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Am Sonntag ist Volkstrauertag. Ich erinnere mich daran, wie ich als Kind nach dem Gottesdienst an der Hand meiner Großmutter vor der Gedenktafel im Dorf stand und der Ortsvorsteher und der Pfarrer ein paar Worte gesprochen haben. Es ging um Krieg und Frieden. Ehrlich gesagt, habe ich das damals nicht alles verstanden. Was ich aber verstanden habe, war, dass alle, die da gewesen sind, betroffen auf die Steintafel geschaut haben, die an der Wand hing.
Darauf standen die Namen derer, die im Krieg geblieben sind. Namen von Vätern, Ehemännern, Brüdern und Söhnen. Was mir vor allem an diesem Tag in Erinnerung geblieben ist, waren die Tränen in den Augen der Männer und Frauen. Still ging man auseinander.
Die Namen auf den Tafeln sagen uns, die wir heute davorstehen, vielleicht nichts mehr.
Die Alten konnten zu jedem Namen auf der Tafel in unserem Dorf noch eine Geschichte erzählen. Der Heinrich war ein sehr talentierter Tischler, er hatte drei kleine Kinder, Otto gehörte zu den ersten Automechanikern in der Region, es hat seiner Mutter das Herz gebrochen als die Nachricht kam, dass er gefallen ist. Walter wurde direkt von der Schulbank in den Krieg gerufen und kam nie zurück.
Das ist nun über 80 Jahr her, und ihr Schicksal in weite Ferne gerückt. Vielleicht kommen heute auch deshalb nur noch eine Handvoll Menschen am Volkstrauertag, die an die Opfer der Kriege erinnern und zum Frieden in der Welt aufrufen. Dieser Ruf verdient, so finde ich, gerade in diesen Tagen breites Gehör.
Wie lang müsste die Liste mit den Namen auf den Gedenksteinen sein, wenn wir auch an die Frauen, Kinder und Männer denken, die ebenso ihr Leben verloren haben oder auf der Flucht gestorben sind? Wie lang, wenn wir an alle denken, die heute durch Terror, Krieg und Gewalt ihr Leben verlieren?
Darum sind die in Stein gemeißelten Namen für mich ein Aufruf, immer wieder neu auf dieser Welt nach Wegen des Friedens zu suchen – Die Tränen, die Trauer und das Leid, die hinter jedem Namen stehen, dürfen wir nicht vergessen. Ich möchte mich darum für den Frieden auf dieser Welt einsetzen. Auf das ganz Große habe ich keinen Einfluss, aber in meinem eignen Umfeld kann ich dafür Sorge tragen, dass wir gut und menschlich miteinander umgehen.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=40998Heute vor 84 Jahren haben deutsche Bomber im Zweiten Weltkrieg die Innenstadt von Coventry in England zerstört. Solch einen „Krieg aus der Luft“ hatte es vorher nicht gegeben. Und „Coventrieren“ wurde zu einem Begriff für die Vernichtung einer Stadt aus der Luft.
Auch von der Kirche des Ortes sind damals nur die Außenwände stehen geblieben. Im Inneren war sie total ausgebrannt. Richard Howard, der damals Probst an der Kirche von Coventry war, hat nach der Zerstörung seiner Kirche etwas getan, was zunächst einige verstört hat. In der vom englischen Radio übertragenen Weihnachtsmesse rief er die Zuhörer zur Versöhnung auf. An Versöhnung hatte mitten im Krieg gewiss keiner gedacht. Doch dem Pfarrer war dieser Aufruf wichtig, weil ihm klar geworden war, dass die Gewaltspirale zwischen den Kriegsparteien sonst nie ein Ende finden würde. Das Kriegstreiben, das eigentlich niemand will, wird sonst, wenn keiner den ersten Schritt wagt, immer nur weiter gehen.
Coventry war eine Industriestadt. Neben den Fabriken wurden 4330 Häuser und Kulturgüter zerstört. 568 Menschen sind gestorben und 850 Menschen wurden verletzt, später wurde auch London bombardiert und Dresden, Berlin und andere Städte erlebten ähnliche Schicksale. Wenn ich die Bilder von damals oder gerade auch die Bilder aus den Kriegs- und Krisengebieten unserer Tage sehe, dann lässt mich das sprachlos sein. Wie kann es sein, dass Menschen sich gegenseitig so etwas antun? Und wie kann es sein, dass wir seit damals anscheinend nichts dazu gelernt haben?
Der Probst von Coventry hat damals ein Symbol für seinen Gedanken der Versöhnung hergestellt, das die Menschen bis heute berührt: Aus zwei zerstörten Dachbalken der mittelalterlichen Kirche stellte er ein großes Kreuz in der Ruine seiner Kirche auf, später gestaltet er ein Kreuz aus drei Nägeln aus den verbrannten Balken. Die Botschaft ist klar: Christus leidet, wenn er sieht, was wir Menschen uns auf dieser Welt gegenseitig antun. Als Geschenk der Gemeinde von Coventry findet sich ein Nagelkreuz heute in der Dresdener Kreuzkirche und eines in der Kaiser -Wilhelm-Gedächtnis-Kirche in Berlin.
Es bleibt als Symbol der Hoffnung und ein Zeichen der Versöhnung und hört nicht auf, nach Frieden zu rufen: auch und gerade heute!
https://www.kirche-im-swr.de/?m=40997Bei uns in Tauberfranken liegt im November oft bis zum späteren Vormittag der Nebel in den Tälern, dazu wird es am Abend früh dunkel.
Ein trister Monat. Aber mir gefällt an dieser Zeit, dass ich in ihr so viel Ruhe finde, wie kaum zu einer anderen Jahreszeit. An frühen Abenden nehme ich mir jetzt gerne eine Decke und setze mich mit einer warmen Tasse Tee auf mein Sofa. Ich denke über die vergangenen Monate nach.
In diesem Jahr ist bei mir ganz schön viel zusammengekommen. Ich musste von mehreren lieben Menschen Abschied nehmen, die mich weite Teile meines Lebens begleitet haben. Mein Mann hat seinen Arbeitsplatz gewechselt, ein Freund bekam eine Krankheitsdiagnose, meiner Mutter ging es nicht gut. Manches liegt auf meiner Seele wie der Novembernebel in den Tälern. Das kann einen ganz schön erdrücken.
Es gibt aber auch eine andere Seit, die ich Gott sei Dank genauso aus diesem Jahr in den Blick nehmen kann: Da gab es Gutes, Schönes, Überraschendes und Gelungenes: Wir haben dieses Jahr unsere Silberhochzeit mit Freunden feiern dürfen, wir konnten mit unserem Sohn seinen Schulabschluss feiern, es gab nicht nur ein schönes Geburtstagsfest und im Urlaub habe ich in Finnland zum ersten Mal Polarlichter gesehen. Ich war völlig aus dem Häuschen, als ich das grün-violette Licht am Himmel erblickt habe. Die ganze Familie habe ich lautstark nachts um ein Uhr zusammengerufen. Damit alle dieses unglaubliche Himmelsphänomen sehen konnten. Noch jetzt staune ich darüber – Monate später im ach so tristen November.
„Alles Ding währt seine Zeit-Gottes Lieb in Ewigkeit“, heißt es in einem Kirchenlied. Mir tut der November gut, um die Dinge meines Lebens nach den übervollen Monaten zu sortieren. Das Schöne wie das Schwierige hat in diesem Jahr seinen Platz darin gefunden. Und, was sich noch nicht sortieren lässt, lege ich einfach in Gottes Liebe ab – vielleicht sortiert er es für mich, wenn nicht heute, dann vielleicht an einem anderen Abend.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=40996Heute in sechs Wochen ist Heiligabend. In diesem Jahr habe ich mir vorgenommen, soll es möglichst ruhig zugehen. Ich möchte kurz vor Weihnachten nicht noch durch Geschäfte hetzen, um ein passendes Geschenk zu finden. Also fange ich schon zwei Wochen vor dem ersten Advent mit den Vorbereitungen an, obwohl ich noch gar nicht in Weihnachtsstimmung bin. Egal, ich mache mir schon jetzt eine Liste, mit den Namen aller, die mir wichtig sind. Meine Familie, ist ja klar, dazu die besten Freunde, aber eben auch ein paar Menschen, die es dieses Jahr einfach gut mit mir gemeint haben.
Da gibt es z.B. eine ältere Dame. Sie hat mir manch gutes Wort in den vergangenen Monaten geschenkt. Mich ermahnt, mich ins Bett zu legen, wenn ich mit einer Erkältung aus dem Haus gegangen bin, mich in den Arm genommen, als ein lieber Mensch verstorben ist. Ihr möchte ich zu Weihnachten eine Karte schreiben und mich bei ihr für ihre Fürsorge bedanken.
Ich habe Kolleginnen und Kollegen. Wir helfen und unterstützen uns gegenseitig, tragen einander in schwierigen Zeiten - wir können gemeinsam Lachen und Weinen. Das ist an vielen Arbeitsplätzen nicht selbstverständlich – in diesem Jahr möchte ich sie mit selbstgebackenen Plätzchen bei einer Tasse Tee überraschen. Gemeinsame Zeit ist ein Geschenk ganz anderer Art, und oft haben wir viel zu wenig davon.
Nun, meine Liste ist noch nicht fertig, ich werde mich in den kommenden Tagen auf jeden Fall weiter daransetzen. Denn, was ich nicht gedacht habe, ist, dass mir das Aufschreiben der Namen all dieser Menschen große Freude bereitet. So viele waren für mich in den vergangenen Wochen und Monaten da, das ist so schön. Die Liste ist eigentlich ein Geschenk für mich und das fühlt sich ganz und gar anders an als der Druck, kurz vor Weihnachten schnell noch irgendwas besorgen zu müssen. Und ich habe schon ein paar wirklich schöne Ideen, die ich nun gerne in Ruhe angehe.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=40995Als unser Sohn noch klein war und am 11. November abends nach einem Martinsumzug mit Musikkapelle und Pferd nach Hause gekommen ist, da war für ihn eines klar: „Teilen ist cool!“.
Im Kindergarten wurden die Laternen - auch mit den Allerkleinsten -selbst gebastelt. Mit viel Liebe entstanden durch die Jahre bunte Kugeln, leuchtende Igel und andere farbenfrohe Modelle, die im Kinderzimmer aufbewahrt werden mussten. Während des Bastelns haben die Erzieherinnen den Kindern die Legende von St. Martin erzählt: Martin war ein römischer Soldat, der mit einem Bettler, als er ihn in Schnee und Eis frierend vor dem Stadttor sitzen saß, seinen Mantel geteilt hat. Und das nicht irgendwie, sondern mit einem großen Schwert. Martin hatte Mitleid mit diesem Mann, andere Menschen offensichtlich nicht. Von Sankt Martin kann man lernen, zu teilen.
„Teilen ist cool“ – diese Botschaft ist bei unserem Sohn damals eindeutig angekommen.
Eine Zeitlang wurde in der Folge des Martinstages darum alles von ihm bei uns zu Hause geteilt: ob Butterbrote oder Süßigkeiten - am besten mit einem Holzschwert.
Nun, diese Leidenschaft hat im Laufe der Jahre ein wenig nachgelassen, geblieben aber ist noch eines: Noch heute, wenn unser inzwischen erwachsener Sohn am Straßenrand einen Bettler sitzen sieht, zieht er selten einfach an ihm vorbei. Er holt seinen Geldbeutel heraus und gibt ihm eine Münze oder besorgt heißen Kaffee oder etwas zu essen – und manchmal ergibt sich daraus auch ein Gespräch. Er mag einen Menschen nicht einfach so sitzen lassen.
Mit der Sankt Martinsgeschichte haben die Erzieherinnen unserem Sohn auf gute Weise eine Haltung zu anderen Menschen in sein Herz eingeschrieben. Dafür bin ich ihnen noch heute sehr dankbar. Einen Blick für andere Menschen zu haben, die einem im Alltag begegnen, und nicht nur bei sich selbst stehenzubleiben, ist ein besonderes Geschenk.
Heute ist wieder Martinstag und die Kinder ziehen mit ihren Eltern singend mit Laternen in der Hand durch die Straßen. Und ganz bestimmt findet Sankt Martin heute Abend auch neue Fans, die für ihr Leben mitnehmen, dass „Teilen cool ist.“
https://www.kirche-im-swr.de/?m=40994In Tübingen gibt es gerade ein interessantes Experiment. Es heißt „Leer-Raum“[1] und findet in der evangelischen Stiftskirche statt. Alle Bänke wurden abmontiert, was den Eindruck, den die Kirche sonst macht, völlig verändert. Es ermöglicht zudem ganz andere, neue Möglichkeiten, den Raum zu nutzen.
Die Stiftskirche ist die mit Abstand größte Kirche in Tübingen, fast so etwas wie ihr Wahrzeichen, weil sich dort vieles abspielt, was für die Stadtgesellschaft wichtig ist. Auch die Gedenkstunde zur Reichspogromnacht morgen. Denn in Tübingen wurde am 9. November 1938 wie in vielen anderen Städten die Synagoge geplündert und niedergebrannt. Politik und Kirche, Schulen und Vereine erinnern daran und mahnen, dass dies nie wieder geschehen darf. Wie wichtig und aktuell das in diesen Zeiten wieder ist!
Die Feier morgen in der Stiftskirche wird in diesem Jahr wohl etwas anders aussehen, weil der Kirchenraum fast leer ist. Da stehen eben keine dicht gedrängten Bänke, die einen zwingen zu sitzen und verhindern, dass eine Bewegung entstehen könnte, oder ein Gespräch. Jede kann sich ihren Platz suchen, wo sie sein will, mit anderen zusammenstehen, die sie sich auswählt, oder ganz für sich sein, fast versteckt hinter einer Säule. Plötzlich kann man in der Kirche tanzen und die Orgel neu hören, weil sich in der leeren Kirche natürlich auch die Akustik verändert. Oder man schweigt einfach, genießt die Weite des großen Kirchenschiffs, den Raum, der auf einmal da ist, wenn alles weg ist, was sonst stört. Wenn sonst die Redner vorne stehen, auf Distanz und von hinten kaum zu sehen, können sie nun in der Mitte stehen und alle die zuhören, drum herum. Musiker können sich mit ihren Instrumenten in der Kirche verteilen und den Raum ganz anders mit Klang erfüllen. Es ist möglich, ein Glas Wein miteinander zu trinken und Brot zu teilen.
Ich weiß nicht, wie die Feier zur Reichpogromnacht morgen gestaltet sein wird. Aber was ich ahne: In dem leeren, offenen Raum wird der Geist sich freier entfalten können – der Geist Gottes in den Gedanken der Menschen. Egal ob sie Christen sind oder Juden oder gar nicht religiös, egal ob Schüler oder Professoren, egal welcher politischen Partei sie angehören. Solche Leer-Räume brauchen wir, die nicht festgelegt sind, sondern offen – für spontane Bewegung, für unerwartete Begegnung, für ungeahnte Begeisterung.
[1]https://www.leerraum-tuebingen.de
https://www.kirche-im-swr.de/?m=40976Als ich 1983 mein Abitur gemacht habe, sind amerikanische Mittelstreckenwaffen in Deutschland stationiert worden. Mit Atomsprengköpfen, zur Abschreckung gegenüber Russland. Ich war damals dagegen wie viele meiner Generation, weil wir es für sinnlos gehalten haben mit Waffen zu drohen. Ich hatte deshalb auch einen Aufkleber auf meinem Auto, auf dem stand: Schwerter zu Pflugscharen. Heute nach über vierzig Jahren ist für mich das dazugehörende Bibelzitat aktueller denn je: Dann werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen umschmieden und ihre Lanzen zu Winzermessern. Sie erheben nicht das Schwert, Nation gegen Nation, und sie erlernen nicht mehr den Krieg[1]. Diese Vision einer friedlichen Welt hat der Prophet Jesaja festgehalten. Weil es für ihn der Plan ist, den Gott mit seiner Welt hat. Und solange es nicht so ist, so lange hat Gott sich nicht durchsetzen können, und es wird Lügen gestraft, was ihm wichtig ist.
2026 sollen in Deutschland neue Raketen stationiert werden. Aus dem gleichen Grund wie einst. Ich kann es nicht fassen, dass wir einfach nicht weiterkommen, dass die Menschheit in der Spirale der Gewalt stecken bleibt. Mein Auto hätte Platz für den alten Aufkleber. Aber ob der was nützt? Schließlich muss man doch den Realitäten ins Auge blicken. Ja, das muss man, und ich mache das auch. Ich weiß, dass Russland die Ukraine angegriffen hat. Ich weiß, dass Israel eingekesselt ist von Nachbarn, die das kleine Land ausradieren wollen. Aber ich weiß auch, dass Waffen keine Lösung sind, dass Abschreckung nie zu echtem Frieden führen kann. Und ich leide darunter, dass ich keine Lösung parat habe. So wenig, wie alle anderen, die dem Krieg ein Ende machen wollen. Ich bin fest davon überzeugt, dass die einzige Möglichkeit darin besteht, die Spirale der Gewalt zu unterbrechen. Aus diesem Grund gibt Jesus den heiklen Rat, die andere Wange auch noch hinzuhalten. Ghandi propagiert den gewaltlosen Widerstand. Ich bin nicht in der Position, anderen so einen Ratschlag zu geben. Weil ich weiß: das klingt wie Hohn in den Ohren derer, die unschuldig angegriffen wurden. Gibt es also keinen Weg, der aus dieser Zwickmühle herausführt?
Politik ist oft ein deprimierendes Geschäft. Wenn Vertrauen einmal verspielt ist, wird es schwer sich zu verständigen, den anderen zu verstehen. Dagegen aber kann man sehr wohl etwas tun. Vertrauensbildende Maßnahmen heißt es, wenn sich Gegner an einen Tisch setzen, wenn kluge Verträge geschlossen werden. Wenn immer und immer wieder Menschen des einen Landes sich mit denen des anderen treffen und gemeinsam etwas auf die Beine stellen. Nur über Vertrauen entsteht Frieden. Und da ist auf allen Seiten noch viel Luft nach oben.
[1] Jesaja 2,4
https://www.kirche-im-swr.de/?m=40975Beim Wandern in Südbaden komme ich an eine schöne Stelle. Wo man einen traumhaften Ausblick ins Rheintal hat. Vor mir die Ausläufer des Schwarzwalds, am Horizont die Vogesen, und dazwischen die vielen Straßen und Wege, auf denen Menschen von A nach B unterwegs sind. Es ist ein besonderer Ort, an dem ich stehe. Das haben vor mir schon andere bemerkt und deshalb dort auch Bänke aufgestellt, zum Ausruhen und Schauen. Auf eine setze ich mich, ruhe und schaue. Das mache ich nicht oft, weil ich es wohl nicht so gut kann. Sondern eher unruhig und ungeduldig bin. Aber hier funktioniert es.
Erst versuche ich ein bisschen Ordnung in das zu bringen, was mein Auge wahrnimmt. Wo Frankreich beginnt, wo ich dort im Elsass schon war, wo wohl die Grenze verläuft. Welche Rebsorten es sein könnten drüben am Hang, weil das Laub unterschiedlich gefärbt ist. Ich sehe ein paar Wanderer und die Autos auf der Straße weiter unten, winzig klein. Und auf einmal verändert sich mein Blick. Er geht buchstäblich von außen nach innen. Wie groß schon dieser kleine Ausschnitt von Welt ist, den ich gerade anschaue, und wie groß dann erst die ganze Welt. Und ich auf dieser Bank, quasi ein „Nichts“.
Vor vielen, vielen tausend Jahren ist die Oberfläche im Rheintal so geformt worden, wie sie heute ist, wie ich sie kenne und jetzt sehe, wie sie auf allen Karten dargestellt wird. Aber erst der Rhein, als er noch so viel mehr Wasser geführt hat wie heute, hat das Tal so breit gemacht und die Berge hüben und drüben aufgerichtet. Nun sitze ich nicht mehr nur und schaue, sondern ich staune. Ich staune über das Ungeheure, das Unvorstellbare, das ich da sehe. Welche Kräfte hinter all dem stecken. Wie kunstvoll und schön die Landschaft ist und wie viel Nutzen wir Menschen daraus ziehen. Wein und Äpfel, Straßen und Wälder. Auch welchen Stempel wir der Welt dadurch aufdrücken. Und schließlich staune ich darüber, wie selbstverständlich das alles für mich normalerweise ist. Als ob es gar nicht anders sein könnte. Als ob die Welt nur für mich so gemacht wäre, dass ich alles habe, was ich zum Leben brauche.
Aber das ist nicht so. Und auch das wird mir in diesen Augenblicken da auf der Bank über dem Rheintal bewusst. Nichts ist selbstverständlich von dem, was ich sehe. Und von dem, was ich habe, auch nicht. Und vielleicht verstehe ich zum ersten Mal wirklich, was der Psalmist meint, wenn er schreibt: Ich danke dir, dass du mich so wunderbar gestaltet hast. / Ich weiß: Staunenswert sind deine Werke.[1]
[1] Psalm 139,14
https://www.kirche-im-swr.de/?m=40974Angst zu haben, das gehört zu uns Menschen. Ängste sind wichtig, damit wir, wenn’s darauf ankommt, die Flucht ergreifen. Dieser Urinstinkt hilft uns, nicht unnötig in eine Gefahr hineinzulaufen. Wenn die Ängste aber außer Kontrolle geraten, wenn sie uns überwältigen, dann wird das Leben zur Hölle, und wir laufen auch dann weg, wenn gar keine echte Gefahr besteht. Deshalb sollte man mit der Angst von Menschen kein Spiel treiben. Aber genau das versuchen manche, leider auch die, die politische Verantwortung tragen. Weil sie wissen: Es ist eine Möglichkeit, Menschen zu beeinflussen. Ängste zu schüren, ist aber brandgefährlich!
Donald Trump hat genau das getan, als er im Fernsehduell mit Kamala Harris behauptet hat, dass die Flüchtlinge Hunde und Katzen fangen und essen. Ich liebe meinen Hund; und wenn ich mir das Bild vorstelle, das Trump hervorruft, dann graut es mir. Ich könnte denken: „Der wird verhindern, dass das passiert, also wähle ich den.“ Angst vor dem Fremden zu schüren, war und ist immer ein beliebtes Mittel, um auf Stimmenfang zu gehen. Leider hat das auch die Kirche lange praktiziert. Sie hat den Menschen Angst gemacht vor der Hölle, ihnen gedroht, um sie in ihrem Sinn gefügig zu machen, damit sie nicht auf vermeintlich falsche Gedanken kommen. Als ob sie die Wahrheit gepachtet hätte. Als ob es keine andere Meinung geben könnte.
Manchmal kommt es mir vor, als ob unsere Welt ein Stammtisch wäre. Man kann behaupten, was man will. Egal, ob es überhaupt wahr sein kann, oder doch falsch ist. Wer bei uns Asyl sucht, ist nicht grundsätzlich faul. Die Hautfarbe sagt nichts über den Charakter. Nicht jeder Priester vergreift sich an Kindern. Am Stammtisch geht es darum, wer am lautesten schreit und wem es gelingt, die Gefühle der anderen für sich zu gewinnen. Gefühle sind eine sensible Angelegenheit. Sie gehören zu uns, machen uns manchmal erst menschlich. Wer sie missbraucht, trifft uns an einer Stelle, wo wir besonders verwundbar sind. Deshalb bleibe ich vorsichtig. Wer leere Phrasen drischt, dem vertraue ich nicht. Wer es darauf anlegt, meine Gefühle zu manipulieren, den meide ich. Und halte mich um so mehr an die, die leise sind und nachdenklich und vorsichtig und zart.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=40973Ein Orchester aus Russen und Ukrainern. Bringt das was für den Frieden? Iván Fischer ist fest davon überzeugt, dass es so ist. Fischer stammt aus Ungarn und ist Jude. Er ist Dirigent von Weltrang, dirigiert in den USA und in Israel, in Wien und natürlich in Budapest. So zuletzt am 31. August dieses Jahres bei einem Konzert für den Frieden, kostenlos für alle auf dem Heldenplatz der ungarischen Hauptstadt. Das interessante dabei ist: Das Orchester war zusammengesetzt aus Russen und Ukrainern, aus Israelis und Arabern. Das soll zeigen, dass Musik Ängste und Misstrauen abbauen kann. Der Dirigent Iván Fischer formuliert es so: „Mit der Musik wollen wir unsere gemeinsame Hoffnung zum Ausdruck bringen, dass das durch den bewaffneten Konflikt verursachte Leid ein Ende haben kann und die Zukunft von gegenseitigem Respekt und Frieden geprägt sein wird.[1]“ Schon früher hat Fischer solche Konzerte organisiert und als junger Dirigent das Budapest Festival Orchestra gegründet – ganz ausdrücklich zur Verständigung mit den Juden in seinem Heimatland Ungarn.
Ich höre gern Musik, besonders am Abend. Dann lasse ich oft nochmals vorüberziehen, was den Tag über so war. Nicht nur, was sich bei mir so getan hat, sondern auch, was in der großen weiten Welt passiert ist. Oft bin ich dann niedergeschlagen oder traurig. Weil es so viel Schlimmes gibt, und weil ich an die vielen Unschuldigen denken muss, die unter den Kriegen in ihrem Land leiden. Aber auch, weil ich mich so hilflos fühle. Ich bin kein berühmter Dirigent. Was kann ich tun, dass sich an diesem Hass etwas ändert? Mit dieser Frage bleibe ich dann oft ratlos zurück.
Manchmal frage ich aber auch, ob das stimmt, und ob das Wenige, das Kleine und Unscheinbare, das mir möglich ist, wirklich so rein gar nichts bringt. Immerhin bete ich für die Armen und Ausgebombten. Ich betone in Diskussionen wie wichtig es ist nicht nur vom Krieg und den Waffen zu sprechen, sondern so oft wie möglich über den Frieden. Ich rufe hier im Radio zur Verständigung auf, weil böse Gedanken und Hass im Kleinen, im eigenen Herzen beginnen. Ich suche den Kontakt mit Andersdenkenden. Ich versuche zuzuhören und zu verstehen, warum andere anders denken als ich. Und ich mache den Mund auf, wo ich sehe, dass jemand sich rücksichtslos verhält.
Das sind Kleinigkeiten im Vergleich mit der großen Gewalt eines Krieges. Aber es ist das, was ich tun kann. Kleine Zeichen. Und ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass auch sie etwas bewirken.
[1]https://ungarnheute.hu/news/budapester-festivalorchester-veranstaltet-kostenloses-friedenskonzert-auf-dem-heldenplatz-75667/#:~:text=Ungarn%20Heute%202024.08.08.&text=Iván%20Fischer%20und%20das%20Budapester,Respekt%2C%20Freundschaft%20und%20Liebe%20werben.
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