SWR1 Begegnungen
Martina Steinbrecher trifft Raimund Hertzsch, der täglich in der Bibel liest, jährlich einen Bestseller in 60 verschiedenen Sprachen herausgibt und immer noch darüber staunt, wie geloste Bibelworte das Leben begleiten können.
Über der Tür hängt ein großer Herrnhuter Stern. In dem schlichten Haus am Ortsrand von Bad Boll bin ich mit Raimund Hertzsch verabredet. Er ist Direktor der dort ansässigen Brüder-Unität. In seinem Büro liegt der Bestseller der Herrnhuter Brüdergemeinde auf dem Tisch: Die Losungen. Jährlich übersetzt in mehr als 60 Sprachen.
Ja, wir finden, es ist eine erstaunliche Erfolgsgeschichte. Seit 1731 erscheint dieses Büchlein schon jedes Jahr, also jetzt im Jahr 2024 ist es der 294. Jahrgang.
Die Losungen: Ein Andachtsbuch mit kurzen Bibelworten für jeden Tag des Jahres. Erfunden hat sie Graf Nikolaus von Zinzendorf. Auf seinem Hofgut in der Oberlausitz hat er im 18. Jahrhundert Glaubensflüchtlinge aus Mähren aufgenommen. Die nannten ihre neue Heimat Herrnhut: Unter der Obhut des Herrn.
Am Anfang hatte Zinzendorf die Idee, den Menschen in Herrnhut einen Text, eine Art Parole für den Tag mitzugeben, über den sie dann während des Tages nachdenken konnten. Damals sind die Losungen mündlich in die Häuser hineingerufen worden.
Ein Tag, eine Losung. Selbstverständlich aus der Bibel. So haben die Leute die Bibel als lebenstauglich erlebt und sie nebenbei auch noch auswendig gelernt. Die mündliche Verbreitung kam allerdings schnell an ihre Grenzen. Deshalb werden die Losungen seit bald 300 Jahren gedruckt. Und gefunden werden die täglichen Worte aus dem Alten Testament tatsächlich durch ein Losverfahren.
Jedes Jahr um den 3. Mai herum wird im Gebäude der Kirchenleitung in Herrnhut die Losung gezogen aus einer Sammlung von reichlich 1800 Bibeltexten, eben Texten aus dem Alten Testament.
Im Livestream? Mit medienwirksamer Verbreitung auf Social Media? Raimund Hertzsch winkt ab. Das große Ereignis findet in einem feierlichen, aber überschaubaren Rahmen statt. Die eigentliche Arbeit beginnt nach dieser Ziehung. Dann machen sich nämlich Theologen ans Werk, um jedem der 365 gelosten Verse eine passende Stelle aus dem Neuen Testament zuzuordnen. Mit der Auswahl der 1800 zum Teil von Zinzendorf noch eigenhändig geschriebenen Losungen geht man dabei auch kritisch um. Bibelstellen, die Krieg oder Gewalt verherrlichen, wurden inzwischen aussortiert. Und …
… nach dem zweiten Weltkrieg sind stark Texte hineingekommen, die mit Buße und mit dem Thema Schuld und Vergebung zu tun hatten. Dann vielleicht in den 80er, 90er- Jahren war es stark auch das Thema Gerechtigkeit, Friedensthemen.
Und heute? Welche biblischen Texte können Menschen im Jahr 2024 brauchen?
Raimund Hertzsch gehört zum Direktionsteam der Herrnhuter Brüdergemeinde, die die täglichen Losungen herausgibt. In mehr als 60 Sprachen. Manchmal findet er, passt der Bibelvers ganz wunderbar zur Situation eines Tages. Heute zum Beispiel, bevor morgen die erste Arbeitswoche des neuen Jahres beginnt:
Die Losung für den 7. Januar 2024 steht im 2. Mosebuch, Kapitel 14, Vers 13: „Fürchtet euch nicht, steht fest und seht zu, was für ein Heil der Herr heute an euch tun wird.“
An anderen Tagen, sagt er, braucht es ein paar Überlegungen mehr, was denn diese Bibelverse für ihn bedeuten sollen.
Manchmal reibe ich mich an den Losungen, auch wenn er so gar nicht passen will zu meiner Situation. Aber meistens empfinde ich es wirklich als eine Kraftquelle, je nachdem, Ermutigung, Trost, als Anlass, selbstkritisch nachzudenken.
Passt es oder passt es nicht? Raimund Hertzsch warnt davor, die Losungen als eine Art Orakel für den Tag misszuverstehen. Im Gegensatz dazu gefällt ihm, was zum Beispiel der Theologe Fulbert Steffensky über seine Losungspraxis denkt. Er empfängt die Bibelworte wie einen fremden Gast.
Der fremde Gast kam zu mir, der fremde Text. Ich habe ihn mir nicht ausgesucht. Ich würde mir immer die aussuchen, die zu mir passen. Ich würde mich fortsetzen in den Texten, die ich mir aussuche, und stattdessen unterbrechen die Losungen die eigenen Gewohnheiten.
Raimund Hertzsch hat es aber auch schon ganz anders erlebt. Dass der Text der Losung die eigene Lebenswirklichkeit fantastisch interpretiert hat.
Ich bin ja in der DDR aufgewachsen, da waren die Losungen wirklich ganz vielen Menschen besonders wichtig. Und oft passte die Losung sehr schön zu dieser absurden Wirklichkeit des damaligen Regimes.
Besonders gerne zitiert er dazu eine Losung aus dem Jahr 1987. Am 13. August, also ein Vierteljahrhundert nach dem Bau der Mauer, stand da zu lesen:
„Machet die Tore weit und die Türen in der Welt hoch“ aus dem Psalm 24. Und am 17. August, die hat sich besonders eingeprägt bei uns, die haben wir immer wieder zitiert: „Mit meinem Gott kann ich über Mauern springen.“
Was für eine Erfahrung! Alte Bibelworte, zufällig für einen bestimmten Tag ausgelost, kündigen im zeitgenössischen Kontext das Ende einer Diktatur und den Fall der Berliner Mauer an. Großartig, dass Menschen mit so starken Hoffnungsbildern versorgt werden und wirklich Halt finden können.
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