SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

29DEZ2022
AnhörenDownload
DruckenAutor*in

Wie schnell vergehen doch die Festtage. Das Licht der Krippenspiele und der Glanz der Lieder verblassen. Da frage ich mich auch: Wo steckt Jesus eigentlich nach der heiligen Nacht? Die Hirten mit ihren Herden sind weitergezogen. Die Krippe im Stall ist leer. Jesus scheint verschwunden. War´s das? Das Wunder der Weihnacht - nur eine schöne Vision, die verblasst und vergeht?

Der französische Dichter Jean Anouilh (1910-1987) hat diese Leere und diesen Zweifel in einem Gedicht nachempfunden. Sein Gedicht heißt „Das verlorene Jesuskind“. Ich muss es in der Weihnachtszeit wieder und wieder hören.*
Das Gedicht hat drei Strophen. In der letzten Strophe heißt es:

"Die Könige sind gegangen, sie sind schon klein und fern; 
die Hirten auf dem Felde, sie sehn nicht mehr den Stern. 
Die Nacht wird kalt und finster - erloschen ist das Licht. 
Die armen Menschen seufzen: Nein, nein, das war Er nicht!
Doch rufen sie noch immer: „Wo bist du, Jesuskind?" 

Für Jean Anouilh hört die Suche nach Jesus offenbar nicht auf - über alle Zeiten hinweg - bis heute. Die Welt ist voll bitterer Erfahrungen – von Gewalt und Unfrieden. Da verstummt der Ruf nach einer heilen Welt und heilvollen Zeiten nicht, der Ruf nach einem, mit dem endlich - wie vom Engel vor Bethlehem verheißen - „Frieden auf Erden“ kommt.

Aber Jan Anouilh gibt nicht nur den Seufzern der Armen und Kranken eine Stimme. Auf die bohrende Frage „Wo bist du, Jesuskind?" gibt in seinem Gedicht Jesus selber eine Antwort. Dreimal – in der letzten Zeile der Strophen - antwortet Jesus wie aus dem Off. Und zwar so:

"Ich bin im Herzen der Armen, die ganz vergessen sind."
"Ich bin im Herzen der Kranken, die arm und einsam sind."
"Ich bin im Herzen der Menschen, die ohne Hoffnung sind." 

Genau so kann ich mir das auch vorstellen. Da ist Jesus. Dort kann er und kann sein Geist eine Wohnung finden.

Für mich ist Anouilhs Gedicht ein poetischer Edelstein. Gerade dann, wenn sich bei mir Zweifel einstellen, wenn ich die Hoffnung aus den Augen verliere, wenn Jesus so gar nicht mehr greifbar ist, dann ist das die Antwort, die mich weiter trägt: Er wohnt im Herzen. Realer Trost ist mir das, kein Herz-Jesu Kitsch. Ich habe das an Armen, Verzweifelten und Kranken erlebt. Und an mir selber. Im Herzen der Menschen strahlt das Licht der Weihnacht weiter – strahlt Jesus selber.

* CD: Thomas Friz, Klaus Wuckelt - Ich steh an deiner Krippen hier..., 1995.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=36781
weiterlesen...