Alle Beiträge

Die Texte unserer Sendungen in den SWR-Programmen können Sie nachlesen und für private Zwecke nutzen.
Klicken Sie unten die gewünschte Sendung an.

Filter
zurücksetzen

Filter

Datum

SWR2

 

Autor*in

 

Archiv

SWR2 Wort zum Tag

01MAI2023
AnhörenDownload
DruckenAutor*in

„Selig, die hungern und dürsten nach Gerechtigkeit! (Matth 5,6)

Dieses Wort von Jesus aus der Bergpredigt könnte heute über dem 1. Mai stehen.
Es geht am 1. Mai um den Hunger nach sozialer Gerechtigkeit. Mitte des 19. Jahrhunderts haben Arbeitende illegal gestreikt – sind für ihre Forderungen auf die Straße gegangen – unter Gefahr für Leib und Leben – mit der Angst, ihre Arbeit zu verlieren. Die Arbeitsbedingungen waren unmenschlich.
Da rief 1886 die Arbeiterbewegung in den USA am 1. Mai zum Generalstreik auf: 8 Stunden pro Tag arbeiten - und nicht länger. Seither wurde der 1. Mai als „Kampftag der Arbeiterbewegung“ bezeichnet. In seiner langen Geschichte hatte er auch sehr andere Gesichter:
Im Nationalsozialismus wurde der 1. Mai 1933 gesetzlicher Feiertag und stand unter der Überschrift „Tag der nationalen Arbeit“. Ein Jahr darauf wurde er zum „nationalen Feiertag des deutschen Volkes“ erklärt.  Später, unter kommunistischer Diktatur, ist der 1. Mai zu einem Tag der Lobgesänge auf die Arbeiterschaft und ihrer Produktionserfolge verkommen - zur Huldigung der Herrschenden und ihrer Herrschaft. Keine Spur mehr von Protest, von einem Hungern und Dürsten nach Gerechtigkeit.

Wie ist das heute bei uns? Hierzulande können sich Menschen in unabhängigen Gewerkschaften frei organisieren. Dazu passt Jesu Aufruf: „Selig, die hungern und dürsten nach Gerechtigkeit – sie sollen satt werden!“ Ich stelle mit vor: Menschen gehen in einem Betrieb zur Arbeit.

Die einen arbeiten in der Fertigung, in der Materialausgabe oder im Reinigungsdienst.
Andere sind als sogenannte „Führungskräfte und Leistungsträger“ in der Entwicklung, in der Personalabteilung oder im Firmenvorstand tätig. Die einen wie die anderen bringen ihre Lebensenergien ein, Tag für die Tag. Für die einen reicht der Lohn für Miete, Essen und Kleidung, für ein auskömmliches Leben - hoffentlich. Andere bekommen mitunter das X-fache für ihre Arbeit bezahlt.

Wofür? Und warum eigentlich? Gewerkschaften wehren sich gegen eine solche krasse Einkommensschere. Sie könnten sich dabei auf Jesus berufen.

Denn der hat einmal folgende Geschichte erzählt: Ein Weinbergbesitzer stellt Tagelöhner ein (Matth 20). Die einen arbeiten den ganzen Tag, von morgens früh bis spät abends. Andere nur ein paar Stunden bis zum Feierabend. Bei der Lohnauszahlung gibt es Ärger. Die, die den ganzen Tag gearbeitet haben, bekommen einen Denar. Wie vereinbart. Das ist ein angemessener Lohn und reicht üppig für alles, was sie brauchen. Aber es ist nicht mehr als das, was die bekommen, die nur ein paar Stunden gearbeitet haben. Die haben nämlich auch einen Denar bekommen. Das ist für ihr Empfinden ungerecht. Gleicher Lohn für gleiche Arbeit – das wäre doch gerecht! Aber: Gleicher Lohn für eine ungleich lange Arbeitszeit? Eine Ungerechtigkeit auf den ersten Blick. Die irritiert.

Offenbar gibt es bei Jesus noch ein anderes Kriterium als nur allein die Dauer der Arbeitszeit: Es soll für alle so viel geben, wie ein Mensch zum Leben braucht. Ganz gleich, was und wie viel er oder sie leistet. Denn darauf zielen seine Wort ab: „Selig, die hungern und dürsten nach Gerechtigkeit! – sie sollen satt werden.“ Und zwar alle.

Das erinnert mich  an den Bericht von einem Freund, der Ende der 50er Jahre Israel bereist hat. Er hat erlebt, wie dort in landwirtschaftlichen Gemeinschaften alle mit einem Einheitslohn gut leben konnten. Von diesem Geist ist auch heute in den Gewerkschaften noch etwas lebendig:
Immer stärker setzen sie sich für Niedriglohngruppen ein – für Sockelbeträge und Einmalzahlungen. Denn eine rein prozentuale Lohnerhöhung begünstigt ja vor allem diejenigen, die schon viel verdienen.

Und wie ist das mit meinem Einkommen? Wenn ich einkaufe, sehe ich in den Läden Gemüse, Kleidung oder Elektrogeräte zu Niedrigstpreisen. Aus fernen Ländern. Ich frage mich: Wie kann ein Mensch und wie eine Familie von so einem Arbeitslohn leben? Deswegen fordern immer mehr Menschen einen globalen Mindestlohn. Damit alle, die hungern und dürsten nach Gerechtigkeit, satt werden.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=37542
weiterlesen...

SWR2 Wort zum Tag

11FEB2023
AnhörenDownload
DruckenAutor*in

„Der Mensch ist die Medizin des Menschen.“
Dieses Wort steht so im Eingangsbereich des Paul-Lechler-Krankenhauses in Tübingen. Gegründet und bekannt geworden ist es als ein Krankenhaus für Tropen- und Reisemedizin.

Ich finde es erstaunlich, dass ein Krankenhaus mit diesem Wort Besucher und Patienten begrüßt: „Der Mensch ist die Medizin des Menschen.“*  Keine Frage: Auch in dieser Klinik werden Medikamente verabreicht.
Und mit dieser Weisheit sollen keineswegs moderne Diagnosemethoden oder moderne medizinische Apparate gering geschätzt werden.

Doch alle, die das Krankenhaus betreten und verlassen – auch Ärztinnen und Ärzte sowie Pflegende - haben das täglich vor Augen: Nicht die Apparate allein versprechen Heilung. Eine Medizin ohne Menschen verliert heilende Kräfte.

Ich erfahre das gerade ab meiner hochbetagten Mutter. Sie hat sich den rechtenArm gebrochen. Sie braucht Hilfe für so gut wie alles. Im Haushalt, beim Anziehen, beim Essen bereiten, bei allen alltäglichen Verrichtungen. Und wie schön ist es dann, wenn helfende Hände da sind: Menschen, die pflegen, die unterstützen, wo es nur geht. Und Geselligkeit gehört dazu: Austausch und Beachtung, ein menschliches Miteinander. Ohne das verkümmern alle Kräfte – im Krankenhaus oder daheim. Wie hat das meiner Mutter geholfen, als sie für zwei Wochen zu Besuch bei ihrem Bruder sein konnte – mit eingegipstem rechten Arm – aber nicht allein.

„Der Mensch ist die Medizin des Menschen.“
Das können auch Nachbarn sein, das können Geschwister, Kinder und Kindeskinder sein. Liebevolle Kontakte und Zuwendungen haben heilende Wirkung. Die kann keine Pille und kein medizinisches Hightech-Gerät ersetzen.

Der Verfasser des biblischen Jakobusbriefes schreibt lange bevor es wissenschaftlich gesicherte medizinische Erkenntnisse gibt. Aber mit dem Leitspruch der Tübinger Tropenklinik ist er sich einig: Wer krank ist, braucht Besuch, braucht Menschen um sich, schreibt er. Wer krank ist, braucht Berührung, soll mit Öl gesalbt werden. Und als drittes ein Gebet. Für das Gebet wird extra erwähnt: Sprecht voreinander gegenseitig eure Versäumnisse und Schuld aus. Das entlastet. (Jakobus 5,13-16)

 „Der Mensch ist die Medizin des Menschen.“

Was mich ohne krank zu sein stärkt, das gilt erst recht, wenn ich nicht bei Kräften bin. Wir Menschen brauchen für unser Heil- und Gesundwerden andere Menschen. Besuche vornean. Vielleicht ist schon an diesem Wochenende Zeit dazu.

* s.a. Internetauftritt:  https://mail.tropenklinik.de/home/

https://www.kirche-im-swr.de/?m=37072
weiterlesen...

SWR2 Wort zum Tag

09FEB2023
AnhörenDownload
DruckenAutor*in

Wie viele Menschen bete auch ich gern den 23. Psalm:
„Der Herr ist mein Hirte: Mir wird nichts mangeln:
Grüne Auen und frisches Wasser, Schutz in finstern Tälern.
Aber mittendrin taucht eine Zeile auf, die mich beim Beten schon oft gestört hat.
„Gott, du bereitest vor mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde!“

Nachdem der Betende all das vor Gott ausgepackt hat, was ihn mit Freude erfüllt, und was ihn durch alle Untiefen des Lebens trägt, taucht plötzlich dieses Bild auf:
Gottes gedeckter Tisch – und mir gegenüber Feinde. Vis à vis, face to face, in ihrer Gegenwart essen und trinken. Etwa zum Trotz? Was soll dieses Bild eigentlich? Gewiss: Es gibt Menschen, die einem nichts Gutes wollen. Die kann es in der Familie, in der Nachbarschaft oder bei der Arbeit geben.

Eben in dieser Welt – in der ich nicht nur Frieden und Liebe und Ermutigung erfahre, sondern auch Neid und Missgunst. Und zugleich ist diese wunderbare Erfahrung möglich: ein gedeckter Tisch. Und noch mehr: Beschenkt mit Essen und Trinken und Anerkennung von Gott - Fülle des Lebens!
So heißt es nämlich in dem Gebet weiter: „Du salbst mein Haupt mit Öl - und schenkst mir voll ein.“

Ich denke inzwischen, das soll mir sagen: Gottes Güte widerfährt mir schon in einer noch nicht erlösten Welt, in einer Welt, in der es Neid und Betrug und Feindschaft gibt. Das alles können wir nicht aus der Welt schaffen. Es gibt Feinde, Menschen, die mir Böses wollen, die mich bedrängen. Sie sind einfach da - aus welchen Gründen auch immer.

Manchmal kann ich es nachvollziehen – manchmal auch gar nicht. Es liegt an mir, dass ich mich nicht in diese Feind-Vorstellung verbeiße. Ich kann mit und neben ihnen leben – zugleich von Gott versorgt – behütet und gesegnet.
Jesus wusste das auch. Er hat aus jüdischer Weisheit geschöpft – aus dem Buch der Sprüche (Spr 20,22; 24,17; 25,21) als er dazu aufgerufen hat: „Liebet eure Feinde!“

Auch die Liebe schafft Feinde nicht zwingend aus der Welt. Sie bleiben da. Doch die Liebe kann helfen, meine Ängste vor ihnen abzubauen. Gerade wenn ich darauf vertraue: „DU bereitest vor mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde.“ Kann sein, solches Vertrauen hilft mir auch dabei, Türen zu öffnen. Kann sein, ich kann so verfeindete Menschen in ihrer Ablehnung gegen mich irritieren.

Und vielleicht ist ja sogar noch ein Platz an meinem Tisch frei. Ich lade ein - und sie setzen sich dazu. Könnte ja vorkommen. Manchmal bewegt sich da was – zum Frieden.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=37070
weiterlesen...

SWR2 Wort zum Tag

31DEZ2022
AnhörenDownload
DruckenAutor*in

Eine eigenartige Zeit ist das - diese Tage zwischen Weihnachten und Neujahr. Ich empfinde jedes Jahr dabei eine Spannung: Eben noch Kerzenlicht und „Stille Nacht!“ – und dann – mit einem Mal: Feuerwerk und hoch die Tassen. Manchen nennen diese Tage auch „die Zeit zwischen den Jahren“. Was soll das heißen: „zwischen den Jahren“? 
Dafür gibt es eine historische Erklärung: Im römischen Reich wurde im 2. Jahrhundert mit der Einführung des neuen Kalenders der Neujahrstag auf den 1. Januar gelegt. In der Christenheit wurde dann später - im 4.Jahrhundert - der Tag der Geburt Jesu zum Neujahrstag. So leben wir von der Geschichte her betrachtet – wenn auch unbewusst – zwischen Weihnachten und Neujahr „zwischen den Jahren“, nämlich zwischen zwei gesetzten Neuanfängen unterschiedlicher Natur.

Am morgigen Neujahrstag – am 1. Januar – beginnt das neue Geschäftsjahr. Inventuren, Bilanzen und Abrechnungen stehen an. Und das nach einem Jahr der großen Krisen! Auch im Privaten liegen schmerzhafte Erfahrungen hinter mir und wahrscheinlich auch hinter vielen von Ihnen. Gerade in so schweren Zeiten fällt das Neuanfangen alles andere als leicht.

Wie wäre es da, wenn wir die zwei Anfänge miteinander innerlich verbinden:
Jesu Geburt mit dem profanen Beginn eines neuen Kalenderjahres? Dann stünden die profanen Ereignisse – alles was war und was kommt – von Anfang an im Hoffnungslicht der Weihnacht. Von dem Licht, das mit Jesus in die Welt gekommen ist, rückten die Alltagsgeschäfte und all die dunklen Schatten unserer Zeiten in ein Licht der Hoffnung. So wie es in der Bibel heißt: Jesus ist in die Finsternisse dieser Welt gekommen. Gerade die dunklen und schweren Erfahrungen, die Sorgen und Nöte, stehen im Licht seiner Geburt.
Das wäre dann ein Jahresanfang, der strahlt. Darum freue ich mich in diesem Jahr besonders an Christbäumen, die weiter in der Dunkelheit leuchten. Bis Silvester und ins neue Jahr hinein.

Denn die Hoffnung auf Frieden soll nicht verlöschen. Mit dem Licht der Weihnacht im Rücken ins neue Jahr gehen! In das Jahr 2023 nach Christi Geburt! Dann leuchten am letzten Tag des Jahres auch die Lichterfahrungen des vergangenen Jahres noch einmal auf. Schöne Begegnungen, Trostworte und neue Aufbrüche, die es auch gegeben hat. Wer im Licht der Geburt Jesu ein neues Jahr beginnt – wer den Frieden und die Liebe an den Anfang stellt – der kann hoffentlich auch ohne Bitterkeit vom alten Jahr Abschied nehmen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=36783
weiterlesen...

SWR2 Wort zum Tag

30DEZ2022
AnhörenDownload
DruckenAutor*in

Heute ist nach katholischem Festkalender der „Festtag der Heiligen Familie“. Nicht von ungefähr in der Weihnachtszeit. Denn zur Heiligen Familie gehören die Hauptpersonen der Weihnachtsgeschichte: Jesus, Maria und Joseph.

Aber auch eine Alltagserfahrung spricht für diesen Zeitpunkt. Denn selten ist die Erwartung an Familien so groß wie an Weihnachten. Da muss alles stimmen - und wehe, wenn nicht! Bekanntlich gibt es nie so häufig Familienkrach wie in der Weihnachtszeit. Und heute nun: Das Fest der Heiligen Familie. Doch was ist an dieser Familie eigentlich so „heilig“ – also so „besonders“?

Ich blicke heute auf Joseph. Mir als Vater gibt er besonders zu denken. In der Weihnachtsgeschichte ist er eine Randfigur. So wie auf einem Gemälde von Hieronymus Bosch.* Da sieht man Joseph als Windel waschenden Vater außerhalb vom Stall. Eine unscheinbare, dienende Figur. Ein Vater im Care-Bereich.

Ich erinnere mich auch an Holzskulpturen: Da habe ich Joseph als Erzieher und Lehrer gesehen – wie er Jesus Lesen und Schreiben beibringt. Und manchmal ist der Zimmermann Joseph auch als Berufsausbilder seines Sohnes dargestellt.

In der Bibel ist er längst nicht so präsent wie Maria. Da muss er wegen seiner Herkunft mit der schwangeren Maria nach Bethlehem zur Volkszählung. Aber das war´s dann schon. Nur beim Evangelisten Matthäus bekommt er eine wichtige Rolle: Da ist Joseph empfänglich für die Traumbotschaften des Engels und bleibt bei der so unerklärlich schwanger gewordenen Maria. Er läuft vor der Mutter und ihrem Kind nicht weg. Er steht ihr bei. Er bringt das Kind vor bösen Machthabern in Sicherheit.

Neben alledem imponiert mir dieser Joseph noch aus einem anderen Grund:
In der Tradition wird er oft als „Ziehvater“** bezeichnet. Damit soll gesagt sein: Joseph tut das alles nicht als leiblicher Vater. Vaterschaft ist in der Heiligen Familie offenbar nicht biologisch definiert.

Familie ist da, wie es heute oft heißt, wo Kinder mit Erwachsenen zusammen leben und aufwachsen. Joseph ist für mich darin zum Schutzpatron der sozialen Vaterschaft geworden. Auch der sozialen Eltern- und Großelternschaft. Ein Schutzpatron all derer, die sich Kindern zuwenden, egal ob es die Leiblichen sind oder nicht. Da sind Erziehende, Lehrerinnen und Lehrer eingeschlossen. So wie das Jesus später selber vorgelebt hat: Einander annehmen wie Schwestern und Brüder – egal welcher Abstammung ein Mensch ist.

Die heilige Familie in der Bibel ermutigt dazu. Sie ist so besonders, eben heilig, weil sie die Vorstellung von Familie so heilsam weitet.

*    Hieroymus Bosch, Anbetung der Könige (1496/97), linke Tafel  
**  s. wikipedia Artikel: „Heilige Familie“

https://www.kirche-im-swr.de/?m=36782
weiterlesen...

SWR2 Wort zum Tag

29DEZ2022
AnhörenDownload
DruckenAutor*in

Wie schnell vergehen doch die Festtage. Das Licht der Krippenspiele und der Glanz der Lieder verblassen. Da frage ich mich auch: Wo steckt Jesus eigentlich nach der heiligen Nacht? Die Hirten mit ihren Herden sind weitergezogen. Die Krippe im Stall ist leer. Jesus scheint verschwunden. War´s das? Das Wunder der Weihnacht - nur eine schöne Vision, die verblasst und vergeht?

Der französische Dichter Jean Anouilh (1910-1987) hat diese Leere und diesen Zweifel in einem Gedicht nachempfunden. Sein Gedicht heißt „Das verlorene Jesuskind“. Ich muss es in der Weihnachtszeit wieder und wieder hören.*
Das Gedicht hat drei Strophen. In der letzten Strophe heißt es:

"Die Könige sind gegangen, sie sind schon klein und fern; 
die Hirten auf dem Felde, sie sehn nicht mehr den Stern. 
Die Nacht wird kalt und finster - erloschen ist das Licht. 
Die armen Menschen seufzen: Nein, nein, das war Er nicht!
Doch rufen sie noch immer: „Wo bist du, Jesuskind?" 

Für Jean Anouilh hört die Suche nach Jesus offenbar nicht auf - über alle Zeiten hinweg - bis heute. Die Welt ist voll bitterer Erfahrungen – von Gewalt und Unfrieden. Da verstummt der Ruf nach einer heilen Welt und heilvollen Zeiten nicht, der Ruf nach einem, mit dem endlich - wie vom Engel vor Bethlehem verheißen - „Frieden auf Erden“ kommt.

Aber Jan Anouilh gibt nicht nur den Seufzern der Armen und Kranken eine Stimme. Auf die bohrende Frage „Wo bist du, Jesuskind?" gibt in seinem Gedicht Jesus selber eine Antwort. Dreimal – in der letzten Zeile der Strophen - antwortet Jesus wie aus dem Off. Und zwar so:

"Ich bin im Herzen der Armen, die ganz vergessen sind."
"Ich bin im Herzen der Kranken, die arm und einsam sind."
"Ich bin im Herzen der Menschen, die ohne Hoffnung sind." 

Genau so kann ich mir das auch vorstellen. Da ist Jesus. Dort kann er und kann sein Geist eine Wohnung finden.

Für mich ist Anouilhs Gedicht ein poetischer Edelstein. Gerade dann, wenn sich bei mir Zweifel einstellen, wenn ich die Hoffnung aus den Augen verliere, wenn Jesus so gar nicht mehr greifbar ist, dann ist das die Antwort, die mich weiter trägt: Er wohnt im Herzen. Realer Trost ist mir das, kein Herz-Jesu Kitsch. Ich habe das an Armen, Verzweifelten und Kranken erlebt. Und an mir selber. Im Herzen der Menschen strahlt das Licht der Weihnacht weiter – strahlt Jesus selber.

* CD: Thomas Friz, Klaus Wuckelt - Ich steh an deiner Krippen hier..., 1995.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=36781
weiterlesen...

SWR2 Wort zum Tag

16NOV2022
AnhörenDownload
DruckenAutor*in

„DU machst fröhlich, was da lebt im Osten wie im Westen.“ So reden Menschen mit Gott in Psalm 65 – und danken IHM für alle seine Wohltaten. (Ps 65,9b)  West  u n d  Ost in fröhlichem Jubel vereint.

Ich stolpere über diesen Satz: Wie weit ist das von unserer Realität entfernt!
Heute spaltet ein Eroberungskrieg Europa, Völker und Weltmächte auf der ganzen Erde. Es heißt, es sei Krieg zwischen  d e m  Westen und  d e m  Osten.

Doch wo liegt eigentlich DER Westen?
Früher, als Student in Berlin, war das glasklar: West-Berlin liegt im Westen und Ost-Berlin im Osten der Stadt. Aber schon damals lag West-Berlin auch im Osten - nämlich östlich der Bunderepublik. Und doch wurde in West-Berlin DER Westen verteidigt. Man könnte die verwirrende Geographie noch weiter treiben. Spielerisch. China – von uns aus gesehen - Inbegriff des fernen Ostens - liegt westlich der USA – Inbegriff des Westens. Alles eine Frage der Blickrichtung.

Nun heißt es:  D e r  Westen sei angegriffen. Ist damit Europa gemeint? Doch auch das irritiert. Denn Russland gehört doch zu Europa. Bis zum Ural. So habe ich es in der Schule gelernt. Ich habe in den vergangenen Monaten noch besser verstanden: Es geht auch bei diesem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine nicht um geographische Gegensätze. Freilich: Es geht auch in diesem Krieg um Macht und Reichtum.

Aber vor allem geht es um die Qualität des miteinander Lebens.
Im umfassenden Sinn um Lebenskultur. Darum geht es:
Wo und wie können Menschen in Frieden, in Freiheit und in Ruhe leben?
Wo gedeihen und blühen Menschenrechte? Wo gelten Rechte für Männer und Frauen gleichermaßen? Und wo werden diese Rechte mit Füßen getreten, werden Menschen beleidigt und gequält?

Die Bibel ist äußerst sparsam mit geographischen Zuordnungen von Heil und Unheil.
Und wenn so eine mal vorkommt, dann wird bezeichnenderweise nicht ausgegrenzt, sondern der Raum vielmehr geöffnet. So sagt Jesus sagt einmal im Blick auf ein zukünftiges Friedensreich: „Viele werden kommen von Osten und von Westen und mit Abraham und Isaak und Jakob ...  zu Tisch sitzen.“ (Mt 8,11)

Das heisst: Alle können dabei sein, vom Orient bis zum Okzident – „vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Niedergang“ (Ps 113,3). In dieser Perspektive ist es wichtig, schon heute daran zu erinnern; Wenn die Souveränität der Ukraine wiederhergestellt ist, gehört zu einem friedlichen, geeinten Europa Russland unbedingt dazu. Das Psalmwort kann dafür wie eine Brücke der Hoffnung sein: „Gott, Du machst fröhlich, was da lebt im Osten wie im Westen.“

https://www.kirche-im-swr.de/?m=36518
weiterlesen...

SWR2 Wort zum Tag

15NOV2022
AnhörenDownload
DruckenAutor*in

Eigentlich geht meine Mutter ungern in Elektrogroßmärkte.
Aber manchmal reizt es sie doch: Lieber aussteigen und mitkommen als auf dem Parkplatz im Auto sitzenbleiben. Doch kaum haben wir das Geschäft betreten –

sehen wir die riesige LED-Monitore, Türme von Gefrierschränken, Waschmaschinen, kabellose Staubsauger, elektrische Dosenöffner, Tische voller Smartphones und Computer. Alles das ist nicht ihre Welt.

Da höre ich von ihr: „Ja sag mal, war das denn kein Leben, das wir gelebt haben? Muss es das denn alles geben?“

Ob im Supermarkt oder bei den Autoschlangen auf dem Weg in die Stadt –

nicht nur einmal höre ich auf so einer Einkaufstour ihre Fragen:
„Sag mal, war das denn kein Leben, das wir gelebt haben?

Muss es das denn alles geben?“

Meine Mutter kann weit zurück blicken. Sie wird im nächsten Jahr 100.
Sie hat viel Schönes erlebt und Schweres durchgemacht.
Ihre Zufriedenheit mit dem, was sie hat, kommt aus einer anderen Zeit.

Ihr wiederkehrender Kommentar ist mir wichtig und so erhellend:
„War das denn kein Leben...?“
Doch das war es! Und zwar ein gutes Leben.

Wenn heute Not und Elend beschworen werden, weil die Innentemperaturen moderat sinken müssen, oder weil es zwar für die nötigen Dinge zum Leben reicht – aber nicht mehr für diese oder jene Luxusgüter – dann hilft mir ihre Erinnerung: Es kann eine gute Zukunft geben – denn es gab schon eine gute Vergangenheit – auch ohne materiellen Überfluss.

Jesus erinnert daran: Ihr müsst euch nicht ständig ums Besorgen sorgen. Es ist schon genug für alle da – Essen und Trinken und Kleidung. Gott sorgt dafür. (Mt 6,25-30) Die Lebensweisheit meiner Mutter ist in meinen Ohren wie ein Echo dieser Worte.

Wenn wir zusammen frühstücken, sagt sie oft: „Junge, wir leben doch wie im Paradies!“ Das Gefühl tiefer Dankbarkeit für das, was sie zum Leben braucht – lässt die Angst, dass es für sie nicht reichen könnte – gar nicht erst aufkommen. Klagen auf hohem Niveau kennt sie nicht. Aber ein Staunen über das, was ihr vergönnt ist.

So wie es Friedrich Schorlemer 1993 gesagt hat – in seiner Rede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels:

„Vergessen wir nicht das Leben zu preisen für jeden Tag, den wir leben dürfen, gar mit Brot, Wohnung, Arbeit. Nichts ist selbst-verständlich. Wer das weiß, kann seine Lebensansprüche zugunsten anderer gelassen reduzieren.“ (10. Oktober 1993)

Schorlemers Wort ist für mich heute besonders wertvoll:

Übersieh nicht, wie viel Gutes dir zukommt. Reduziere gelassen. Und lass dir das nicht ausreden von denen, die notorisch Immer-Mehr-Wollen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=36517
weiterlesen...

SWR2 Wort zum Tag

14NOV2022
AnhörenDownload
DruckenAutor*in

Kennen Sie noch den Lehrer Lämpel? Ein hageres Männchen mit Brille und Pfeife und einem überlangen, kerzengerade nach oben gereckten Zeigefinger. So hat Wilhelm Busch ihn in seinen Geschichten von Max und Moritz gezeichnet. Für mich ist er die  Ikone des moralisch erhobenen Zeigefingers. Der Lehrer als Amtsfigur, der mit ernster Miene droht und verbietet: Du sollst nicht! Du darfst nicht! Und wenn du es doch tust, dann wirst du bestraft. Und zwar hart, bis hin zur Prügelstrafe.  

Ob bei Pädagogen, Predigern oder Politikern: Dieser moralische Zeigefinger mit seiner Bestrafungspädagogik ist in unseren Breiten seit Jahrzehnten überwunden. Aus guten Gründen.

Nur leider mit einer, wie mir scheint, nicht ganz unerheblichen Nebenwirkung: Moral ist dabei generell in Misskredit geraten ist. Gilt etwas als moralisch – dann wird es in aller Regel mit Zwang und Einschränkungen in Verbindung gebracht - und für schlecht befunden.
Dabei ist Moral eine lebenswichtige Dimension für menschliches Zusammenleben.
Moral steht für einen Verhaltenskodex, der ein Miteinander verbindlich und verlässlich regelt. Als mir ein Mädchen in der Grundschule einmal erzählt hat, sie traut sich nachmittags nicht mehr zum Unterricht zu kommen, weil sie von einem älteren Schüler bedroht wird – wurde mir klar: Es braucht mehr als die Maßregelung eines einzelnen Schülers.

Hier ist eine Verständigung über die Grundlagen des Miteinanders nötig.Denn ohne klare Verhaltensregeln wütet die Kraft des Stärkeren. Deshalb werden an vielen Schulen heute Leitbilder erarbeitet. LehrerInnen, Schüler und Eltern versuchen gemeinsam herauszufinden und zu verabreden: Was sind sinnvolle Grundregeln für unser Miteinander? Was gilt im Klassenzimmer und auf dem Schulhof? Und was schon auf dem Schulweg? Der moralische Zeigefinger, der muss dafür nicht wiederbelebt werden. Es gibt eine andere Möglichkeit.

Als Gegenbild gefällt mir der Zeigefinger des Johannes auf dem Isenheimer Altar von Matthias Grünewald. Gerade so wie Lehrer Lämpel ist auch der Täufer mit einem  überdimensionalen Zeigefinger dargestellt. Der zeigt aber nicht in die Luft, sondern auf Christus – ganz ohne Drohgebärde. „Seht, Jesus ist Christus – der wahre Mensch.“ Ich sehe darin: Lebt wie Christus - in seinen Spuren, in seinen „Fußstapfen“ (1.Petr 2,21). Da geht es zum Leben in Frieden und Freiheit. Da erschließt sich mir Moral für mein Leben - ablesbar an einem konkreten Menschen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=36516
weiterlesen...

SWR2 Wort zum Tag

05OKT2022
AnhörenDownload
DruckenAutor*in

„Selig sind, die reinen Herzens sind!“ (Matth 5,8)
Das hat Jesus einmal so gesagt – in der Bergpredigt. Mich lässt dieses Wort nicht los. Es fasziniert mich. Das Herz ist in der Bibel ein Zentrum für unsere Empfindungen. Einen Menschen mit einem reinen Herzen, den stelle ich mir so vor:
Der muss sich nichts mehr vorwerfen. Den quälen keine Versäumnisse oder Vergehen. Den drücken keine unerledigten Versprechen.

Menschen mit reinen Herzen, die strahlen und ruhen in sich. Die sind nicht von Neid und Habgier zerfressen. Die haben keine Angst vor Entbehrungen. Die wissen, dass genug für sie da ist. Die können von ihrem Leben sprechen und Gefühle zeigen - ohne Filter! Die drehen sich nicht ständig um sich selbst. Die können richtig zuhören – und intensiv auf einen anderen Menschen zugehen.

Ja, so selig und glücklich wäre ich auch gern einmal! Wie sich das wohl anfühlt?:
Frei sein von allen Lasten auf dem Herzen. Mit sich und Anderen im Reinen. Wenn im Herzen einmal alle Unruhe verschwindet und Ruhe einkehrt. 

Selig sind, die reinen Herzens sind! Ich habe lange gebraucht, bis ich für mich einen Weg zum reinen Herzen entdeckt habe. Kein reines Herz für immer und ewig – aber für immer wieder.

Es ist mein Weg zum Abendmahl – zur Eucharistie.
Auf dem Weg dorthin, erschaffe nicht ich mir ein reines Herz, sondern ich bitte darum - mit einem Wort aus Psalm 51:
„Schaffe in mir Gott, ein reines Herz!“ (Ps 51,12)
Und ich bringe dann in der Stille, alles das vor Gott, wo ich spüre: Das habe ich verbockt und versäumt, da war ich nicht mutig genug, da habe ich mich weggedrückt, da war ich nur mit mir beschäftigt und habe andere übersehen, sie verletzt - mit Gedanken, mit Worten, mit meinem Verhalten.

Wenn ich so meinen zurückliegenden Tag durchgehe –
oder eine ganze Woche – dann brauche ich dafür Stille und richtig viel Zeit. Manches kehrt auch wieder – das liegt mir schon über viele Jahre immer wieder auf dem Herzen. Zeit für ein Bußgebet und die Zusage der Vergebung sind eine Verlockung für Menschen mit verunreinigten Herzen – für Menschen, wie ich einer immer wieder bin.

Gott verzeiht Schuld und eröffnet mir einen neuen Anfang. Es ist seine Zusage. Nicht mehr und nicht weniger. Und ich vertraue darauf - auf diese eine Wort: „Ich verzeihe dir.“ Auf diese Zusage hin kann ich neu ins Leben gehen. 
Mit reinem Herzen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=36290
weiterlesen...