SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

14NOV2022
AnhörenDownload
DruckenAutor*in

Kennen Sie noch den Lehrer Lämpel? Ein hageres Männchen mit Brille und Pfeife und einem überlangen, kerzengerade nach oben gereckten Zeigefinger. So hat Wilhelm Busch ihn in seinen Geschichten von Max und Moritz gezeichnet. Für mich ist er die  Ikone des moralisch erhobenen Zeigefingers. Der Lehrer als Amtsfigur, der mit ernster Miene droht und verbietet: Du sollst nicht! Du darfst nicht! Und wenn du es doch tust, dann wirst du bestraft. Und zwar hart, bis hin zur Prügelstrafe.  

Ob bei Pädagogen, Predigern oder Politikern: Dieser moralische Zeigefinger mit seiner Bestrafungspädagogik ist in unseren Breiten seit Jahrzehnten überwunden. Aus guten Gründen.

Nur leider mit einer, wie mir scheint, nicht ganz unerheblichen Nebenwirkung: Moral ist dabei generell in Misskredit geraten ist. Gilt etwas als moralisch – dann wird es in aller Regel mit Zwang und Einschränkungen in Verbindung gebracht - und für schlecht befunden.
Dabei ist Moral eine lebenswichtige Dimension für menschliches Zusammenleben.
Moral steht für einen Verhaltenskodex, der ein Miteinander verbindlich und verlässlich regelt. Als mir ein Mädchen in der Grundschule einmal erzählt hat, sie traut sich nachmittags nicht mehr zum Unterricht zu kommen, weil sie von einem älteren Schüler bedroht wird – wurde mir klar: Es braucht mehr als die Maßregelung eines einzelnen Schülers.

Hier ist eine Verständigung über die Grundlagen des Miteinanders nötig.Denn ohne klare Verhaltensregeln wütet die Kraft des Stärkeren. Deshalb werden an vielen Schulen heute Leitbilder erarbeitet. LehrerInnen, Schüler und Eltern versuchen gemeinsam herauszufinden und zu verabreden: Was sind sinnvolle Grundregeln für unser Miteinander? Was gilt im Klassenzimmer und auf dem Schulhof? Und was schon auf dem Schulweg? Der moralische Zeigefinger, der muss dafür nicht wiederbelebt werden. Es gibt eine andere Möglichkeit.

Als Gegenbild gefällt mir der Zeigefinger des Johannes auf dem Isenheimer Altar von Matthias Grünewald. Gerade so wie Lehrer Lämpel ist auch der Täufer mit einem  überdimensionalen Zeigefinger dargestellt. Der zeigt aber nicht in die Luft, sondern auf Christus – ganz ohne Drohgebärde. „Seht, Jesus ist Christus – der wahre Mensch.“ Ich sehe darin: Lebt wie Christus - in seinen Spuren, in seinen „Fußstapfen“ (1.Petr 2,21). Da geht es zum Leben in Frieden und Freiheit. Da erschließt sich mir Moral für mein Leben - ablesbar an einem konkreten Menschen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=36516
weiterlesen...