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SWR Kultur Lied zum Sonntag

12MAI2024
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Den Muttertag feiere ich immer auch als einen großen Dank an das Leben. Und ein Lied bringt diesen Dank für mich ganz besonders zum Ausdruck. Es ist für mich eng verknüpft mit der Geschichte von drei Frauen, die auch alle Mütter gewesen sind. Darüber hinaus aber auch Künstlerinnen, Kämpferinnen, Sängerinnen mit einer musikalischen und einer menschlichen Botschaft:  

Gracias a la vida que me ha dado tanto
Me dio dos luceros, que cuando los abro,
Perfecto distingo lo negro del blanco
Y en alto Cielo su fondo estrellado
Y en las multitudes la hombre que yo amo

Die unverwechselbare Stimme von Joan Baez hat zum Soundtrack meiner Jugend gehört. Ich konnte alle ihre Lieder auswendig, und obwohl ich kein Spanisch kann, habe ich auch dieses mitgesungen: Gracias a la vida: „Danke für das Leben, es hat mir so viel gegeben.“ Der Samba-Rhythmus ging direkt in die Beine: Das Leben, ein Tanz, ein Fest! Und so viel Leichtigkeit! Dasselbe Lied kann aber auch ganz anders klingen:

Gracias a la vida que me ha dado tanto
Me dio dos luceros, que cuando los abro,
Perfecto distingo lo negro del blanco
Y en alto Cielo su fondo estrellado
Y en las multitudes la hombre que yo amo

Wenn Mercedes Sosa das Lied anstimmt, spüre ich hinter den Worten auch eine tiefe Traurigkeit. Der Dank kommt nicht leichtfüßig und schwungvoll daher, sondern ist dem Leben abgerungen. Und klingt trotzdem kraftvoll und schön. Das passt zur Entstehungsgeschichte des Liedes: Denn die Chilenin Violeta Parra war mit ihren Lebenskräften am Ende, als sie es geschrieben hat. Es ist ihr letztes Lied. Noch keine 50 Jahre alt, hat sie es 1967 kurz vor ihrem Tod herausgebracht. So ist es zu ihrem musikalischen Vermächtnis geworden: Ein Lied voller Schmerz, der sich aber vom Leben in die Arme nehmen lässt:   

Ich danke dir, Leben, hast mir so viel gegeben,
durfte lachen und schweben trotz aller Stürme und Beben.
Auch einsame Stunden und schmerzvolle Wunden,
doch du wolltest mich führen, mich selbst zu erspüren,
unter funkelnden Sternen das Lieben zu lernen.

Wie ein Gebet hört sich das für mich an, dieser Dank an das Leben aus dem Mund von Konstantin Wecker. Und gerne gebe ich diesen Dank heute weiter an alle Mütter, die das zerbrechliche, kostbare Leben über die Generationen hinweg weitergeben. Danke für das Schöne, danke für das Schwere! Gracias a la vida!

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Musikangaben:

Text und Melodie: Violeta Parra (1967)
Aufnahmen:
Joan Baez, Gracias a la vida
Mercdes Sosa, Gracias a la vida
Konstantin Wecker, Gracias a la vida 

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SWR Kultur Zum Feiertag

09MAI2024
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Am Fest Christi Himmelfahrt geht der Blick nach oben. Er folgt dem Blick von ein paar Jüngern Jesu, die sich nach dem Bericht des Evangelisten Lukas einige Wochen nach dem ersten Osterfest in der Nähe von Jerusalem ein letztes Mal mit dem auferstandenen Jesus getroffen haben. „Und es geschah, als Jesus sie segnete, schied er von ihnen und fuhr auf gen Himmel“. Mehr ist damals nicht passiert. Ein einziger Satz reicht aus, um das Geschehen zu umreißen. Ein Wimpernschlag nur, und weg war er. Zurück bleiben zwei Handvoll Männer und Frauen, die in den Himmel starren. Auf allen Bildern ist der an diesem Tag von strahlendem Blau.   

Szenenwechsel, Perspektivwechsel: Der Russe Juri Gagarin ist der erste Mensch, der in umgekehrter Richtung vom Himmel auf die Erde geblickt hat. Am 12. April 1961 hat er an Bord seiner Raumkapsel "Wostok 1" in 108 Minuten die Erde einmal umrundet. Den Anblick beschreibt er als überwältigend: "Ich sah zum ersten Mal die Kugelgestalt der Erde. Der Anblick des Horizonts war einzigartig. Ein zartblauer Film, der den Globus umgibt. Darüber nur der pechschwarze Himmel, mit den klar sichtbaren Sternen und einer Sonne, die dutzendmal heller scheint als auf der Erde". Tief berührt ist Gagarin von diesem Erlebnis. Leider ist sein ehrfürchtiges Staunen in Vergessenheit geraten. Geblieben ist nur ein berühmt-berüchtigter Spruch, den ein westlicher Journalist ihm in den Mund gelegt hat. Ob Gagarin dort oben Gott gesehen habe, wollte der wissen. Aber was soll man darauf schon antworten? Nein, natürlich nicht.

Dass Gott oben im Himmel wohnt, diese Vorstellung gibt es in vielen Religionen. Für Christinnen und Christen ist sie im Gebet Jesu präsent, das mit diesen Worten beginnt: „Vater unser im Himmel …“  Sie hängt mit alten Weltbildern zusammen und der Vorstellung, dass sich die Welt wie ein Haus aus übereinander geschichteten Stockwerken aufbaut. Und sie hängt zusammen mit der Unsichtbarkeit Gottes, mit seiner Transzendenz. Die Zehn Gebote verbieten mit deutlichen Worten, sich ein Bild von Gott zu machen. Keins aus Holz oder Stein, noch nicht einmal eins aus Gold und auch keins in Gedanken. Denn Gott ist nicht dingfest zu machen, den Menschen nicht verfügbar; er sprengt ihre Vorstellungskraft, ist größer, weiter als all ihre Bilder. „Im Himmel“, das heißt dann auch so viel wie „überall und nirgends.“ Gott ist Luft für mich in einem doppelten Sinn: entweder ich erlebe ihn als lebensnotwendig oder er ist mir gleichgültig.

 

Nun haben die Weltbilder sich geändert. Die Erde ist vom Zentrum der Welt zu einem Planeten degradiert worden, der um eine von Milliarden Sonnen kreist. Und der Himmel hat sich ausgedehnt in die unendlichen Weiten des Kosmos. Im 20. Jahrhundert ist der Mensch plötzlich in der Lage, den bisher Gott allein vorbehaltenen Blick aus dem Universum auf den Planeten Erde zu werfen. Für die einen hat der wissenschaftliche Fortschritt damit die Idee einer schöpferischen Gotteskraft überflüssig gemacht. Für andere hat er das gläubige Staunen vertieft und Gott nur umso größer und anbetungswürdiger erscheinen lassen. Der Priester und Dichter Ernesto Cardenal aus Nicaragua dichtet im Duktus der biblischen Psalmen: „Lobt den Herrn des Kosmos. Das Weltall ist sein Heiligtum. Mit einem Radius von hunderttausend Millionen Lichtjahren. Lobt ihn, den Herrn der Sterne und der interstellaren Räume. Lobt ihn, den Herrn der Milchstraßen und der Räume zwischen den Milchstraßen.“ Dieses Gebet ist 60 Jahre alt.  

Aber auch in einem fast 3000 Jahre alten Gebet finden sich schon ähnliche Gedanken. Der König Salomo hat es gesprochen bei der Einweihung des ersten Jerusalemer Tempels. Denn nachdem die Menschen sicher wohnen im Land, soll endlich auch ihr Gott sesshaft werden, der bisher mit ihnen ein Nomadenleben geführt hat: beweglich wie ein Feuerschein, wie eine Wolkensäule. Nun hat Salomo diesem Gott ein Haus gebaut. Am Tag der Tempelweihe fasst er seinen Dank in wohlfeile Worte und bittet Gott um seinen Segen. Aber mitten in der festlichen Zeremonie beschleichen ihn plötzlich leise Zweifel. Und er spricht sie aus und formuliert sie als Frage: „Sollte Gott wirklich auf Erden wohnen? Siehe, der Himmel und aller Himmel Himmel können dich nicht fassen – wie sollte es dann dies Haus tun, das ich gebaut habe?“ Dass Gott im Himmel wohnt, heißt nicht, dass er dort oben auf einer Wolke thront. Selbst der unendlich weite Himmel ist ihm als Wohnung zu klein.

Und obwohl Menschen um diese Grundeinsicht wissen, haben alle Religionen ihren Göttern Tempel errichtet. Die jüdische Tradition spricht vorsichtig und mit großer Ehrfurcht von der Schechina, der Anwohnung Gottes auf Erden. Ein Tempel nicht als Wohnung, aber als ein Ort zum Andocken des Göttlichen, ein Altar als Schemel seiner Füße. Nicht Gott braucht ein Haus auf Erden, aber als glaubender Mensch brauche ich neben dem unendlichen auch den begrenzten Raum. Denn im Unendlichen würde ich mich verlieren. Es war schon eine gute salomonische Idee, diesen Tempel zu bauen, und in seinem Gefolge viele Kirchen und Gotteshäuser.

Aber dann kam Gott selbst noch auf eine viel bessere Idee. Er beschloss, sich selbst eine Wohnung zu suchen auf Erden. Und er fand sie in keinem noch so schönen Gebäude, an keiner noch so heiligen Stätte, sondern in einem Menschen. In Jesus Christus kam er zur Welt. „Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns“, schreibt Johannes am Anfang seines Evangeliums. Mit Jesus kommt der Himmel zur Welt. Und plötzlich hat Gott nicht nur eine Wohnung, eine erste Adresse auf Erden, er hat ein Gesicht, er hat Hände und Füße. Und wer immer Gott sucht, braucht sich nicht mehr in den Weiten des Kosmos zu verlieren, sondern kann diesem Menschen ins Gesicht schauen, seine Worte hören, dem nachfolgen, der Gottes Geschichte in letzter Konsequenz gelebt hat. Was für ein einzigartiges, göttliches Experiment!

Heute schließt sich dieser Kreis, der mit der Inkarnation, mit der Menschwerdung Gottes in dem Kind Jesus an Weihnachten begonnen hat. An Christi Himmelfahrt feiern wir, dass dieser Jesus wieder in den Himmel zurückgekehrt ist, von wo er am Anfang seiner Geschichte gekommen ist. Es ist die Krönung des Ganzen, die Krönung dieses genialen Einfalls Gottes, sich freiwillig zu begrenzen, sich zu entäußern, um ein menschliches Leben zu führen und dabei von der Geburt bis zum Tod nichts auszulassen. Aber es ist wie nach einer langen Reise: Auch wenn ich am Ende wieder in den eigenen vier Wänden angekommen bin, bin ich doch eine andere geworden. Und wenn Jesus an Himmelfahrt wieder in Gottes Unendlichkeit zurückkehrt, aus der er gekommen ist, dann löscht das seine Biografie nicht einfach aus. Dann hat Gott selbst sich verändert. Er ist jetzt ein anderer geworden. Menschlicher, verletzlicher. Ein Gott nicht nur mit Zukunft, sondern ein Gott mit einer Vergangenheit.

Es ist ein schöner Brauch, an Christi Himmelfahrt Gottesdienste draußen unter freiem Himmel zu feiern. Denn da kann der Blick nach oben gehen. Und dem Blick von ein paar Freunden Jesu folgen, die sich nach dem Bericht des Evangelisten Lukas einige Wochen nach dem ersten Osterfest in der Nähe von Jerusalem ein letztes Mal mit dem auferstandenen Jesus getroffen haben. „Und es geschah, als Jesus sie segnete, schied er von ihnen und fuhr auf gen Himmel“. Mehr ist damals nicht passiert. Ein einziger Satz reicht aus, um das Geschehen zu umreißen. Ein Wimpernschlag nur, und weg war er. Zurück bleiben wir Menschen, die aufrecht unter Gottes Himmel stehen. Und hoffentlich ist er auch heute von strahlendem Blau.   

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SWR4 Sonntags-/Feiertagsgedanken

05MAI2024
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„Ich bin klein, mein Herz mach rein. Soll niemand drin wohnen als Jesus allein.“ So klingt eines der wohl bekanntesten Kindergebete. Vielleicht haben Sie es auch mit Generationen von Kindern abends vor dem Einschlafen gesprochen. Und vielleicht haben Sie mit Generationen von Erwachsenen nicht nur dieses Kindergebet, sondern das Beten überhaupt irgendwann aufgegeben. Es ist ja auch eine berechtigte Frage: Wie kann ich beten, wenn das Gebet mit den Worten anfängt: „Ich bin groß!“?

In der biblischen Geschichte, die heute in vielen evangelischen Gottesdiensten im Mittelpunkt steht, geht es ums Beten. Und es geht um einen großen Beter. Mose ist ein erwachsener Mann, mit allen Wassern gewaschen. Lebenserfahren, gefahrerprobt. Und ein Leben lang im Zwiegespräch mit seinem Gott geblieben. Zu Beginn der Erzählung ist er auf einen Berg gestiegen, um zu beten. Doch er kommt gar nicht dazu. Denn – man höre und staune – Gott selbst hat großen Redebedarf. Er will Mose sein Herz ausschütten. Er ist so richtig fertig mit der Welt. Und klagt ihm sein Leid: Denn seine wunderbaren Pläne mit den Menschen sind nicht aufgegangen. Große Mühen hat er darauf verwendet, einen Haufen Sklaven aus katastrophalen Lebensumständen zu befreien. Auch an großen Wundern hat er es nicht fehlen lassen, um sie aus der Gewalt eines despotischen Herrschers loszueisen. Aber im weiteren Verlauf der Geschichte zeigen die Befreiten sich undankbar. Sie wissen es nicht zu schätzen, was Gott für sie getan hat. Und statt ihm bis in alle Ewigkeit dankbar ergeben zu sein, finden sie an ihrer neuen Lebenslage wieder etwas auszusetzen. Weil die Freiheit, nach der sie sich gesehnt haben, ganz schnell zur Selbstverständlichkeit geworden ist, fangen sie an, an vielen Kleinigkeiten herumzunörgeln. Und Gott ist erschöpft. Ja mehr noch: Er hat es satt. Eine sehr menschliche Reaktion. Und mehr noch: Er redet sich in Rage. Er gerät in Wut und will Schluss machen. Schluss mit den Menschen, die nichts kapieren, die einfach nichts dazu gelernt haben.

Mose bekommt es mit der Angst. Und bevor die Lage eskaliert und Gott womöglich Ernst macht mit seinen Androhungen, versucht er, diesen aufgebrachten Gott zu besänftigen. Er spricht mit ihm. Er betet. Und traut sich was. Er redet Gott gut zu, er redet ihm ins Gewissen. Er erinnert Gott an seine guten Eigenschaften. An seine großen Pläne mit der Welt, an alles, was er den Menschen je an Zukunft versprochen hat. Und am Ende dieses außergewöhnlichen Gesprächs hört Gott auf Mose und bereut seinen Zornesausbruch.

Mose hat sich nicht klein gefühlt und nicht klein gemacht, sondern er spricht sehr selbstbewusst mit Gott. Dass er zum Beten auf einen Berg gestiegen ist, mag ein äußeres Zeichen dafür sein. So stellt er Augenhöhe her. Und auch im Gespräch bietet er Gott, dem scheinbar Unausweichlichen die Stirn. Und er tut es geschickt. Taktisch klug, würde ich sagen. Er packt Gott bei seiner eigenen Ehre: Bei allem, was ich von dir weiß, bei allem, was ich von dir glaube: Du kannst nicht im Ernst die Welt und die Menschen, die du geschaffen hast, zerstören wollen. Bei allem Respekt! Erinnere dich, wofür Du als Gott angetreten bist!

So wie Mose möchte ich auch beten können. Mit einer Haltung, die von Gott etwas erwartet. Und es ihm auch sagt. Nicht als demütige Bittstellerin, sondern als erwachsener Mensch, der von einem großen Gott zurecht Großes erwartet. In der biblischen Erzählung hat es Gott gutgetan, dass ein Mensch so mit ihm gesprochen hat. Er hat sich bewegen, ja umstimmen lassen. Vielleicht kann das ja ein Anreiz sein, es mit dem Beten wieder einmal aufzunehmen. Vielleicht so: „Gott, ich bin groß. Ich lass dich nicht los. Du segnest mich denn.“

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SWR Kultur Wort zum Tag

„Gleicher Lohn für alle!“ Diese Forderung wird in Deutschland schon seit Jahrzehnten erhoben. Auch heute, am traditionellen Tag der Arbeit, könnte sie wieder laut werden. Noch immer verdienen Frauen in vielen Bereichen für dieselbe Arbeit deutlich weniger als Männer. Wer sich über dieses geschlechtsspezifische Lohngefälle aufregt, hat noch nicht gehört, was für eine Aufregung das durchgezogene Prinzip „Gleicher Lohn für alle“ in einer biblischen Geschichte aus dem Neuen Testament verursacht.

Da erzählt Jesus einmal von einem Weinbergbesitzer, der in der Erntezeit Saisonarbeiter anheuert. Früh am Morgen nimmt er etliche unter Vertrag und sichert ihnen, sagen wir den derzeit gültigen Mindestlohn von 12,41 € in der Stunde zu. Im Tagesverlauf nimmt er noch mehrmals weitere Zeitarbeiter unter Vertrag, allerdings ohne mit ihnen eine Bezahlung zu vereinbaren. Sie sind wohl froh, dass sie überhaupt Aussicht auf ein paar Groschen haben. Am Abend zahlt der Weinbergbesitzer den Tageslohn bar aus. Jeder Arbeiter bekommt, und zwar unabhängig von der Zahl der Stunden, die er gearbeitet hat, exakt 124,10 €. Da kommt es zu lautstarken Protesten unter denen, die von morgens bis abends geschuftet haben. Sie fühlen sich betrogen, ungerecht behandelt. Der Arbeitgeber lässt sich aber nicht beirren und sagt ganz ruhig: Ihr habt bekommen, was vereinbart war. Warum seid ihr jetzt also unzufrieden?  Weil ich so gütig bin?

Bist du unzufrieden, wenn es gütig statt gerecht zugeht? Diese wunderbar entlarvende Frage aus dem Gleichnis möchte ich gerne mitnehmen in diesen neuen Monat und sie mir immer dann stellen, wenn der Neid an mir nagt, wenn mein Gerechtigkeitsempfinden verletzt wird, wenn ich bemerke, dass der Blick, mit dem ich am Morgen in die Welt blicke, scheel wird, missgünstig, empört. Ich nehme mir vor, den Silbergroschen, den ich in der Tasche habe, zu spüren wie einen Schatz, und mich nicht zu ärgern an den prall gefüllten Taschen der anderen.

In Wilhelm Hauffs Märchen „Das kalte Herz“ wünscht sich der Held, als er einen Wunsch frei hat, immer so viel Geld in der Tasche zu haben wie einer, den er schon immer um seinen Reichtum beneidet hat. Das geht auch eine ganze Zeit lang gut. Bis der Bewunderte schließlich beim Kartenspiel alles auf eine Karte setzt, verliert und den Helden mit seinem unbedachten Wunsch ins Elend reißt. Hätte er mal nicht so missgünstig dreingeschaut, nicht geschielt auf das vermeintliche Glück der anderen, sondern wäre er bei sich geblieben.

Bist du unzufrieden, wenn es gütig statt gerecht zugeht? Ich spinne die Frage weiter: Wie wäre es wohl, wenn keiner sich mehr aufregen würde, zu kurz gekommen zu sein. Wenn alle einfach zufrieden wären mit dem, was sie haben. Wenn Gnade vor Recht erginge und gar niemand was dran auszusetzen hätte. Wenn Neid und Missgunst kein Thema wären, weil die einen den andern das ihre von Herzen gönnen. Wenn die Letzten die Ersten wären. Wenn Hierarchien keine Rolle mehr spielten, weil alle im Kreis um einen großen Tisch sitzen und nicht mehr in einer langen Warteschlange vor dem Jobcenter anstehen? Wenn alle genug zum Leben hätten unabhängig davon, ob sie es verdient haben oder nicht. Wenn alle mitgenommen würden und keiner mehr auf der Strecke bliebe. Wenn alle beschäftigt wären. Wenn Gerechtigkeit und Güte keine Gegensätze mehr wären. Wenn niemand mehr auf Barmherzigkeit angewiesen wäre, weil sowieso alle auf Barmherzigkeit angewiesen sind und von derselben Güte desselben Gottes leben.

Dann, so erzählt es Jesus in diesem Gleichnis vom ungerechten, aber gütigen Weinbergbesitzer, dann wäre wohl das Himmelreich auf Erden angebrochen. So weit sind wir noch nicht an diesem 1. Mai 2024. Aber wir könnten ja mal anfangen. Vielleicht mit gleichem Lohn für Männer und für Frauen!

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SWR Kultur Wort zum Tag

30APR2024
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Auf dem Foto, das im April zum besten Pressefoto des Jahres gekürt worden ist, sind eine Frau und ein Mädchen zu sehen. Ihre Gesichter sind nicht zu erkennen. Denn die Frau hält den Kopf gesenkt, so dass man nur ihr sandfarbenes Kopftuch erkennen kann. Das Kind ist von Kopf bis Fuß in ein weißes Leinentuch gewickelt. Es ist tot. Umgekommen bei einem militärischen Angriff auf den Gaza-Streifen; eine israelische Rakete hat das Haus ihrer Familie getroffen. Die Identität der beiden ist bekannt: Es ist die Palästinenserin Ina Abu Mamaar, die ihre fünfjährige Nichte Saly im Arm hält. Durch die Namen ist das Bild einer konkreten Kriegssituation zugeordnet und zeigt exemplarisch das Leid der palästinensischen Bevölkerung. Zugleich weist es aber weit über alle geographischen und nationalen Konflikte hinaus. 

Denn die Haltung von Frau und Kind auf diesem Bild erinnert mich an eine Pietà. An die bildliche Darstellung von Maria als Schmerzensmutter mit dem Leichnam ihres toten, gerade vom Kreuz abgenommenen Kindes Jesus auf dem Schoß. Selbst die leuchtende Farbe von Inas Jeanskleid erinnert an den himmelblauen Mantel der Madonna. Andere Menschen fehlen im Bild, obwohl es in beiden Fällen viel mehr gewesen sein müssen, die um den toten Jesus, um die tote Saly geweint haben. Aber der Fotograf Mohammed Salem hat einen ganz intimen Moment eingefangen. Und gibt mit seinem Foto einen ergreifenden Einblick in unermessliches Leid. Es zeigt einen Schmerz. Den tiefen Schmerz aller Mütter, deren Kinder vor der Zeit gestorben sind. Denen auf gewaltsame, unmenschliche Art und Weise die Zukunft genommen wurde. Mit ihren verhüllten Gesichtern und ihre ausdrucksstarke Körperhaltung werden die Frau und das Mädchen für mich zur Ikone: Da könnte auch eine jüdische Mutter sitzen. Maria mit Jesus. Oder eine ihrer Nachfahrinnen. Eine jemenitische, eine sudanesische Frau.

Pietà heißt Mitleid. Und Mitleid kann der erste Schritt sein, um Leid erträglicher zu machen.  Überall dort, wo wir uns an die Seite derjenigen stellen, die Leid zu tragen haben, geschieht so ein Anfang.  

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SWR Kultur Wort zum Tag

29APR2024
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Berlin im Jahr 2049. In dieser gar nicht mehr so fernen Zukunft spielt die neue Staffel der Fernsehserie rund um das renommierte Krankenhaus der Berliner Charité. Das Leben in der Bundeshauptstadt hat sich verändert. Eine unbarmherzige Sonne knallt tagsüber vom Himmel. Temperaturen um die vierzig Grad. Die Folgen des Klimawandels sind drastisch. Und ein großes Problem.

Es ist aber nicht alles nur schlechter geworden in dieser nahen Zukunft: So hat zum Beispiel eine umfassende Reform endlich für Gerechtigkeit im Gesundheitswesen gesorgt: Wer Vorsorge ernst nimmt und regelmäßig entsprechende Untersuchungen absolviert, hat Anspruch auf medizinische High-Tech-Versorgung. Unglaublich, wozu solche operierenden Roboterarme alles in der Lage sind! Science fiction, die vielleicht bald schon Realität sein könnte. Aber die lichte maschinenglänzende Welt hat auch ihre Schattenseiten: In einem still gelegten Trakt des Krankenhauses werden heimlich Menschen operiert, für die Gerechtigkeit allein nicht ausreicht, um zu überleben. Der Mann mit der vom Alkohol zerfressenen Leber. Die unbekümmerte junge Frau, die nie Schmerzen, aber plötzlich Krebs im Endstadium hat. Der Motorradfahrer, den seine überhöhte Geschwindigkeit aus der Kurve geschleudert hat und der nun mit komplizierten Knochenbrüchen daliegt. Gerecht ist das nicht, dass Menschen, die sich nicht um eine gesunde Lebensweise bemüht und freiwillig erhöhten Risiken ausgesetzt haben, die Solidarität all der Vorsichtigen und Vorsorgenden in Anspruch nehmen. Aber es ist menschlich.

Der barmherzige Samariter, der in Jesu Gleichnis der erste und einzige ist, der einem Überfallenen Erste Hilfe leistet, fragt nicht nach dessen Krankenversicherung. Er füllt auch nicht erst einen Fragebogen zu den Umständen des Überfalls aus, um sicherzustellen, dass der am Boden Liegende für seinen Weg auch ausreichende Sicherheitsvorkehrungen getroffen hat. Er hilft, ohne zu fragen. Weil da ein Mensch in Not geraten ist und weil ihn das anrührt. Gerechtigkeit allein ist nicht genug. Sie braucht ihre große Schwester an der Seite, die Barmherzigkeit. Charité heißt Barmherzigkeit. Mit diesem Satz endet dann auch die vierte Staffel der Krankenhausserie. Und erinnert uns daran, was uns zu Menschen macht: Eigenverantwortlichkeit und Solidarität. Der Einsatz für gerechte Verhältnisse. Und allen voran die Fähigkeit, sich von der Not anderer bewegen zu lassen.

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SWR1 Begegnungen

28APR2024
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Andrea Müller Foto: Hansjörg Fuchs

Martina Steinbrecher trifft Pfarrerin Andrea Müller bei der Evangelischen Landeskirche in Baden zuständig für den Bereich Mitgliederorientierung.

Andrea Müller hat ihren Job als Pfarrerin in einer pfälzischen Gemeinde an den Nagel gehängt, um sich verstärkt den vielen Kirchenmitgliedern zu widmen, die vor Ort nicht erreicht werden. Beim Evangelischen Oberkirchenrat in Karlsruhe entwickelt sie nun Ideen und Projekte für eine gezielte Mitgliederorientierung.

Es ist ja so, dass viele Menschen kommen. Aber die, die kommen, sind ja nicht die hundert Prozent unserer Kirchenmitglieder, sondern das sind oft zehn, zwanzig Prozent, die wir im Blick haben und für die wir auch Angebote machen, die die dann auch gerne beanspruchen. Aber zu den 80% haben wir ganz wenig Kontakt und dadurch haben wir die auch wenig im Blick und können sie auch nicht so gut fragen, was wollt ihr eigentlich?

Für die Kirche und ihre Amtsträger geht es dabei ans Eingemachte, nämlich um einen echten Perspektivwechsel: Die gelernte Sesshaftigkeit und Selbstverständlichkeit aufgeben. Hinaus auf den Markt der Möglichkeiten und hinein in den Wettbewerb um das, was Menschen Halt und Sinn geben kann. 

Ich glaube, der Punkt ist vielleicht, dass wir Amtskirche waren, eine Institution, wo die Menschen hingegangen sind. Und heute hat sich die Gesellschaft so geändert, dass man auch super ohne Kirche leben kann. Und man kann woanders auch Gemeinschaft finden und auch spirituelle Erfahrungen anderswo machen. Und da ist es jetzt unsere Aufgabe geworden, auch zu werben, auf die Leute zuzugehen und zu sagen, wir haben immer noch eine gute Botschaft. Aber wir müssen eben eine Sprache finden und Formen finden, wo wir wirklich einladend sind.  

Stichwort Einladung: Das erste Projekt, das Andrea Müller entwickelt hat, setzt genau hier an: Jemand ist umgezogen, muss sich neu orientieren. Wo gibt es den Bäcker mit den leckersten Brötchen? Wie finde ich eine neue Zahnärztin? Und obwohl die Kirche nach wie vor oft unübersehbar in der Ortsmitte steht, ist noch lange nicht gesagt, dass das neu zugezogene Gemeindeglied auch den Weg in den Gottesdienst findet … 

Das Projekt, das heißt Brot und Salz. Dazu haben wir einen Brotbeutel entwickelt. Da kann man dann hinterher auch sein Brot gut verstauen. Es ist ein schöner Baumwollsack. Eine Karte dazu, da ist auch ein kleines Salztütchen aufgeklebt. Und auf dieser Karte sind eben die Kontaktadressen der Kirchengemeinden.

Die Brot-und-Salz-Aktion kommt gut an. Bei den Gemeinden vor Ort, die die ansprechend gestalteten Materialien bei Andrea Müller einfach bestellen können. Bei den Ehrenamtlichen, denen es Spaß macht, den schönen Willkommensgruß unter die Leute zu bringen. Und sie kommt an bei den Zugezogenen, die von dieser Form der Willkommenskultur oft freudig überrascht werden. Schließlich bietet die Aktion auch noch Anknüpfungspunkte für Quartiersarbeit. Denn neben Brotbeutel und Salz enthält das Päckchen auch noch einen Gutschein:

Ein Gutschein für ein Brot beim Bäcker vor Ort. Da suchen die Gemeinden Kooperationspartner, wo das Brot abgeholt werden kann. Und der Bäcker stellt es dann entweder der Kirchengemeinde in Rechnung, oder viele sagen auch: Das ist für uns eine absolute Win-win-Situation: Sie machen Werbung für uns, und wir geben gerne das Brot.

Brot und Salz als Willkommensgruß. Und wer mag, nimmt die Einladung an, mit der Gemeinde vor Ort zu entdecken, dass der Mensch eben nicht vom Brot allein lebt.

Pfarrerin Andrea Müller ist zuständig für die Mitgliederorientierung der Badischen Landeskirche. In ihrer Arbeitsstelle in Karlsruhe entwickelt sie Ideen und Materialien, um vor allem mit den passiven Kirchenmitgliedern in Kontakt zu kommen. Zum Beispiel die Kirchenpost.

Die Kirchenpost, das sind bunte selfmailer, also bunte Briefe, mit denen wir Jugendliche und junge Erwachsene einmal im Jahr kontaktieren wollen. Die sind zwischen zwölf und 30 Jahre alt. Diese Altersgruppe, die ist für uns als Kirche natürlich ganz wichtig. Das ist unser Nachwuchs.

Im Austausch mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen hat Andrea Müller versucht herauszufinden, welche Themen in welchem Alter interessant sein könnten:

Zum Beispiel mit 19 ist ja so die Frage, wie treffe ich eigentlich Entscheidungen? Was will ich nach der Schule machen? Oder fühle ich mich wohl in meiner Ausbildung und plane vielleicht was ganz anderes. Und wo haben wir als Kirche Ansprechpartner, wo man sich auch hinwenden kann? Oder wo gibt es Informationen, die hilfreich sein könnten in so einer Frage.

Aber nicht nur in inhaltlichen Fragen wirken die Vertreter der angepeilten Zielgruppen mit. Auch was das Layout für die geplante Kirchenpost anbelangt, hat ihr Urteil Gewicht: 

Und die sagen dann, ob ihnen erst mal das Design gefällt und die Ästhetik, ob sie es überhaupt öffnen würden, wenn da plötzlich so ein Brief vor ihnen liegt oder ob die sagen: Ne, das geht direkt in den Papierkorb. Und dann ist da die Frage, lest ihr das oder ist es zu viel Text? Und das ist wirklich überraschend, wie wenig Text oft schon zu viel ist.

Weniger textlastig, mehr mitgliederorientiert möchte die Kirche in Zukunft werden. Und das große Potenzial ihrer passiven Mitglieder heben.

Wenn wir uns trauen, unsere Formen zu öffnen, aus den Kirchen rauszugehen und mit den Menschen Kirche zu gestalten, dann kommt da was ins Fließen und Ins Sich-Entwickeln. Und dann kann Neues entstehen.

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SWR1 3vor8

21APR2024
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„Wir werden nicht müde“, schreibt der Apostel Paulus im Predigttext für den heutigen Sonntag. „Auch wenn unsere äußeren Kräfte aufgezehrt werden, bekommen wir innerlich Tag für Tag neue Kraft.“ Das finde ich eine wunderbare Vorstellung.

Dabei kenne ich viele Arten von Müdigkeit. Die Müdigkeit nach einer durchgemachten Nacht, wenn hinter dem Gähnen noch das Adrenalin in den Adern hämmert. Die Müdigkeit in den Knochen nach so vielen schlaflosen Nächten, in denen Kinder gestillt, getröstet, in den Schlaf gewiegt werden wollten. Und jeden Morgen trotzdem raus und arbeiten gehen. Die Müdigkeit der Alltagsroutine, die mich oft beim Ausräumen der Spülmaschine befällt. Als ob das Leben nur aus den immer gleichen Handgriffen bestünde. Ich kenne aber auch die schwere Lebensmüdigkeit einer Depression, die mich niedergestreckt hat, als ich beruflich noch einmal voll durchstarten wollte. Viel zu müde habe ich mich da gefühlt für die simpelsten Sachen, mich tief in mir verkrochen. Und als ich meine eigene Depression endlich überwunden hatte, war da um mich auf einmal die Müdigkeit einer ganzen Welt, die sich mit zu vielen Krisen auf einmal heillos überfordert sieht.   

„Wir werden nicht müde“, schreibt Paulus all dem zum Trotz. „Auch wenn unsere äußeren Kräfte aufgezehrt werden, bekommen wir innerlich Tag für Tag neue Kraft.“ Woher nimmt er bloß diese Zuversicht? Nun, Paulus zieht sie aus der Kraft der Auferstehung. Drei Wochen ist es erst her, dass wir an Ostern diese Kraft gefeiert haben, die Christus von den Toten auferweckt hat. Und sollte diese Kraft, die sogar den allertiefsten Todesschlaf bezwungen hat, es nicht erst recht mit allen Lebens-Müdigkeiten erst recht aufnehmen können? Gott, davon ist Paulus zutiefst überzeugt, ist eine unerschöpfliche Kraftquelle.

„Nicht müde werden“, schreibt die Dichterin Hilde Domin etwas vorsichtiger als Paulus, aber mit derselben Zielrichtung: „Nicht müde werden, sondern dem Wunder leise wie einem Vogel die Hand hinhalten.“

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Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

30MRZ2024
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Ein paar Frauen auf dem Weg zum Friedhof. So beginnt die Geschichte von Ostern. Vielleicht fällt mir deshalb heute die Stimme meiner Mutter ein, wie sie abends ruft: „Ich geh noch auf den Friedhof!“ An unendlich vielen Abenden hat sie einen Spaziergang zum Friedhof gemacht. Es sei denn, meine Tante von nebenan hat gesagt: „Ich gieß die Oma heute mit“. Jahrzehntelang haben meine Eltern die großen Familiengräber ihrer Eltern gepflegt. Und die Gräber von kinderlos verstorbenen Onkeln und Tanten gleich mit. Mehrmals im Jahr frisch bepflanzt, geharkt und gegossen.

Weder mein Bruder noch ich wohnen noch im Dorf unserer Kindheit. Auch meine Cousinen und Cousins sind in alle Welt verstreut. Keine von uns wird an heißen Sommerabenden Gräber gießen gehen. Deshalb haben meine Eltern beschlossen, dass sie einmal in einem Urnengrab beigesetzt werden möchten. Auf einem frisch angelegten Gräberfeld, das aussieht wie ein kleiner Park. Möglichkeiten zur individuellen Grabgestaltung gibt es dort kaum. Aber es ist schön da. Ich bin froh, dass meine Eltern sich darüber Gedanken gemacht haben, wie sie einmal bestattet werden möchten. Und dass sie mit uns Kindern darüber gesprochen haben. Auch ich selbst denke immer mal darüber nach, wie ich mir das einmal vorstelle. Ich möchte zum Beispiel auf keinen Fall, dass mein Leichnam einmal verbrannt wird. Feuer war auch zu Lebzeiten nicht mein Element. Und gerade habe ich von einer ganz neuen Möglichkeit gehört, die nennt sich „Reerdigung“. Da wird der tote Körper in einem eigens dafür ausgestatteten Behältnis auf Heu und Stroh gebettet, so wie das Jesuskind in seiner Krippe. Durch die Zugabe bestimmter Mikroorganismen dauert es nur 40 Tage und Nächte, bis der Körper auf natürliche Weise wieder zu Erde geworden ist. Und in dieser ganzen Zeit wird er sanft hin- und hergeschaukelt. Wie in einer Wiege. Wie in dem Lied “Swing low, sweet chariot, coming for to carry me home:” Fahr vorsichtig, schaukle mich sacht, du lieber Himmelswagen, der mich nach Hause bringen wird. Eine schöne Vorstellung für mich. Nach 40 Tagen kann die Erde dann in einem Grab beigesetzt werden. Wo das einmal sein wird, weiß ich noch nicht. Aber ich hoffe, es ist dann jemand in der Nähe, der es gießt.    

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SWR2 Zum Feiertag

29MRZ2024
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Jan-Heiner Tück Copyright by Joseph Krpelan.

Der Karfreitag erinnert an das grausame Ende des Jesus von Nazareth. Die biblischen Evangelien berichten ausführlich darüber, wie er zum Tod verurteilt und gekreuzigt worden ist. Was wie das tragische Scheitern eines charismatischen Menschen aussieht, wird in der Auseinandersetzung zur Keimzelle eines neuen Denkens über Gott. Der Apostel Paulus entdeckt im Kreuzgeschehen sogar den Ursprung tragfähiger Gottesbeziehungen. Von einem Folterinstrument des Römischen Reiches wird das Kreuz zum zentralen Heils- und Lebenszeichen des Christentums.

Mit Jan-Heiner Tück habe ich Ende der 1980-Jahre in Tübingen Griechisch gelernt, um die Texte des Neuen Testaments im Original lesen und verstehen zu können. Heute ist er Professor für Dogmatik an der Katholisch-theologischen Fakultät der Universität Wien. Und er hat ein Buch geschrieben mit dem schlichten Titel „Crux“. Darin geht es um das Kreuz. Das Kreuz in seiner Vielfalt als religiöses Heils- und Lebenszeichen. Und es geht um die Crux, um die Schwierigkeiten, die Christen und andere Zeitgenossen mit diesem Symbol heute haben.   

Wir stehen in einem Übergang von christlich homogenen Gesellschaften zu religiös pluralen Gesellschaften. Und auch der Anteil, derer, die bekennend bekenntnislos sind, steigt deutlich an. Das heißt, wir können nicht mehr selbstverständlich voraussetzen, dass alle die Symbolik des Kreuzes anerkennen. Der zweite Punkt ist jetzt die religiöse Sensibilität, die wir im Dialog mit anderen Religionen auch an den Tag legen müssen. Wir haben gelernt, uns mit den Augen der anderen zu sehen. Für Juden ist das Kreuz ein belastetes Symbol. Auch bei Muslimen setzt das Kreuz quasi die Erinnerung an die Kreuzzüge frei. 

Dass das Rektorat seiner eigenen Wiener Universität vor ein paar Jahren allerdings verfügt hat, alle noch vorhandenen Kreuze dort von den Wänden abzuhängen und selbst aus den Hörsälen der Theologischen Fakultät entfernen zu lassen, hat Jan-Heiner Tück dann aber doch schockiert:    

Das Rektorat ist quasi die Spitze einer weltanschaulich neutralen, also staatlichen Einrichtung. Aber solange die Universität sich im Fächerkanon bekennende Theologien leistet -und ich darf daran erinnern, dass die Universitäten in Europa überhaupt erst durch die Gründungsfakultäten der Theologie entstanden sind - hat es doch guten Sinn, dass diese bekenntnisgebundenen Theologien ihrerseits die Räumlichkeiten, in denen sie aktiv sind, auch markieren. Also kurz: Im Rektoratserlass liegt eine Drift hin zur Stärkung der negativen Religionsfreiheit zulasten der positiven Religionsfreiheit, und sie läuft letztlich auf eine Privilegierung der Religionslosen hinaus.

Der Vorstoß des Rektorats hat schließlich den äußeren Anstoß zur Veröffentlichung seines Buches und zu einer neuen kritischen Auseinandersetzung mit dem Kreuz und seiner Wirkungsgeschichte gegeben. „Gegen die weiße Wand“ nennt Jan-Heiner Tück seinen Versuch, die Sichtbarkeit gelebter Religion im öffentlichen Raum zu stärken, ohne die gebotene Sensibilität für Anders- und Nichtgläubige dabei außer Acht zu lassen. Ausgerechnet ein agnostischer Philosoph ist ihm dabei überraschend zu Hilfe gekommen:

Es gab in Lateinamerika um die Jahrhundertwende einen Vorstoß einer liberalen Regierung, aus den Spitälern die Kreuze zu entfernen, weil das nicht mehr zeitgemäß sei. Und damals hat sich ein agnostischer Philosoph, der sich selbst nicht als bekennend christlich verstanden hat, zu Wort gemeldet und gesagt: Liebe Leute, was macht ihr da? Das Kreuz ist doch immerhin das Symbol der Caritas, der Compassio, also des Mitleidens, des Dienstes für die Kranken, für die Notleidenden. Das wollt ihr abhängen? Seid ihr verrückt? Und ich denke, das könnten wir auch werbend in einer zunehmend säkularen Gesellschaft sagen, die ja doch für die sozialen Dienste, die die Kirchen in der Gesellschaft leisten, meistens sich doch auch Anerkennung bewahrt haben.

Kritik am Kreuz kommt aber nicht nur von Seiten einer säkularen und multireligiösen Gesellschaft, sondern auch aus den eigenen Reihen. Denn auch viele Christinnen und Christen haben ihre liebe Not mit diesem Zeichen. Das Kreuz provoziert. Es zeigt einen unschuldig Leidenden. Es zeigt einen Gefolterten. Es zeigt einen Sterbenden, der nach Gott schreit und zwingt zur Auseinandersetzung mit Themen, die schwer erträglich sind. Was bedeutet das Kreuz dem Christenmenschen Jan-Heiner Tück?  

Das Kreuz ist für mich Ausdruck der bis ans Äußerste gehenden Form der Liebe Gottes zu uns. Seine Bereitschaft, an die Seite der Opfer von Unrecht und Gewalt zu treten und hier seine Solidarität zu bekunden und zugleich ein Zeichen, das die Bereitschaft Gottes anzeigt, den schuldig Gewordenen bis in die Dunkelheit der Selbstzentrierung nachzugehen, um ihn dort rettend noch zu erreichen.

Im Kreuz stellt Gott sich also solidarisch und mitleidend auf die Seite der Opfer von Gewalt. Gleichzeitig signalisiert es Gottes Bereitschaft, noch die schlimmsten Verbrecher zu begnadigen. Wenn ich das höre, fallen mir die Debatten um sexualisierte Gewalt in den Kirchen ein. Ich denke an die vielen Betroffenen, die endlich zu Wort kommen und auch gehört werden. Und ich frage mich: Kann das gut gehen? In diesem Zusammenhang einen Gott zu bezeugen, der für Täter und für Betroffene gleichermaßen einsteht?    

Wenn man jetzt auf zerrüttete Täter-Opfer-Konstellation schaut, dann bietet das Kreuz natürlich nicht einfach simple Lösungen an. Aber es zeigt doch im Sinne der Einladung Wege aus ausweglosen Situationen an. Insofern einerseits die Entwürdigten hier eine Würdigung finden und sie nicht quasi in der Rivalität um Anerkennung erst darum kämpfen müssen, gewürdigt zu werden. Und auf der anderen Seite werden die Täter nicht fixiert auf die Untaten, die sie begangen haben, sondern die Person des Täters ist mehr als die Summe ihrer Untaten. Das heißt nicht, dass man jetzt quasi den Opfern aufdiktieren wollte: Bitte verzeiht doch euren Peinigern und Übeltätern und seht in ihnen mehr als das, was sie verbrochen haben, aber vielleicht doch den Horizont offen zu halten, dass es da eine Möglichkeit geben könnte, dass das Unmögliche doch Wirklichkeit wird, dass nämlich auch den monströsesten Tätern irgendwann im Lichte des Geistes Jesu Christi begegnet werden kann.

Der Apostel Paulus hat das Kreuz einmal als einen Skandal bezeichnet. Und das wird es wohl auch weiterhin bleiben: Das Symbol einer unmöglichen Möglichkeit, die Unvorstellbares zu denken, zu glauben wagt: Versöhnung. Heilung. Das ist anstößig. Es könnte aber auch, so Jan-Heiner Tück, ein positiver Anstoß sein.

Es gibt die Marginalisierten, es gibt die Verwundeten, die Ausgestoßenen, die unter dem Radar der öffentlichen Aufmerksamkeit sind. Das ist ein erster Anstoß. Ein zweiter ist: das Kreuz ist ein Spiegel unserer Verfehlungen, unserer Schuld, die wir auch gerne verdrängen. Wir sind Meister, Meisterin in der Kunst, es nicht gewesen zu sein, die immer darauf hinausläuft, es andere gewesen sein zu lassen. Und das dritte ist, denke ich: das Kreuz ruft auf zu einer Kultur der Vergebung, den anderen nicht zu fixieren auf die Fehler, die er begangen hat, sondern ihm neue Spielräume zu eröffnen; über die Verfehlungen, die er begangen hat, hinauszugehen und sich als ein anderer zu erweisen. Und viertens ist das Kreuz natürlich das Symbol der Erlösung, der Rettung mit einem österlichen Fluchtpunkt: der Gekreuzigte lebt! Das feiern wir an Ostern. Es gibt eine Perspektive über Welt und Geschichte hinaus, nämlich die Perspektive der rettenden Verwandlung und Vollendung.

Das Buch „Crux“ von Jan-Heiner Tück ist im Herder-Verlag erschienen und zur Lektüre empfohlen von Martina Steinbrecher aus Karlsruhe von der evangelischen Kirche.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=39613
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