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Immer wenn ich im weiteren Umkreis meiner schwäbischen Heimat über Land fahre, fallen mir die vielen Kirchen auf. Jedes Dorf hat seine eigene Kirche. Und das sind häufig keine bescheidenen Gotteshäuser, sondern im Verhältnis zu der kleinen Ortschaft oft riesige Gebäude. Ich wundere mich dann immer, wie das möglich ist, wer das wie finanziert hat. Ich glaube nicht, dass die Menschen dort damals besonders reich gewesen sind.
Natürlich hat das alles einen Beigeschmack. Aus heutiger Sicht könnte man sagen, die Kirche hat ihren Besitz in Prachtbauten gesteckt, anstatt sich um die Menschen zu kümmern. Hat sie vielleicht auch noch besonders geschröpft, um all diese Projekte zu verwirklichen. Das ist alles möglich. Wahrscheinlich auch wahr. Zugleich könnte man aber auch sagen, die Leute haben all diese Kirchen gebaut, weil sie ihnen wichtig waren. Weil Gotteshäuser wichtig waren. Und wenn man all den eitlen, menschlichen Popanz, die ganze Protzerei und die Machtspielchen mal beiseite lässt, hat das, wie ich finde, etwas sehr Schönes: Dass das Göttliche einen Platz in unserer Mitte hat. Und keinen Kleinen. Gerade heute ist das ein wichtiger Gedanke.
Früher hatte der Glaube noch eine viel stärkere Relevanz. Eigentlich war alles irgendwie vom Göttlichen oder von göttlichem Wirken durchdrungen. Im Guten wie im Schlechten. Heute schauen wir ganz anders in die Welt, die weitgehend erschlossen, in großen Teilen entzaubert ist. In der Geschäftigkeit des Alltags gibt es kaum Platz für Göttliches oder Heiliges. Aber auch wenn wir offenbar nicht mehr so genau hinschauen, ist es dennoch da. Gibt es Bereiche in unserem Leben, die eben noch nicht erschlossen, noch nicht gänzlich entzaubert sind, die geschützt sind.
Wir haben heute in der wahrscheinlich kein so klares Bild mehr von Göttlichem oder Heiligem. Diese Dinge sind unschärfer geworden. Weniger definiert. Es gibt nicht mehr den einen Glauben, religiöses oder spirituelles Leben ist viel weiter gefasst und viel breiter gefächert. Und es gibt weniger Zeit und weniger Raum dafür.
Da bin ich dankbar für all diese Kirchen. Sie sind für mich ein steinernes Zeichen dafür, dass das Göttliche auch in unserer heutigen Welt da ist. Egal wo ich bin, ich gehe immer in die örtliche Kirche. Nicht weil ich besonders fromm wäre, sondern weil sie für mich ein Ort ist, an dem ich herausgenommen bin. An dem es nicht um mich und nicht um all das geht, was auf mich draußen so einprasselt. In diesen Kirchen schwappt das Göttliche oder meinetwegen allgemeiner gesprochen, das Transzendente in unsere Welt hinein. Ich finde es wichtig, dass das möglich ist.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=40627Individualismus steht derzeit hoch im Kurs. Letztens habe ich sogar irgendwo vom „Zeitalter des Individualismus“ gelesen. Es geht viel um das Ich, um die Selbstbefreiung, um Selbstfindung oder Selbstentfaltung. Um „Selfness“ und „Me Time“, um die Anerkennung eigener Bedürfnisse, um die Erfüllung der eigenen Wünsche und Ziele.
Das ist alles wunderbar und ich bin froh in einer Zeit und an einem Ort zu leben, wo das alles möglich ist. Allerdings tu ich mich etwas schwer, wenn das eigene Ich allzu radikal in den Mittelpunkt gestellt wird. Wenn es nur noch um das Ich, das eigene, persönliche Glück geht. Das kann mir dann schon zu viel werden. Wenn jemand nur noch von sich redet und sich nur noch um sich selbst kümmert. Oder darum bemüht ist, sich unter allen Umständen von allen anderen abzugrenzen. Oder sich sogar selber über alle anderen stellt.
Denn mir geht es so, dass ich mich selber, also mein eigenes „Ich“, nur schwer von anderen Menschen abgetrennt vorstellen kann. Ich glaube nämlich, mein Ich ist nicht allein. Das klingt vermutlich etwas sonderbar, aber so empfinde ich es.
Als meine Großmutter gestorben ist, habe ich das zum ersten Mal gespürt. Beim Tod meiner Mutter noch stärker. Tatsächlich war es so, als sei mit diesen Menschen, die für mich mit die Wichtigsten gewesen sind, ein Teil von mir selbst gestorben.
Überhaupt bin ich mit meinen Zeitgenossen tief verbunden. Ich wäre ohne die anderen nicht durchs Leben gekommen. Wie oft hat mir ein Freund geholfen, mit gutem Rat, Geld, einem gemeinsamen Erlebnis. Ohne die Anderen gäbe es mich nicht. Mir kommt es so vor, als sei das, was man “mein Ich“ nennt zu großen Teilen aus den Menschen zusammengesetzt, die wichtig für mich sind. Und andersherum bin ich auch ein Teil von deren Leben. Wir sind tief miteinander verzahnt und vermischt. Und es ist schwer herauszufinden, was mein eigener individueller Kern ist. Was an mir reines Ich ist.
Ich selber glaube, dass ich das gar nicht ganz herausfinden kann. Auf jeden Fall kann ich mich selbst nicht losgelöst von Anderen verstehen. Deshalb denke ich, dass wenn ich mich zu stark auf mich selbst konzentriere, ich das aus dem Blick verliere, was um mich herum ist. Die Menschen, die existentiell mit mir verbunden sind. Ja, ich denke, wenn ich mich zu stark auf mich selbst konzentriere, verliere ich letztendlich mich selbst aus dem Blick.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=40626Religion spielt im us-amerikanischen Wahlkampf eine große Rolle. Wenn ich das so beobachte, erschrecken mich immer wieder die radikalen Aussagen von fundamentalistischen Christen. Zum Bespiel zum Thema Homosexualität. Da wird immer wieder behauptet, homosexuelle Liebe sei gemäß der Bibel Sünde und verboten. Aussagen hierzu seien eindeutig. Und ja, es stimmt:
Es gibt Bibelverse, die den Geschlechtsverkehr zwischen Männern scheinbar kritisieren oder gar verbieten. (z. B. Lev 18,22)
Auffällig finde ich aber: Zu einem Sexualakt zwischen zwei Frauen wird in der Bibel nichts gesagt. Eine solche Differenzierung habe ich aber von Menschen, die homosexuelle Liebe abwerten, noch nie gehört. Da wird Homosexualität per se mit biblischer Begründung abgelehnt.
Ich leugne natürlich nicht, dass es diese wenigen ablehnenden Stellen zum Thema Sex zwischen Männern gibt. Aber ich denke, man muss sie heute anders einordnen. Dass die Bibel nicht wörtlich zu verstehen ist und sie ein Zeugnis der Zeit ist, in der sie entstanden ist, ist ja eigentlich auch keine große Neuigkeit mehr. Man muss biblische Texte analysieren und sie auf Basis dessen interpretieren. Und einzelne Aussagen können nicht einfach zusammenhanglos auf heute übertragen werden.
Wichtig dabei finde ich auch nach innerbiblischen Gewichtungen Ausschau zu halten.
Jesus wird einmal gefragt, was für ihn das wichtigste Gebot ist. Er antwortet mit dem sogenannten Doppelgebot der Liebe: Du sollst Gott lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele mit all deiner Kraft. Und: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Da steckt ganz viel drin. Dreifache Liebe. Die Liebe zu Gott, zu den Mitmenschen und zu sich selbst. Das ist nach Jesus das Wichtigste. Er konkretisiert das immer wieder in Aussagen und Erzählungen. Und ich glaube zum Beispiel, wer seine eigene Sexualität nicht ausleben kann oder darf, dem fällt es auch schwer sich selbst zu lieben. Dieses Doppelgebot der Liebe wiegt für mich viel schwerer als einzelne ablehnende Aussagen zu einem Sexualakt zwischen zwei Männern.
Wer liebt orientiert sich an der Bibel.[1] Diesen Satz habe ich mal gelesen und ich finde, er bringt es auf den Punkt. Wer jemand anderen liebt und Verantwortung in einer Partnerschaft übernimmt, orientiert sich an der Bibel: Egal welches Geschlecht er oder sie hat.
[1]https://fragen.evangelisch.de/frage/5226/was-sagt-die-bibel-zur-liebe-zwischen-zwei-frauen
https://www.kirche-im-swr.de/?m=40953Was hat Martin Luther eigentlich mit einem Kürbis zu tun? Auf den ersten Blick eigentlich nichts. Außer natürlich, dass der Reformationstag, an dem an Luthers Thesenanschlag erinnert wird, und Halloween, wie jedes Jahr, auf denselben Tag fallen. Aber eines gibt es doch, dass Luther und den Kürbis verbinden: Beide haben es mit der Angst zu tun.
Die Lichter im Kürbis sollen böse Geister vertreiben: Dämonen, den Teufel – wie auch immer man das bedrohlich Dunkle bezeichnen will. Menschen sind mit dem Anzünden der Kerze im Kürbis ihrer eigenen Angst begegnet, so ist zumindest der Brauch entstanden. Sie wollten ihrer Angs quasi ins Gesicht schauen und sie gleichzeitig vertreiben.
Auch Martin Luther hatte mit vielen Ängsten zu kämpfen. Er hat innerlich mit dem Teufel gerungen und sich vor der Hölle gefürchtet. Er hatte Angst vor Gottes Strafen. Luther lebte da ganz im Weltbild des Mittelalters mit seinen schaurigen Darstellungen von Hölle und Fegefeuer. In einem Brief an Erasmus von Rotterdam schreibt er: Ich „bin mehr als einmal bis in die Tiefe und in den Abgrund der Verzweiflung hinabgestoßen worden, sodass ich wünschte, ich wäre nie als Mensch erschaffen worden.“[1] Der evangelische Reformator wollte alles richtig machen und ist daran gescheitert.
Aber er hat gelernt, mit seiner Angst umzugehen. Er hat sich ihr gestellt. Geholfen hat ihm dabei das Lesen in der Bibel. In biblischen Gebeten, in den Psalmen, hat Luther zum Beispiel Ausdrucksformen für seine eigenen Ängste gefunden. Für was er selbst keine Worte gefunden hat, konnte er mit Hilfe der Worte anderer zur Sprache bringen. Und vor allem hat er entdeckt, dass Gott nicht straft, wenn er etwas falsch macht, sondern dass Gottes Wesen barmherzig ist. Luther hat in der Bibel einen Gott gefunden, der vergibt und verzeiht.
Luther sei Dank sind viele Menschen nach ihm mit dem Bild eines barmherzigen Gottes aufgewachsen. Ich fürchte mich heute nicht vor der Hölle oder Gottes Strafen. Sicher ein Gewinn an Lebensqualität. Angstfrei lebe ich trotzdem nicht. Ich finde, man kann sich von Luther abschauen, dass man versuchen soll, sich nicht von seinen Ängsten übermannen zu lassen. Nicht vor der Angst erstarren. Sondern sich ihr zu stellen, versuchen sie auszudrücken. Auf welchem Weg auch immer. Es kann der Beginn sein, Ängste zu überwinden.
[1] Gefunden auf: https://mut-und-angst.de/aengste-und-glaube/luthers-wichtigster-kampf.html.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=40952„Der Ort, an dem wir recht haben.“
So hat der israelische Schriftsteller Jehuda Amichai eines seiner Gedichte überschrieben.*
Vor hundert Jahren hat er in Würzburg das Licht der Welt erblickt. Er floh als Zwölfjähriger – 1936 - mit seinen Eltern vor den Nazis nach Palästina. Jehuda Amichai hat am seinem eigenen Leib erlebt, wie Unrecht Menschen verletzten kann. Und auch, dass Rechthaberei oft ins Unglück führt. In seinem Gedicht schreibt er:
„An dem Ort, an dem wir recht haben, / werden niemals Blumen wachsen – ... /
Der Ort, an dem wir recht haben, ist zertrampelt und hart wie ein Hof.“
Jehuda Amichai führt die zerstörerischen Konsequenzen von „recht haben“ vor Augen. Recht haben wollen – auf Teufel komm raus – das kann in einer Wüstenei enden. Da wächst kein Gras mehr. Wie verheerend ist das! So können Streitereien im Familien- und Freundeskreis enden. So kann es im Straßenverkehr zugehen, wenn jemand auf seiner Vorfahrt beharrt und einen Totalschaden provoziert! Und das gilt auch für Konflikte, die mit Waffengewalt ausgetragen werden.
Gibt es einen Ausweg? Jehuda Amichai markiert ihn in der zweiten Hälfte seines Gedichtes:
„Zweifel und Liebe aber / lockern die Welt auf / wie ein Maulwurf, wie ein Pflug.
Und Flüstern wird hörbar / an dem Ort, wo das Haus stand, / das zerstört wurde.“
Verhärtungen und leblose Situationen aufbrechen, „die Welt auflockern“ – mit „Zweifel und Liebe“ – was für eine besondere Kombination ist das!
Für mich ist Jesus von Nazareth einer, der diesen Weg vorausgegangen ist. Auch den der Zweifel und der Selbstkritik: Als eine „Ausländerin“ zu ihm kam und bat, er möge seien Tochter heilen, da antwortete er barsch: »Ich bin nur für die Menschen in Israel da.« Er hat sich dann von dieser Fremden eines Besseren belehren lassen und hat sein Vorurteil aufgegeben. Er hat auf ihr Bitten hin, ihre Tochter geheilt. (Mt 15,21-28)
Seine Liebe leuchtet in besonderer Weise gerade in Konflikten. Jesus hat propagiert: Schlagt nicht gleich zurück! Gebt nach! Und geh mit dem mit, der dich darum bittet. Sogar doppelt so weit wie er es von dir verlangt. Auf der doppelten Länge kann auch Verständigung entstehen. So können, wie Jehuda Amichai es sagt, Zweifel und Liebe zum Humus werden für neues Leben. Und: Eine verschlossene Tür kann sich auftun.
*Jehuda Amichai (1924 - 2000) in dem Gedichtband „Zeit“, Frankfurt M. 1998
https://www.kirche-im-swr.de/?m=40951Ein alter Bauernhof in Mecklenburg-Vorpommern. Er ist schon lange unbewohnt und nicht mehr bewirtschaftet. Einsturz gefährdet. Und dann kommt der Tag – und das Anwesen wird abgerissen.
Wenn Walter Green davon rechtzeitig erfährt, ist er zur Stelle. Er will die alten Eichenbalken aus dem Abrissschutt retten. Die nimmt er dann mit in seine Werkstatt. Er bürstet und schleift sie. Die Spuren der Holzwürmer bleiben. Auch die, die noch im Holz tätig sind. Das will er so. An manchen Stellen werden die Balken auch poliert. So entstehen aus alten Eichenbalken Holzskulpturen: mit Rissen und Kanten und Aussparungen. Manche versieht er mit sparsamen Farbakzenten. Gold oder kobaltblau.
Bei einer Ausstellung seiner Werke hat Walter Green einmal erzählt, wie sehr ihn diese Balken faszinieren. Er hat sagt: „In dem Augenblick, wo sie in meine Hände kommen - da spüre ich so etwas wie »Ewigkeit«.“
Er hat das so erklärt: So ein alter Balken, den er in die Hände bekommt, in dem steckt eine lange Geschichte, mit besonderen Ereignissen. Als die Eiche gepflanzt wurde, hat Luther in Wittenberg die Reformation der Kirche gefordert. Als der Baum gefällt wurde, 300 Jahre später, kann sein, da war Napoleon gerade mit seinem Heer unterwegs nach Osten. Und seit der gesägte Balken in der Scheune verbaut wurde, sind wieder 200 Jahre vergangen.
Jetzt ist der Eichenbalken in seine Hände geraten. Der uralte Balken, der so besondere Momente der Geschichte in sich birgt, der wird zum Material für Neues. Für eine Skulptur.
Für ihn, sagt Walter Green, wird da »Ewigkeit« greifbar und spürbar.
Mich hat das beeindruckt. Und ich habe daran für mich entdeckt: Ewigkeit ist zum einen offenbar eine lange, lange Zeit. Doch erfahrbar wird ihre Länge durch herausragende Momente und Ereignisse. Und so erfahre ich das auch in meinem Leben.
Es gibt Momente und Augenblicke, die kommen mir wie vor wie eine Ewigkeit.
Man sagt ja manchmal auch: Das hat eine Ewigkeit gedauert. Und dabei waren es nur ein paar Minuten. Die gemessene Zeitdauer spielt dabei nämlich keine Rolle.
Es sind die besonders intensiv aufgeladenen Momente im Leben – die machen eine erlebte Zeit zur Ewigkeit. Also: einschneidende Ereignisse - private oder auch politische.
Erlebnisse voller Freude und Glück - oder auch voller Schmerz und Enttäuschung.
Wo Ewigkeit so in die Zeit hineinleuchtet*, wird das Leben hell – und ist das mehr als nur eine lange Zeit, die vergeht.
* Das Bild stammt aus einem Lied von Marie Schmalenbach, EG 680,4 (württ. Ausgabe).
https://www.kirche-im-swr.de/?m=40950„Der wird sich wundern, wenn er die Augen aufmacht!“
Das soll Christoph Blumhardt so gesagt haben. Nachdem er erfahren hat, dass August Bebel gestorben war. Der war Sozialist und erklärter Atheist. Christoph Blumhardt selber war auch Sozialist – und evangelischer Pfarrer. Er war zu Anfang des 19. Jahrhunderts Landtagsabgeordneter für die SPD. Das war damals eine Seltenheit. Und für viele in der Kirche ein Ärgernis: „Als Pfarrer sich mit Sozialisten gemein machen - das geht doch gar nicht. Die sind doch Atheisten. Die lehnen doch Religion ab.“
Hassmails hat er noch keine bekommen können – aber Ablehnung in Hülle und Fülle. Blumhardt hatte Kontakte zu Sozialisten und anderen Andersdenkenden. Viele - wie auch Rosa Luxemburg - sind zu ihm nach Bad Boll gekommen – an den Rand der Schwäbischen Alb - , wo er lange als Seelsorger und Prediger im Kurhaus gewirkt hat. Man hatte von seiner glühenden Sehnsucht nach dem Reich Gottes gehört. Und von seiner Erwartung, dass mit Christus sich Frieden und soziale Gerechtigkeit in der Welt ausbreiten. Für Christoph Blumhardt war klar: Für dieses Anliegen steht in der Realpolitik hier auf Erden die Sozialdemokratie. Und so hat er sich dann auch in dieser Partei engagiert.
Ich frage mich: Wie ist Blumhardt damit klar gekommen, dass zwar viele seine politischen Ansichten geteilt haben, aber so ganz und gar nicht seinen Christusglauben? Blumhardt konnte damit offenbar gut umgehen. In Respekt vor den Überzeugungen Anderer - ohne dabei seinen eigenen Glauben zu verschweigen. Das imponiert mir so sehr an seinem Wort über den Verstorbenen August Bebel: „Der wird sich wundern, wenn er die Augen aufmacht!“ Trocken und mit Herzblut ist das gesagt. Und im Wissen darum: Bebel hat niemals damit gerechnet, sich über seinen Tod hinaus über irgendetwas zu wundern. Für ihn war mit dem Tod alles aus.
Blumhardts Zuspruch geht darüber hinweg, charmant und mit liebevollem Augenzwinkern. Ohne Besserwisserei oder Rechthaberei. Gesprochen aus der Mitte seines Hoffens und Glaubens: Der Tod hat nicht das letzte Wort. Der Ewige, der den Juden Jesus von Nazareth aus dem Tod ins Leben gerufen hat, der wird auch den Atheisten August Bebel nicht vergessen. Auch Bebel wird einst der Herrlichkeit Gottes ansichtig werden. Wird aufgenommen in sein Reich. Weil – wie es in der Bibel heißt – „Gott die Liebe ist“ - und es am Ende nur darum geht:
„Wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.“ (1.Joh 4,16)
Es gibt so Tage, da frage ich mich am Abend: Was habe ich heute eigentlich geschafft? Vieles von dem, was ich mir vorgenommen habe, konnte ich nicht erledigen, weil ständig etwas dazwischengekommen ist. Oder ich habe viel Zeit und Arbeit in ein Projekt gesteckt und ich beginne zu zweifeln, ob es sich überhaupt lohnt. Wenn solche Tage und solche Projekte sich häufen, dann frage ich mich auch, wozu das Ganze überhaupt?
Es gab eine Zeit, da hat mich diese Frage sehr belastet. Und da bin ich auf ein Gedicht von Hilde Domin gestoßen, das mich unheimlich getröstet hat. Es beginnt mit den Zeilen:
„Wie wenig nütze ich bin,
ich hebe den Finger und hinterlasse
nicht den kleinsten Strich
in der Luft.“[1]
Das Gedicht greift meine Stimmung auf, nichts bewirken zu können und beschreibt dann in poetischen Worten das Gefühl, dass ich keine Spur hinterlasse, wenn ich mal nicht mehr da sein werde. Da fühle ich mich gut verstanden.
Aber Hilde Domin bleibt dabei nicht stehen, sondern spricht einen Gedanken aus, der etwas verändert. Bei allem, was ich mache, könnte vielleicht doch etwas von mir bleiben: der Ton meiner Stimme, mein Lachen und meine Tränen und ein paar meiner Worte. Vielleicht bleiben sie in den Menschen, denen ich begegne. Und so endet das Gedicht mit Worten, die mich trösten. Hilde Domin schreibt:
„Und im Vorbeigehen,
ganz absichtslos,
zünde ich die ein oder andere
Laterne an
in den Herzen am Wegrand.“
Die Worte trösten mich nicht nur, sie geben mir auch eine neue Perspektive. Sie lenken meinen Blick auf die Menschen, die mir begegnen. Vielleicht gerade auch auf die, die mich an manchen Tagen gehindert haben, mit meinen Sachen fertig zu werden. Oder die, mit denen zusammen ich etwas bewirken möchte.
Ich hoffe, dass ich ganz absichtslos die ein oder andere „Laterne in ihren Herzen angezündet habe“, wie es Hilde Domin nennt. Und mir fallen Menschen ein, die in meinem Herzen immer wieder Laternen anzünden. So ganz nebenbei, indem wir zusammen an etwas arbeiten, gemeinsam lachen oder auch verzweifeln. Und uns Worte sagen, die wir in diesem Moment brauchen: wie z.B. „Gemeinsam kriegen wir das schon irgendwie hin“ oder „Ich finde, du hast es richtig gut gemacht.“
Ich mag Gedichte von Hilde Domin. Ihre Worte zünden immer wieder die ein oder andere Laterne auch in meinem Herzen an.
[1] Hier und im Folgenden zitiert aus: Hilde Domin, Gesammelte Gedichte, Frankfurt am Main 1987, S.30f. Das Gedicht in voller Länge ist aber auch vielfach im Internet zu finden.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=40902Im Zug sind Plätze an einem Vierertisch frei geworden. Ich frage die Frau, die dort noch sitzt, ob ich mich zu ihr setzen darf. Sie wirkt erfreut und antwortet: „Sie sind der erste, der mich heute im Zug anschaut. Ich sitze seit Hannover hier, aber Sie sind tatsächlich der erste, der mich ansieht. Das ist schön.“ Was die Frau sagt, freut mich. Und ich frage mich, ob ich mich manchmal einfach neben jemanden setze, ohne den Blickkontakt zu suchen? Oder nehme ich automatisch Blickkontakt auf? Ehrlich gesagt bin ich mir nicht zu 100% sicher. Aber ich hoffe, dass es mir fast immer gelingt. Ich bin überzeugt, dass es einen Wert hat, wenn wir Menschen uns gegenseitig ansehen. Auch in der Öffentlichkeit. Ich kann gut akzeptieren, wenn Menschen für sich entscheiden, keinen Blickkontakt zu wollen, aber ich merke, dass mir Blickkontakt guttut.
Etwas pathetisch ausgedrückt könnte man sagen: „Angesehen werden“ führt zum Gefühl „angesehen zu sein“. Und ich glaube, „angesehen zu sein“ ist wichtig für uns Menschen. Zumindest erlebe ich in meiner Arbeit, was es mit Menschen macht, wenn dieses „Ansehen“ fehlt. Als Seelsorger und Berater begegnen mir immer wieder Menschen, die in ihrer Kindheit, in ihrem Beruf oder im Privaten Situationen erlebt haben, in denen sie nicht gesehen wurden. Sie leiden darunter oft auch noch viele Jahre später.
Die kurzen Begegnungen, bei denen wir anderen in die Augen schauen und angeschaut werden, können dieses Defizit sicherlich nicht ausgleichen. Trotzdem bin ich überzeugt, dass sie einen wichtigen Beitrag dazu leisten, gut zusammenzuleben. Und ich habe Angst, dass etwas verloren geht, wenn die Gelegenheiten einander anzusehen seltener werden, weil Maschinen das Gegenüber ersetzen. Die Kasse zum Selbstscannen ersetzt die Kassiererin, der Comfort-Check-In ersetzt den Kontakt mit dem Zugbegleiter, in einer fremden Stadt zeigt mir mein Handy den Weg und ich muss niemanden mehr danach fragen.
Wir verlieren damit Gelegenheiten, anderen Ansehen zu schenken und selbst angesehen zu werden. Das finde ich schade. Aber wenn mir das klar und wichtig ist, dann möchte ich die Gelegenheiten nutzen, die sich mir bieten. So wie neulich im Zug.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=40901Sie gehen an Schulen und sprechen mit Jugendlichen über den Nahostkonflikt. Sie, das sind eine Palästinenserin und ein Jude. Genauer: Jouanna Hassoun, eine Deutsch-Palästinenserin und Shai Hoffmann, ein deutscher Jude mit israelischen Wurzeln. Die beiden können miteinander über dieses schwierige Thema sprechen, auch wenn sie unterschiedliche Perspektiven auf den Konflikt haben. Und sie sind überzeugt, dass es gut ist, wenn Jugendliche miteinander über dieses Thema ins Gespräch kommen. Das Projekt heißt „Trialog“ und Shai Hoffmann ist es wichtig, dass die Jugendlichen sich trauen, alles zu sagen, was ihnen auf der Seele brennt. Keiner soll Angst haben, seine Meinung zu äußern oder in eine Ecke gestellt zu werden.
In einem Raum, in dem alle die gleichen Erfahrungen teilen, ist es einfacher, über so ein emotionales Thema zu sprechen. Aber solch einen „safe space“, einen sicheren Rahmen, will das Projekt bewusst verlassen. Das Projekt „Trialog“ möchte einen „braver space“, einen „mutigeren Raum“, eröffnen. Und es braucht tatsächlich Mut, die eigene Position zu vertreten, wenn nicht zu erwarten ist, dass alle nur zustimmen. Es braucht auch Mut, zuzugeben, wo man bei diesem schwierigen Thema unsicher ist, was man denken soll oder darf. Kann ich z.B. Israel kritisieren, ohne antisemitisch zu sein? Darf ich fragen, was daran falsch ist, sich zu verteidigen, wenn man angegriffen wurde? Genauso herausfordernd ist es aber auch, sich gegenseitig zuzuhören und die Gründe zu erfahren, warum der eine die Sache so, und die andere sie anders sieht. Und es braucht Mut, die Gefühle zuzulassen, die in einem solchen Raum entstehen.
Was Jouanna Hassoun und Shai Hoffmann Hoffnung macht, ist, dass die meisten Jugendlichen sich auf dieses Experiment einlassen. Sie freuen sich, wenn die Jugendlichen sich einander nähern, indem sie einander zuhören und den gegenseitigen Schmerz anerkennen. Die beiden wollen verhindern, dass die Gesellschaft auseinanderbricht. Das motiviert sie.
Mir machen solche Projekte Hoffnung, weil auch ich nicht will, dass unsere Gesellschaft auseinanderdriftet. Und ich frage mich, wo ich mutiger nach Gelegenheiten suchen sollte, um mit Leuten ins Gespräch zu kommen, die bei emotionalen gesellschaftlichen Themen eine andere Meinung haben. Spontan fällt mir da ein Kollege ein. Immer wieder irritiert mich, was er zum Thema Migration in seinem Status postet. Bisher habe ich es vermieden, ihn darauf anzusprechen. Aber jetzt habe ich mir fest vorgenommen, ihn zu fragen, wie er das genau meint. Ich will ihm zuhören und versuchen, seine Gründe zu verstehen. Und natürlich werde ich ihm auch meine Meinung sagen. Dazu brauche ich Mut, aber ich glaube, es lohnt sich.