonate noch nie gehört“, hat er dann zu seiner Nachbarin im Konzertsaal gesagt. Die hat ihn entgeistert angeschaut und geantwortet: „Respektlos könnte man auch sagen“. Mein Vater war noch Tage später irritiert, welches Urteil sich die Dame über den jungen, begabten Künstler erlaubt hat.

Mein Vater ist offen und direkt und kann gleichzeitig sehr reflektiert auf sein langes Leben zurückschauen. Junge Menschen hören ihm auch deshalb gerne zu. Ich merke, wie gut ihm solche Situationen und so ein Austausch tun. Denn: Alt werden ist auch für ihn keine leichte Aufgabe. Vor Jahren habe ich das schon einmal mit meiner Mutter intensiv erlebt. Jetzt begleite ich meinen Vater dabei. Es ist schwer für ihn, dass seine Kräfte nachlassen, obwohl sein Verstand noch so wach ist. Das kleine Gartenbeet vor der Garage kann er plötzlich nicht mehr pflegen. Die Getränkekisten lässt er im Eingang stehen, bis jemand kommt, der sie in den Keller tragen kann. Für die Steuererklärung braucht er viel länger als früher. Wie schwer ihm das fällt, kann nur verstehen, wer sich in ihn hineinversetzt. Sieht man die Fakten denkt man schnell: Na so schlimm ist das nun wirklich nicht. Für ihn ist es schlimm, weil er sich langsam von seinen Kräften verabschieden muss. Außerdem ist ihm jeden Tag bewusst, dass der Tod nahe ist. Eben ohne genau zu wissen, wann er sterben wird.

Solange er noch so für sich sorgen kann, wie er das jetzt tut, ist das ein großes Glück. Alles, was doch noch geht, ist schön, nicht selbstverständlich: Die vielen Treppen steigen, in dem Haus, in dem er seit 55 Jahren wohnt. Selbst noch mit dem Auto einkaufen fahren können. Den Sommerflieder und die Hortensie vor dem Haus im Herbst schneiden. Ich wünsche ihm, dass er oft dabei denken kann: Danke! Dass das immer noch geht, auch wenn ich schon fast 90 bin.

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03MAI2024
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Da wo ich wohne, hat jemand auf einen geteerten Feldweg mit Kreide geschrieben: „Jesus ist toll. Jesus ist für uns am Kreuz gestorben, Jesus lebt.“ Und das auf einer Länge von etwa einem Kilometer. Was die Sätze für den Schreiber bedeuten, weiß ich nicht. In den zehn Minuten, in denen ich über diese Sätze gelaufen bin, ist mir meine eigene Geschichte mit Jesus und dem Kreuz durch den Kopf gegangen: In den 63 Jahren meines Lebens ist Vieles schwierig gewesen und oft hat mich das Kreuz getröstet. Trotzdem habe ich mir immer wieder gewünscht, dass das Leben aufhört schwierig zu sein. Ich wollte sorglos und glücklich sein. Manche Erinnerungen an schwere Zeiten hätte ich am liebsten aus meinem Gehirn gelöscht. Zum Beispiel die Erinnerung an meine Schwangerschaft. Ich war damals noch sehr jung, hatte gerade angefangen zu studieren. Ich könnte viel darüber erzählen, was mich damals belastet hat. Das ist lange vorbei und heute bin ich froh, wie alles geworden ist: Mein Sohn ist ein wunderbarer Mann und Vater. Er ist lebenstüchtig, gesund. Ein ehrlicher Mensch. Und wir haben eine gute Beziehung zueinander. Er wirft mir nicht mehr vor, was ich als Mutter alles versäumt habe. Alles gut, könnte ich sagen. Wenn ich nicht immer wieder in bestimmten Situationen traurig wäre. Zum Beispiel wenn ich sehe, wie aufmerksam er mit seinem kleinen Sohn ist. Das konnte ich damals mit ihm so nicht sein.

Mir hilft es dann, wenn ich mit meinem alten Vater darüber spreche. Er ist 89 und stellt auch für sich fest, dass alles, was er jemals erlebt hat, bleibt. Je älter er wird, desto intensiver ist die Erinnerung an seine Kindheit und Jugend. Alles ewig vorbei und doch ist Vieles so präsent, als wäre es gestern gewesen. Wenn er das so erzählt begreife ich einmal mehr: Nichts geht verloren. Kein Glück und keine Freude, aber auch keine Traurigkeit und kein Schmerz. Ich habe gelernt zu würdigen, dass ich gewachsen bin mit allem, was schwierig war. Der gekreuzigte Jesus ist für mich dabei ein hilfreiches Bild. Die Not, der Schmerz - auch das ist Leben.

Als die Kreide-Sätze auf dem geteerten Feldweg zwischen den Äckern vor meinem Wohnort aufhören, schaue ich zurück. Sehr dankbar für alles.

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02MAI2024
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Ich hatte immer Angst vor Prüfungen. Ganz schlimm waren mündliche Prüfungen. Ich seh mich noch als wäre es gestern gewesen. Beim mündlichen Abitur in meinem braunen Kleid. Alles, was ich gelernt hatte, war wie weggeblasen. Später dann, im Theologiestudium, hatte ich viele mündliche Prüfungen. Einer der Professoren war noch dazu bei allen Studierenden gefürchtet. Ich wusste: Mit so viel Angst würde ich die Prüfung nie bestehen. Damals habe ich entschieden, in die Sprechstunde des Professors zu gehen. Ihm zu sagen, dass ich Angst vor ihm habe und dass mir dann nichts mehr einfällt. Es war eine gute Entscheidung, mit ihm zu sprechen. Mein Mut hat ihn beeindruckt. Er hat mir zugehört und war freundlich. Auch in der Prüfung. Und ich konnte zeigen, was ich in seinem Fach verstanden hatte.

Diese Erfahrung war wegweisend für mich. Als junge Studentin habe ich es noch als Schwäche empfunden, dem Professor von meiner Angst zu erzählen. Ich habe mich dafür geschämt. Später habe ich erkannt, wie mutig und stark ich damals war. Ich bin zu mir gestanden.

Heute weiß ich, dass es eine meiner Stärken ist, zu Menschen ehrlich zu sein. Anzusprechen, was los ist, obwohl etwas manchmal nur unterschwellig im Raum steht. Direkt etwas zu benennen und nicht um den heißen Brei zu reden. Nicht nur, wenn es um mich selbst geht, wie damals vor der Prüfung. Ich mache das heute zum Beispiel auch im Gespräch mit Kollegen. Einer, mit dem ich viel zusammengearbeitet habe, hat mit der Zeit immer verwahrloster und unglücklicher ausgesehen. Ich habe ihn direkt darauf angesprochen und offen gefragt, wie es ihm geht. Ohne zu urteilen. In diesem Fall war der Kollege dankbar und hat erzählt, was ihn bedrückt. Anschließend hat er sogar den Mut gefunden, sich Hilfe zu holen.

Direkt und ehrlich bin ich aber nicht nur im Konfliktfall. Ich habe mir auch angewöhnt, anderen zu sagen, was ich an ihnen mag oder wenn mir etwas gut tut. Das sage ich manchmal sogar Menschen, die ich gar nicht kenne. So wie vor kurzem der Verkäuferin an der Käsetheke, weil sie mich ausgesprochen freundlich bedient hat. Sie hat gelacht und sich für das Kompliment bedankt. Es war ein schöner Moment – für uns beide.

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01MAI2024
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Heute ist Feiertag. Viele können sich am Tag der Arbeit Zeit nehmen; um auszuruhen oder um sich an den Kundgebungen zum 1. Mai zu beteiligen. Ich möchte heute von Menschen erzählen, die sich bei ihrer Arbeit eine ganze Menge gefallen lassen müssen. Dafür aber nicht auf die Straße gehen.

Mir fällt ein Busfahrer aus Tübingen ein. Er erzählt, dass er alle Fahrgäste freundlich grüßt, wenn sie in seinen Bus steigen. Und ist schockiert, weil immer weniger Leute seinen Gruß erwidern. Er wünscht sich, dass die Leute auch ihn anschauen und grüßen, weil sie ihm so nah kommen in seinem Bus auch wenn es nur für ein paar Minuten ist.

Und ich denke an den Koch in unserer Schulmensa. Er kocht gerne. Kommt oft in den Speisesaal um zu fragen, ob es den Kindern schmeckt. Und muss dann zum Beispiel erleben, wie sich ein Junge den Quark vom Nachtisch ins Gesicht schmiert und Grimassen macht. Der Koch fragt ihn noch, warum er das tut. Aber der Junge streckt ihm nur die Zunge raus. Der Koch geht kopfschüttelnd in die Küche zurück. Eine Erzieherin sorgt immerhin dafür, dass der Junge den Koch um Entschuldigung bittet.

Oder die Sprechstundenhilfe in einer Arztpraxis. Sie hat alle Hände voll zu tun. Zwei Notfälle innerhalb einer Stunde haben den ganzen Behandlungsplan zerhauen. Einem der Patienten fällt nichts anderes ein als die Sprechstundenhilfe zu beschimpfen und ihr lautstark Vorwürfe zu machen. Weil er warten muss.

Mein Friseur erzählt, dass immer häufiger Kunden ihre Termine nicht absagen. Für ihn ist das verlorene Zeit und verlorenes Geld. Und aus meiner Autowerkstatt höre ich, dass es Leute gibt, die ihre Rechnungen monatelang nicht bezahlen.

Immer sind es Menschen, die für andere da sind, ihre Arbeit gut machen und dann unwürdig behandelt werden. Oft lassen sie sich das widerspruchslos gefallen. Ich finde es großartig, wenn sich andere dann einmischen und sich für sie stark machen, wie die Erzieherin in der Schulmensa. Aber ein freundlicher Gruß für den Busfahrer; ein Dankeschön für den Koch; mehr Verständnis für die Sprechstundenhilfe; Verbindliche Termine beim Friseur und die Rechnung für den Automechaniker nicht verschleppen – ich finde, das ist nicht zu viel verlangt. Und würde so viel ändern.

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30APR2024
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Seit dem Krieg in der Ukraine und im Nahen Osten habe ich bittere Zweifel an meiner pazifistischen Grundhaltung. Ich bin nach dem 2. Weltkrieg geboren und kenne nichts anderes als Frieden. Wir sind für Abrüstung auf die Straße gegangen. Die Abschaffung der Wehrpflicht haben wir als Meilenstein gefeiert.

Der Angriffskrieg in der Ukraine hat meine ganze Überzeugung über den Haufen geworfen. Ich verstehe mittlerweile: Deutschland kommt ohne Aufrüstung nicht aus. Das Land muss militärisch verteidigungsfähig sein. Trotzdem glaube ich: Das widerspricht nicht meiner Überzeugung, dass echter Frieden nicht mit Waffen zu schaffen ist.

Daran weiter festzuhalten, dabei helfen mir die Worte von Hilde Domin, einer deutschen Dichterin: „Nicht im Stich lassen – sich nicht und andere nicht. Das ist die Mindestutopie, ohne die es nicht lohnt, Mensch zu sein. An ihr halte ich fest bis zu meinem letzten Atemzug.“ Diese Sätze kenne ich seit Jahrzehnten. Im Moment helfen sie mir, zu meiner pazifistischen Grundhaltung zu stehen. Weil sie mich gleichzeitig auffordern, das zu tun was ich tun kann: Mich und andere nicht im Stich lassen. Das bedeutet zum Beispiel ganz konkret in meinem Alltag: Ich werde auch weiterhin dafür sorgen, dass die Kinder in meiner Klasse ihre Konflikte ohne Gewalt lösen. Denn Friede ist nur möglich, wenn Menschen aufeinander zugehen, sich verzeihen und sich kennenlernen. Wenn sie darüber sprechen was ihnen gut tut als Gemeinschaft.

Hilde Domin hat es auch als alte Frau nicht aufgegeben, sich über Unrecht und Ungerechtigkeit aufzuregen. Ihr Glaubensbekenntnis in diesem aufregenden Leben fasst sie so zusammen: „Ich glaube, das Wichtige ist, dass wir nicht nur die Erinnerung an das Erlittene weitergeben, sondern auch die Erinnerung an die empfangene Hilfe.“ Hilde Domin hat Recht, denke ich, wenn ich auf meine eigene Geschichte schaue. Ich verdanke vielen Generationen von Menschen in Deutschland und in weiten Teilen Europas, dass ich bisher nie Angst vor einem Krieg haben musste. Sie haben nach dem 2. Weltkrieg für einen stabilen Frieden gesorgt. Der ist nicht vom Himmel gefallen. Das war Arbeit. Ich vertraue darauf, dass es viele gibt, denen es geht wie mir. Dass sie diesen stabilen Frieden zu schätzen wissen und alles dafür tun, was in ihrer Macht steht, um ihn zu erhalten.

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29APR2024
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Ich mag es überhaupt nicht, wenn dauernd gejammert wird. Wie schlimm alles gerade ist. Seit Corona. Und dem Krieg in der Ukraine. Gleichzeitig fällt mir auf, dass auch mir das Jammern vertrauter geworden ist. Weil mich die vielen Krisen auf der Welt bedrücken. Aber meine Aufmerksamkeit für alles, was Hoffnung macht, ist geblieben.

Vor kurzem habe ich in meiner Tageszeitung einen Bericht gefunden, den ich am liebsten ganz vorne auf der ersten Seite gelesen hätte: Marlene Engelhorn ist Deutsch-Österreicherin, 31 Jahre alt und Millionenerbin. Aber sie will das viele Geld nicht für sich behalten. Ihr Motto lautet: „Niemand soll sich einbilden, die eigene Komfortzone ist wichtiger als das gute Leben für alle.“ Und sie sagt: „Ich habe ein Vermögen geerbt und damit auch viel Macht ohne etwas dafür getan zu haben.“ Ich war wie elektrisiert. Es gibt Menschen, die reich sind und sich nicht einfach nur freuen, weil sie viel geerbt haben. Die wissen, dass sie eben Glück haben und die deshalb ihr Geld nicht für sich behalten wollen. Ich finde beeindruckend, was die junge Frau mit 25 Millionen Euro vorhat. Sie hat einen Rat gegründet, in dem 50 Männer und Frauen gemeinsam darüber nachdenken, wie das Geld am besten verteilt werden soll. Sie nennt ihn „Guter Rat für Rückverteilung“. Die Mitglieder haben das Ziel, für mehr soziale Gerechtigkeit zu sorgen. Mehr noch: Marlene Engelhorn hat in diesem Rat auch eine Diskussion darüber angestoßen, was sich politisch ändern müsste, damit wir in einer gerechteren Gesellschaft leben können. Denn durch die Krisen und Kriege der letzten Jahre ist die Schere zwischen Arm und Reich immer noch weiter auseinander gegangen.

Mir macht auch Hoffnung, dass Marlene Engelhorn nicht die Einzige ist, die so denkt und handelt: Die New York Times berichtet von einer ganzen Bewegung junger Millionäre. Sie wollen sich weltweit dafür einsetzen, dass es eine Veränderung bei der Vermögenssteuer und der Erbschaftssteuer gibt. Sie wollen das Geld verwenden, um gegen Armut und den Klimawandel zu kämpfen. Für sie alle gilt, wovon Frau Engelhorn überzeugt ist: Das gute Leben für alle ist wichtiger, als die eigene Komfortzone.

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27APR2024
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Tempolimit, Gendern, Fleischessen. Ein Großteil der politischen Debatten der letzten Jahre kommen als Verbotsdebatten daher. Dabei wird oft der große Begriff der Freiheit ins Feld geführt. Mir kommt es manchmal so vor, dass die Freiheit dabei als Notanker missbraucht wird, wenn irgendeinem der politischen Lager die Argumente ausgehen. Mich stört neben der polarisierten Debatte, dass Freiheit dabei nur als "darf ich etwas oder darf ich etwas nicht" verstanden wird. Dabei ist das ein furchtbar reduziertes Verständnis.

Ich glaube ja, die biblische Erzählung vom Sündenfall hat da eine gute Perspektive. Die Hauptpersonen sind die ersten Menschen: Adam und Eva. Und wonach Adam und Eva in dieser Geschichte streben ist die vollkommene Freiheit, oder zumindest das, was sie dafür halten. Ihr zu Hause ist der Garten Eden, und hier dürfen sie frei leben, wie sie wollen. Es gibt nur dieses eine kleine Verbot, dass sie von den zwei Bäumen in der Mitte des Gartens keine Früchte essen dürfen. Ein kleines Verbot - aber das ist ihnen ein Dorn im Auge. Die beiden Menschen wollen unbedingt selbst beurteilen können, was für sie gut ist und was nicht. Von der Schlange lassen sie sich verführen und essen von den verbotenen Früchten. Dass sie das Vertrauen Gottes damit verletzt haben, war ihnen in dem Moment egal. Aber ihr gemeinschaftliches Verhältnis zu Gott ist zerbrochen. Adam und Eva müssen das Paradies verlassen. Und auch das Verhältnis der beiden untereinander ist nicht mehr wie früher. Da gibt es jetzt Neid und Scham voreinander.

Ich finde in der Erzählung steckt die große Weisheit, dass die absolute individuelle Freiheit eben nicht das Paradies bedeutet. Alles für sich selbst zu entscheiden kann einen ganz schön unfrei machen. Statt gemeinschaftlich durchs Leben zu gehen, schauen die ersten Menschen jetzt lieber jeder nach sich selbst. Und das Vertrauen und die Gemeinschaft mit Gott ist auch kaputt und zerstört. Also – Freiheit sieht für mich anders aus. Das Paradies wäre für mich ein Ort ohne Neid und Scham. Ein Ort, an dem alle ihren Platz haben.

Für die politischen Debatten um Freiheit heutzutage scheint mir die alte biblische Erzählung eine wichtige Erkenntnis beisteuern zu können: sie verdeutlicht, dass Freiheit nicht nur individuell zu verstehen ist. Sondern auch gemeinschaftlich: und dann drehen sich die Debatten in Zukunft vielleicht weniger darum, ob es weiterhin erlaubt ist, mit 200 Sachen über die Autobahn zu donnern oder nicht, sondern darum, ob ein Tempolimit sinnvoll für die Gesellschaft sein könnte. In was für einer Gesellschaft können wir Menschen uns möglichst frei entfalten? Wie muss unser Miteinander aussehen,  damit viele Stimmen gehört werden. Für mich ist das eine Freiheit, über die wir diskutieren können. Müssen.

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26APR2024
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An diesem Schabbat begehen wir den fünften Tag des achttägigen Pessachfestes. 
Die Geschichte des Auszuges der jüdischen Sklaven aus dem alten Ägypten spielt an diesem Feiertag eine wesentliche Rolle. Für uns stellen die Ereignisse um den Auszug, die Geburt des jüdischen Volkes dar, und gewinnen somit einen heilsgeschichtlichen Charakter.  Bei vielen Nichtjuden kommt die Frage auf, ob man es hier nicht etwa mit einem Mythos zu tun hat?  Wie sind die aufeinanderfolgenden zehn Plagen in Ägypten zu verstehen und zu werten?  Wie der Marsch der Israeliten trockenen Fußes durch das Schilfmeer? Des Öfteren wurde mir die Frage gestellt, ob ich mir eine zufriedenstellende Antwort, nicht etwa aufgrund ungewöhnlicher Naturereignisse vorstellen könnte?  Ich habe jedes Mal passen müssen. 

Salo Baron, englischer jüdischer Historiker, meint, dass „der Exodus aus Ägypten...offenbar (für die Unbeteiligten) ein unwichtiger Vorgang in der Geschichte jener Zeit“ war. „So geringfügig, dass das - außer den Juden selbst- am meisten beteiligte Volk, die Ägypter, sich niemals die Mühe nahm, ihn aufzuzeichnen.“  So der englische Gelehrte.  Wir sollten also zur Kenntnis nehmen, dass den Ägyptern nichts daran lag, jenen Auszug, jene Befreiung der israelitischen Sklaven, für alle Zeiten festzuhalten.  Für ihre Geschichte und Geschichtsauffassung war es kein Ereignis von Bedeutung.

Eine Bedeutung hatte und hat der Auszug vornehmlich für Juden. Sie traten damals den Weg an, ein Volk zu werden.  Sie sollten auf G-ttes Geheiß sich immer daran erinnern, dass die Geburtsstunde ihres Volkes in der Knechtschaft lag.  Sie sollten daher die Freiheit des Menschen, die eigene, wie auch die der anderen hochschätzen. Der Auszug erinnert auch daran, dass jener Weg der errungenen Freiheit durch die Wüste nach Sinai, zur g-ttlichen Offenbarung der Zehn Gebote führte.

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25APR2024
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Meine Fensterbank gleicht einem pflanzlichen Friedhof. Dabei war ich guter Dinge, dass ich meine Pflanzen diesmal über den Winter bringen würde. Dass ich diesmal regelmäßig gieße, vielleicht ab und zu dünge. Viel gehört eigentlich nicht dazu, und ich scheitere trotzdem dran.

Und wie den Zimmerpflanzen geht es leider auch den zarten Pflänzchen meiner guten Vorsätze. Man sieht es nicht sofort, wenn man mein Wohnzimmer betritt – aber: Da sind noch die dürren Überreste meines Vorsatzes, nicht so schnell über andere zu urteilen. In einer anderen Ecke steht der vertrocknete Philodendron meines Versuchs dankbar zu sein für das, was ich kann – und mich nicht andauernd mit anderen zu vergleichen. Und da noch der eingegangene Monstera-Setzling meines Plans, wieder regelmäßiger Sport zu machen.

Ja es ist schon gut, dass meine Schwächen und ungelösten Probleme, nicht so offensichtlich auf dem Präsentierteller stehen, wie meine gerade verdorrenden Pflanzen. Dadurch kann ich sie aber auch leichter verdrängen – ganz hinten in der Abstellkammer im Kopf, in die man nur selten mal reinschaut.

Bei Gott klappt das allerdings nicht mit dem Verdrängen. Gott sieht genau hin, und in der Bibel heißt es einmal:  Der Mensch sieht was vor Augen ist, Gott aber sieht das Herz an. Er sieht auch die unsichtbaren kaputten Ecken in mir. Ich finde die Vorstellung erstmal unangenehm. Wenn ich ehrlich bin, dann schäme ich mich ein bisschen – auch vor Gott. Ich bin es eben gewohnt, meine Schwächen zu verstecken und zu verdrängen. Ich finde das ganz schön schwer, mir das vorzustellen: Dass es da jemand gibt, der mich nicht nach meinem Scheitern und Versagen beurteilt. Dass Gott angesichts meiner vertrockneten Zimmerpflanzen und meiner gescheiterten Pläne nicht die Hände über dem Kopf zusammenschlägt, sondern so wie ein richtig gutmütiger Freund ist, der mir hilft meine Pflanzen und mein Leben wieder aufzupäppeln.

Schwer vorstellbar, aber wunderbar und entlastend. Dass ich das, was mit unangenehm ist, mit jemand teilen kann. Denn, um den Mut haben, es trotzdem nochmal zu wagen, muss man den alten Ballast auch mal loswerden. Und das geht besser, wenn da einer dabei ist.

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24APR2024
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Seit über vier Jahren gehöre ich zu einem Kreis, der gemeinsam Andachten und kleine Gottesdienste feiert – und zwar online: jeder bei sich zu Hause vor dem Computerbildschirm. Letzte Woche hat sich unser Kreis zum letzten Mal online getroffen: Auf meinem Monitor habe ich viele Kerzen angehen sehen. Wir haben gemeinsam gesungen - alle zu Hause vor ihren Bildschirmen – und haben dann alle gemeinsam virtuell eine Wolke aus Worten erstellt – mit Dingen, wofür wir diese Woche dankbar sind, und wofür wir Gott bitten wollen. Viele der Teilnehmenden habe ich bisher noch nie in Präsenz getroffen – und trotzdem hat sich das nach echter Gemeinschaft angefühlt und ich habe das Gefühl, die Menschen zu kennen.

Entstanden ist das Ganze in Corona-Zeiten, als nur Onlinemeetings möglich waren. Als man sich dann wieder treffen durfte, haben sich die Mitglieder unserer Gruppe weiter getroffen. Weil da etwas Schönes entstanden war.

Nach 4 Jahren war jetzt trotzdem Schluss. Wir haben gemerkt, dass für uns etwas anderes dran ist. Dass unsere Andachten uns in den letzten 4 Jahren wichtig waren, aber jetzt die Luft raus ist. Es war gut, dass wir alle zum gleichen Moment dieses Gefühl hatten. Das hat es einfacher gemacht, Abschied zu nehmen. Und gleichzeitig war es auch traurig: Es war eine besondere Gemeinschaft mit Menschen aus so verschiedenen Orten und aus so unterschiedlichen Altersgruppen.

Darum haben wir ganz bewusst Abschied genommen. Noch ein letztes Mal online Andacht gefeiert. Auf die schönen Momente der letzten Jahre zurückgeschaut. Nochmal die Lieblingslieder gesungen. Noch einmal virtuell zusammen gebetet. Ganz bewusst ein letztes Mal. Das hat gut getan. So bewusst etwas zu Ende zu bringen. Das, was uns so wichtig war, in einem guten Rahmen zu verabschieden. Die Erfahrung macht mir paradoxerweise Mut für die Zukunft. Da wird es – persönlich, aber auch in unseren Kirchengemeinden auch immer wieder darum gehen Abschied zu nehmen. Vielleicht Abschied vom Kirchengebäude, in der man konfirmiert wurde, oder Abschied von dem wöchentlichen Gottesdienst in der Kirche direkt vor der Haustür, Abschied von dem Arbeitsplatz, den man lange und gerne hatte, Abschied von manchen Freundschaften. Etwas nicht einfach versanden zu lassen, sondern bewusst Auf Wiedersehen zu sagen, finde ich dabei wichtig. Auch wenn das gar nicht so leicht fällt. Mir hilft der Gedanke, dass „Auf Wiedersehen“ nicht heißt, dass eine Beziehung komplett abgebrochen wird, sondern vielleicht nur an anderer Stelle und in anderer Form weiterleben. Und Raum und Kraft für etwas Neues da ist.

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