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SWR4 Sonntagsgedanken

Heute ist der Gedenktag des heiligen Martin von Tours. Er ist Patron Frankreichs, er ist auch Patron der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Viele Martinskirchen weisen auf ihn hin. Die Martinsumzüge mit dem Reiter und den vielen Lampions haben mich schon als Kind fasziniert. Später habe ich sie als Pfarrer dann selbst organisiert. Wenn wir zum Schluss ums Feuer standen, war es mir wichtig, eine Brezel mit den Kindern zu teilen. Wie Martin den Mantel mit einem Bettler geteilt hat, haben je zwei Kinder eine Brezel geteilt, um so zu spüren, wie schön es ist zu teilen. Ich gebe ab von dem, was ich habe, und empfange die Freude dessen, mit dem ich teile.

Martinus ist im Jahr 397 in seinem Kloster, unweit der französischen Stadt Tours an der Loire, gestorben. Als das Volk ihn zum Bischof wählte, ist er nicht in einen Palast gezogen, sondern in seiner Klosterzelle geblieben. Interessant ist, dass er auf Bildern bis zum 14. Jahrhundert ohne Pferd erscheint, als schlichter Mönchsbischof. Er begegnet dem Bettler auf Augenhöhe, nicht von oben herab. Sein Traum in der folgenden Nacht – so wird berichtet – zeigt ihm Jesus Christus; er ist mit dem Mantelteil bekleidet, den Martin dem Bettler geschenkt hat. „Was ihr einem der Geringsten tut, das habt ihr mir getan“, sagt Jesus im Matthäusevangelium beim letzten Gericht.

Im notleidenden Menschen Jesus Christus selber zu sehen, das ist für mich ein starker Impuls. Manche Menschen verpflichten sich, 2 oder 3 % von ihrem Einkommen mit Notleidenden zu teilen. Das ist gut. Aber der Traum des Martinus ist viel radikaler: Bin ich bereit, weiter zu gehen beim Teilen, bis zur Hälfte gar? Ich weiß doch, dass das, was ich habe, nicht mein Verdienst ist, sondern etwas von dem, was allen gehört.

Diese Erde mit ihren Gütern gehört uns allen. Aber wie ungerecht sind die Güter in der Welt verteilt: Manche leben im Überfluss, viele haben nicht das Notwendige. Mehr teilen ist da gefragt. Übrigens war Martinus noch kein Christ, als er seinen Mantel teilte. Das sagt mir als Christen, bereit zu sein,  mit allen Menschen – ob Christ oder Nichtchrist - in unserer Welt für mehr Gerechtigkeit zu sorgen, egal, welche Herkunft oder Religion der Andere hat.

Auch vom Bettler wird nicht gesagt, dass er Christ war. Also bin ich gerufen, in jedem Menschen – egal wo er herkommt und was er ist – Jesus Christus zu entdecken. Jeder braucht meine Solidarität. Ich muss nicht alles hergeben, dann kann ich ja nichts mehr teilen. Aber das teilen, was ich habe oder mir immer wieder neu erwerbe.

2. Teil

Ich spreche in den SWR 4-Sonntagsgedanken heute über den heiligen Martin. Als junger Gardesoldat hat er seinen Umhang mit einem Bettler geteilt. Dieses Bild hat die katholische Friedensbewegung Pax Christi inspiriert, ihr Jahresthema „Frieden teilen“ zu benennen. Dieses Motto erinnert daran, dass Friede dort wachsen kann, wo wir bereit sind, mit denen zu teilen, die bei uns darauf angewiesen sind. Ich denke an die vielen Flüchtlinge, die aus ihrer Heimat geflohen sind - aus Angst, verfolgt zu werden, oder weil sie dort keine sinnvolle Lebensperspektive haben. In vielen Ländern unserer Erde müssen Menschen flüchten oder eine bessere Lebensmöglichkeit suchen, um ihre Familie zu ernähren. Wir vergessen das oft und fürchten nur, diese Menschen würden uns was wegnehmen. Martinus dagegen fühlt mit dem frierenden Bettler. Er lässt sich in seinem Herzen ansprechen.

Auch bei uns haben manche nicht vergessen, dass sie oder ihre Eltern einmal flüchten mussten. Sie wurden vertrieben. Oder es hat ihnen dort eine neue Regierung das Leben schwer gemacht. So haben sie keinen anderen Ausweg gesehen, als ihre Heimat aufzugeben. Martinus macht vor, was jetzt wichtig ist: uns einzufühlen und unser Herz zu öffnen für Flüchtlinge.

Dazu lädt die Mantelteilung ein. Denn der Umhang, der dem Soldaten des Nachts als Decke gedient hat, musste zur Hälfte von ihm selbst bezahlt werden, bloß die andere Hälfte trug die Staatskasse. Martin hat also kein Staatseigentum verschenkt, er hat seinen eigenen Teil abgegeben.

Diese spontane Geste des Herzens hat für Martin weitreichende Folgen gehabt. Kaiser Julian droht eine Schlacht gegen die Alemannen in Worms. Vor dem Kampf verteilt der Kaiser Sonderprämien an die Soldaten. Als Martin an die Reihe kommt, lehnt er die Prämie ab und sagt: „Bis heute hab ich dir gedient. Erlaube mir, dass ich jetzt Gott diene. Ich bin ein Soldat Christi. Mir ist nicht mehr erlaubt, mit Waffen zu kämpfen.“

Martinus hat nicht nur den Wehrdienst verweigert; er zeigt auch, dass Friede dort möglich wird, wo wir auf Waffen verzichten und gewaltfreie Wege suchen, um Probleme zu lösen. Stattdessen droht bei uns gerade ein neuer Rüstungswettlauf. Militärische Ausgaben sollen erhöht werden, obwohl wir alle wissen: Waffen lassen zuletzt nur Zerstörung übrig. Mit Recht spricht Papst Franziskus von dem Skandal, wie viel Geld ausgegeben wird, um Waffen zu produzieren, zu verkaufen und sie einzusetzen, statt mit diesem Geld Hunger und Armut zu bekämpfen.

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SWR4 Sonntagsgedanken

Manche leiden an der katholischen Kirche. Sie ist offensichtlich nicht so, wie sie es sich vorstellen. Zwar sind viele angetan von Papst Franziskus, auch Nichtkatholiken. Aber der Streit, ob die Kommunion an evangelische Christen ausgeteilt werden darf oder nicht, hat in vielen den alten Vorwurf geweckt: Die Amtsträger in der Kirche bleiben hinter dem zurück, was Jesus gewollt hat. Mich schmerzt das, aber ich bin auch froh, dass manche Bischöfe klar Position bezogen haben und das befürworten, was viele von uns Pfarrern schon seit langem tun: nämlich einzuladen wie Jesus eingeladen hat. Er ist ja auf die zugegangen, die überhaupt nicht damit gerechnet haben. Gerade sie hat er seine Liebe spüren lassen.

Tut das die Kirche heute? Manche reiben sich daran, dass die Kirche aus Menschen besteht, die Fehler haben und manchmal sehr engstirnig sind. Aber gehören nur die zur Kirche, deren Verhalten tadellos ist? Dann könnte ich nicht zu ihr gehören. Wenn Kirche nicht aus Menschen bestehen darf, die fehlerhaft sind, die versagen, die zurückbleiben hinter dem, was sie sich vorgenommen haben, wäre sie unmenschlich. Kirche besteht aus Menschen, die Fehler haben und Fehler machen. Wichtig ist nur, dass sie diese Fehler erkennen, sie eingestehen und bereit sind, die Folgen zu tragen.

Jesus von Nazareth hat nicht ideale Menschen um sich versammelt, sondern solche, die um ihre Begrenztheit wussten – und er ist zu denen gegangen, die versagt haben, auf die man mit dem Finger gezeigt hat. Daran denke ich, wenn ich im Gefängnis Gottesdienst halte. Es ist so leicht, auf die, die versagt haben, mit dem Finger zu zeigen. Gerade ihnen hält Jesus den Spiegel vor und sagt: „Was siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, den Balken in deinem eigenen aber siehst du nicht!“

Wohlgemerkt! Jesus rechtfertigt nicht die Tat des Sünders. Aber er gibt dem Sünder, der umkehrt von seinem falschen Weg, neue Hoffnung, neue Lebensmöglichkeit. Er sagt nicht: „Schwamm drüber!“  Aber er verdammt den nicht, der seine Tat  bereut, der umkehrt und neu anfangen will. Er vergibt ihm, dass er zu sich selbst stehen kann und gut zu machen sucht, was er angerichtet hat. Es ist freilich viel leichter, in der Wunde anderer herumzustochern. Aber so verhindere ich, dass sie geheilt wird.  

2. Teil:

Mitte der 60er Jahre hat der evangelische Theologe Helmut Thielicke ein Buch veröffentlicht mit dem Titel: „Leiden an der Kirche.“ Mich hat das damals als jungen katholischen Theologen bewegt. Er sagt, dass es zur Kirche gehört, an ihrer Unvollkommenheit zu leiden. Das bedeutet nicht, eine schlechte Tat zu rechtfertigen, wohl aber, den Täter im Herzen mitzutragen. Dann darf ich hoffen, dass er sein falsches Verhalten einsieht und bereit ist, die Folgen auf sich zu nehmen.

Der Apostel Paulus sagt in einem Abschnitt des Kolosserbriefes: „Für den Leib Christi, die Kirche, ergänze ich in meinem irdischen Leben das, was an den Leiden Christi noch fehlt“ (Kolosser 1,24). Für Paulus ist menschliche Unzulänglichkeit nicht ein Grund, der Kirche den Rücken zu kehren, sondern sich umso mehr zu engagieren, damit sie besser dem Bild Jesu entspricht. Kirche hat Fehler wie ich sie auch habe, aber genau so hat sie die Chance, mehr Menschlichkeit zu zeigen und barmherziger zu sein.

Dann kann sie auch zur Kraftquelle werden für Menschen, die vom Leid gezeichnet sind. Ich hab das in meiner ersten Gemeinde in Böblingen erlebt. Ein HNO-Arzt war an Kehlkopfkrebs erkrankt – also genau dort, wo er selber viele Menschen behandelt hat. Er hat sein Sterben auch durch dieses Pauluswort annehmen können. Er hat seine Schmerzen sozusagen in die Todesschmerzen Jesu hineingelegt. Auf einmal hat er sich nicht mehr allein gefühlt. Er hat nicht geklagt: „Warum ich?“ Er sah sich .als Teil des großen Leibes Christi, zu dem alle Menschen gehören, und so hat er sich mit den andern Leidenden dieser Welt solidarisiert.

Wo Menschen bereit sind, eine Gemeinschaft mitzutragen, auch wenn sie nicht ideal ist, da wird auch das Negative/Schlechte verwandelt. Es wird nicht vertuscht oder gar gerechtfertigt. Es wird zum Impuls, gemeinsam dafür zu sorgen, dass es mit dieser Gemeinschaft besser wird. Das gilt nicht nur für die Kirche, sondern für jede Gruppierung, jede Institution. Wo Menschen sind, gibt es immer auch Negatives, gibt es Schatten. Doch Schatten verweisen auf das Licht, und es ist wichtig, an das Licht zu glauben, ohne die Schatten zu übersehen.

Ein Brautpaar gelobt deshalb vor dem Altar, in guten wie in schlechten Zeiten zusammen zu stehen. Darin sehe ich auch einen guten Weg für die Zukunft der Kirche. Je mehr ich einen andern Menschen kennen lerne, desto mehr entdecke ich auch seine Fehler und Schwächen. Wenn ich dann auf ihm herumhacke, nehme ich ihm jeden Mut etwas zu verändern. Spürt er aber mein Wohlwollen, dann kann sich auch etwas Schmerzliches zum Guten wandeln.

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SWR4 Sonntagsgedanken

Als Kind hab ich gehört: „Du darfst am Glauben nicht zweifeln.“ Zuweilen hat mir das ziemlich zu schaffen gemacht, weil ich doch an manchem gezweifelt habe, was ich so hörte. Später habe ich gelernt, es sei sogar Sünde, am Glauben zu zweifeln. Das hat mich fast zur Verzweiflung gebracht.

Erst als Student hab ich dann gemerkt, der Zweifel ist nicht Sünde, sondern notwendig. Er hilft, tiefer nachzufragen und so den Glauben mehr zu begründen.

Dann bin ich eines Tages auf den sogenannten ungläubigen Thomas gestoßen. Er ist der Apostel, der nicht an den auferstandenen Jesus glauben will. Der Tod Jesu hat ihn und die andern Jüngerinnen und Jünger tief getroffen. Alle Hoffnung auf eine bessere Welt ist zerbrochen. Jetzt erzählen ihm die andern, sie hätten den Auferstandenen gesehen. Das kann er nicht glauben. „Wenn ich nicht seine Wundmale berühre, glaube ich nicht.“

Als die Jünger wieder zusammen sind, ist Thomas bei ihnen. Der auferstandene Jesus begegnet ihnen und sagt zu Thomas: „Streck deinen Finger aus, hier sind meine Hände.“ Jesus tadelt den Thomas nicht, er erfüllt ihm seinen Wunsch. Thomas ist alles andere als ungläubig. Er will nur sich selbst überzeugen. Das ist  mir sympathisch.

Ich weiß, dass mir mein Glaube von Eltern, Pfarrern und Freunden vermittelt worden ist. Aber dann habe ich meine eigenen Erfahrungen gemacht. Das hat Spannungen erzeugt. Deshalb rebellieren junge Menschen auch immer wieder gegen die älteren. Das muss so sein, sonst gewinnen sie keine persönliche Glaubensüberzeugung. Dazu gehört auch der Zweifel. Er bewahrt mich vor blindem Glauben.

Wieviel Unheil hat blinder Glaube in der Geschichte der Menschen angerichtet! Ich denke an Ketzerverfolgungen, Kreuzzüge, Hexenverbrennungen. Ein schreckliches Beispiel für mich ist auch Rudolf Höß, Lagerleiter im KZ Auschwitz von 1940-43. Unzählige Menschen hat er auf dem Gewissen. Im Nürnberger Prozess 1947 hat er sich zu rechtfertigen gesucht und auf sein angeblich christliches Gewissen berufen. Dies gebiete ihm, alle Befehle „von oben“ blind auszuführen.

Umso dankbarer bin ich den Menschen, die in jener Zeit nicht blind geglaubt haben, sondern so reagiert haben wie die Geschwister Scholl, der Theologe Dietrich Bonhoeffer, der Jesuitenpater Alfred Delp und viele andere Unbekannte. Ich bin auch bis heute meinem Vater dankbar. Er hat keine höhere Schulbildung gehabt, aber gespürt, dass mit Hitler und den Nazis etwas nicht gestimmt hat. Darum hat er sich geweigert, ihnen nachzulaufen.

So braucht der Glaube den Zweifel, sonst verfällt er leicht einem Fanatismus, der am Ende über Leichen geht. Dagegen zeigt Thomas uns, wie wichtig es ist, mit den Wundmalen des Leibes Christi solidarisch zu werden, nämlich mit den Menschen, die leiden, denen das Recht auf ein menschenwürdiges Leben verwehrt wird.

 TEIL 2

Wer an den Auferstandenen glaubt, tut es nicht blind oder egoistisch. Sein Glaube ist eingebettet in die Gemeinschaft mit anderen, die mit ihm glauben, zweifeln, aber vor allem lieben. Eine besondere Form dieser liebenden Gemeinschaft erleben in der Osterzeit die Kinder vieler katholischer Gemeinden. Sie empfangen in der Erstkommunion den Leib Christi, der sie mit der ganzen Menschheit verbindet. Denn nicht nur die Christen, nein, alle Menschen zusammen bilden den Leib des Auferstandenen. Sie sind seine Glieder.

Darum ist dieser Tag ein wichtiger Abschnitt im Leben der Kinder und im Leben einer Kirchengemeinde. Denn eine christliche Gemeinde lebt nicht für sich selbst, sie weiß sich verbunden mit der ganzen Menschheit.

Die Kinder erhalten in manchen Gemeinden ein weißes Gewand, das sie über ihre Kleidung streifen. Das ist keine Uniformierung, sondern drückt aus, dass alle dieselbe Würde von Gott empfangen haben. Dies hat seinen Ursprung in der frühen Christenheit. Wer in der Osternacht getauft worden ist, hat ein weißes Gewand bekommen als Zeichen seiner neuen Würde. Er hat es bis zum Sonntag nach Ostern getragen und dann wieder abgelegt, „jedoch so“, sagt Bischof Augustinus im 5. Jahrhundert, „dass das schimmernde Weiß, das mit dem Kleid abgelegt wird, im Herzen bewahrt bleibt.“ Die Farbe weiß erinnert an die Auferstehung und das neue Leben in Gottes Herrlichkeit. Das ist der eine Aspekt der Erstkommunion.

Der andere zeigt den Kindern: Das Brot Jesu Christi ist ein Zeichen, das zum Teilen einlädt. So wie Jesus sein Leben an seine Mitmenschen verschenkt hat, so können wir unser Leben miteinander teilen – im Guten wie im Bösen, in der Freude wie im Leid.

Ich bin überzeugt: wenn die Kinder schon im frühen Alter dieses Teilen lernen, werden sie auch als Erwachsene dafür sensibel sein. Dann wird es weniger Hunger in der Welt geben, weil mehr Menschen teilen.

Was ist das Schöne am Teilen? Es ist nicht nur der Andere, der etwas bekommt, auch der, der teilt, bekommt etwas, nämlich die Freude des andern.

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SWR4 Sonntagsgedanken

Heute ist der Tag des hl. Bernhard von Clairvaux. Dieser Ordensmann des 12. Jahrhunderts ist zwar umstritten, weil er zum Kreuzzug aufgerufen hat. Aber er hat auch einen nachdenklichen Satz geschrieben, der mich sehr beschäftigt. In einem Kommentar zum biblischen Buch „Das Hohelied“ sagt er: „Ich liebe, weil ich liebe; ich liebe um zu lieben.“

Liebe – um ihrer selbst willen: das ist ein Thema, das mich provoziert. Dabei frage ich nicht, ob jemand wie Bernhard Christ ist oder nicht. Glaubwürdig ist ein Mensch für mich, wenn Liebe sein Leben bestimmt. Ob einer viel Geld hat, Macht und Einfluss besitzt, sich durchsetzen kann  oder nicht, das macht für mich nicht den Wert eines Menschen aus, wohl aber, ob er aus Liebe handelt oder nicht.

Liebe gilt für mich nicht nur für ein Liebes- oder Ehepaar oder für Eltern und Kinder. Liebe kann sich auf die Natur beziehen, auf die Kunst; sie kann mein soziales oder politisches Handeln bestimmen. Will ich mich in der Politik engagieren, stellt sich die Frage: Tue ich das aus Ehrgeiz und weil ich im Rampenlicht stehen will oder tue ich es aus Liebe zu Menschen oder zu einer Sache, für die ich mich einsetze?

Da ist ein Chef. Er ist nicht fixiert auf seinen persönlichen Erfolg, er denkt nicht nur an das Ansehen seiner Firma. Er schaut auch darauf, dass seine Angestellten sich wohl fühlen, dass sie gern bei ihm  arbeiten. Das ist Liebe.

Oder eine Krankenschwester und eine Altenpflegerin. Natürlich müssen sie ihr Geld verdienen. Aber ein Patient spürt, ob er mit Liebe behandelt wird oder nicht. Das ist nicht leicht in diesen Berufen. Sie werden nicht gut bezahlt, beinhalten viel Stress, sind Mangelware. Umso schöner, wenn solche Frauen im Herzen ansprechbar bleiben, eben weil sie aus Liebe arbeiten.

Der Satz des Bernhard von Clairvaux ist mir wichtig: „Ich liebe, weil ich liebe.“ Also versuche ich, gern zu tun, was ich tue, weil ich spüre: das kommt andern Menschen zugute oder das nützt einer guten Sache. Da dürfen dann auch andere Motive mitschwingen: ich verdiene meinen Lebensunterhalt, ich entfalte mich, ich schaffe gern mit andern zusammen, ich verwirkliche eine Idee. All das hat sein Recht.  

Aber das Hauptmotiv ist: ich tue, was ich tue, aus Liebe – aus Liebe zu einer Person, aus Liebe zu einer Sache. Aber ich tue es nicht, weil ich jemand gefallen will oder bewundert werden möchte; ich tue es aus Liebe, selbstlos! Alles andere ist zweitrangig. 

 

 

 

 

Ich spreche heute in den SWR 4 Sonntagsgedanken über die Liebe um ihrer selbst willen, über selbstloses Wirken und Handeln. Aber mache ich mir da nicht etwas vor, wenn ich sage: ich handle aus Liebe? Für mich ist das immer wieder eine Frage, die mich anregt nachzudenken und mich selbst zu prüfen. Kann ich überhaupt selbstlos handeln, nur um der Liebe willen?

Ich denke, ich muss hier abwägen, was erstrangig und was zweitrangig ist. Ich kann mich in einem Verein engagieren, weil ich vorne dran stehen will. Oder aber weil mir der Verein am Herzen liegt. Natürlich freut es mich, wenn andere meinen Einsatz anerkennen und mich loben. Aber wenn ich zu sehr davon abhänge, wird es für mich schwierig, wenn das Lob ausbleibt. Dann sind meine Gedanken nicht mehr bei der Sache, sondern sie sind durchsetzt von anderen Motiven, eben um zu gefallen oder wenigstens aufzufallen. Dann handle ich nicht selbstlos. Dann ist es so, wie Goethe im Tasso sagte: „Man merkt die Absicht, und man wird verstimmt.“

Nicht verstimmt bin ich eben, wenn ich merke: der tut das wirklich um der Sache willen, nicht weil er sich profilieren oder etwas haben will.

Das gilt auch im sozialen und politischen Leben. Ich denke an die unzähligen Ehrenamtlichen, die sich in der letzten Zeit für Flüchtlinge einsetzen und ihnen helfen, wieder Boden unter die Füße zu bekommen. Ein wunderbares Beispiel selbstloser Liebe!

Was dagegen in England geschehen ist mit dem Austritt aus der EU, das schlaucht mich, weil ich weiß, wie wichtig die Liebe in der europäischen Politik ist. Das ist ganz im Sinn Bernhards von Clairvaux: Es war ihm damals ein Anliegen, in gemeinsamen Belangen auch gemeinsam vorzugehen. Wenn aber ein Staat nur an sich denkt, immer nur herausholen will, geht das Gemeinsame kaputt. Dann fehlt die Liebe dabei. Ich bin froh über alle, die um der Liebe zu Europa willen sich engagieren.

Ich denke auch an die, die in der Türkei für Freiheit und Demokratie demonstrieren. Sie lieben ihr Land und setzen sich für die zu Unrecht Verfolgten ein – um der Liebe willen. Ich habe unlängst von einer Lehrerin gehört, die in Istanbul völlig gewaltfrei nur mit einem Plakat für sich und ihre entlassenen Kolleginnen demonstriert hat und regelmäßig von der Polizei abgeführt worden ist. Für mich hat sie genau in die Tat umgesetzt, was der Ordensmann Bernhard von Clairvaux wollte: „Ich liebe, um zu lieben.“                           

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SWR4 Sonntagsgedanken

Heute ist Palmsonntag. Erst vor kurzem bin ich mit einer Gruppe den Weg in Jerusalem gegangen, den Jesus damals am Palmsonntag genommen hat. Oben vom Ölberg aus gingen wir hinunter ins Kidrontal, vorbei an der Kapelle „Dominus flevit“, wo Jesus über das verstockte Jerusalem weinte, hinab in den Garten Gethsemane. Dort wurde Jesus gefangen genommen. Heute ziehen viele Menschen an diesem Ort vorbei. Sicher spüren sie etwas von der beklemmenden Situation, als die Jüngerinnen und Jünger Jesu zusehen mussten, wie ihr geliebter Meister verhaftet und abgeführt wurde.

Einer der Jünger, Petrus, flieht nicht wie die andern. Er hat ja Jesus geschworen, ihn nie zu verlassen. Aber kurze Zeit später bringt ihn die Frage einer Magd zu Fall. Jetzt leugnet er, Jesus zu kennen. Aber danach erkennt er seine Schuld und weint über sein Versagen. Eigentlich hatte er sich entschieden, Jesus treu zu bleiben. Aber die Angst um sich selbst war größer.

Jesus ruft zur Entscheidung, den Menschen wichtiger zu nehmen als die religiösen Vorschriften. Darum gerät er in Konflikt mit der jüdischen Autorität, dem Hohen Rat. Dieser liefert ihn anschließend dem kaiserlichen Statthalter Pontius Pilatus aus. Ein Schauprozess! Mich erinnert das an Schauprozesse im Naziregime, wo Menschen wegen ihrer Überzeugung leiden mussten und ungerecht verurteilt wurden. Ich erschrecke, wenn ich sehe, wie leicht Menschen sich manipulieren lassen. Am Palmsonntag jubeln sie Jesus zu: „Hosannah!“ Wenige Tage später lassen sie sich hinreißen, „Kreuzige ihn!“ zu schreien.

Genauso überschreie ich Jesu Ruf, mich für den Menschen zu entscheiden, wenn ich heute gegen Flüchtlinge demonstriere. Zu Beginn des Flüchtlingsstromes haben wir eine Willkommenskultur gehabt, sozusagen ein „Hosannah, ihr habt es geschafft!“ Ich erinnere mich an Bilder von einem Bahnhof in Bayern. Auf einmal hören wir ein „Weg mit Euch, verschwindet hier oder wir machen Euch den Garaus!“ Jegliches Verständnis ist verschwunden, jedes Mitfühlen mit dem, was diese Menschen durchgemacht haben. Wie traumatisiert sind viele Flüchtlingskinder durch die oft abenteuerliche Flucht!

An Jesus muss man sich entscheiden. Papst Franziskus, unsere Kanzlerin und die deutschen Bischöfe sprechen da klar. Man kann nicht Christ sein wollen und sein Herz gegenüber Flüchtlingen verschließen. Da verleugne ich  Jesus heute wie Petrus damals.

Teil 2

Mit dem heutigen Palmsonntag beginnt die wichtigste Woche der Christenheit, die Karwoche. Sie fordert heraus sich zu entscheiden. Darüber spreche ich heute in den SWR 4 Sonntagsgedanken. Einer, der dies geradezu tragisch erfährt, ist Judas. Er ist der Schatzmeister der Gruppe, hat also eine Vertrauensstellung inne. Judas hofft, dass Jesus zum Aufstand gegen die Römerherrschaft blasen wird. Sein Kuss im Garten Gethsemane ist nicht der Kuss eines Verräters, es ist der innige Freundschaftskuss für den geliebten Meister. Judas will Jesus zwingen, sich für den Weg der Gewalt zu entscheiden, und überhört zugleich, dass er sich entscheiden müsste für die gewaltfreie Liebe.

Da beginnt seine Tragik. Judas hofft, dass Jesus jetzt beim Prozess alle an die Wand fegen wird, die jüdischen wie die römischen Autoritäten. Doch da hat er sich gleich zweimal geirrt. Zum einen ist Jesus nicht bereit, den politischen Rebell zu geben. Zum andern ist der Prozess längst entschieden, bevor er begonnen hat. Dafür sorgt der Hass des religiösen Establishments. Das schnürt dem Judas regelrecht den Hals zu. Er hat doch nicht den Tod Jesu gewollt, sondern seinen Triumph. Judas erkennt seinen Irrtum, und er bereut, aber da ist keiner, der seine Reue versteht. Das nimmt ihm den Lebensatem, und er erhängt sich.

Judas hat sich der Entscheidung gestellt, die er bei Jesus spürte. Aber er war in sich so gefangen, dass er diese Entscheidung falsch gedeutet hat. Das geht auch mir manchmal so, wenn ich meine, Gott müsse doch jetzt endlich eingreifen und dem unsäglichen Leid ein Ende bereiten. Dann merke ich, ich schiebe Gott zu, was ich tun sollte, nämlich geduldig und liebevoll kleine Schritte zu gehen, die anderen Menschen das Leben erleichtern.

Aber es ist für mich sehr tröstlich, dass Gott trotz meiner falschen Entscheidungen mich immer wieder umarmt. In der wunderschönen Magdalenenkirche im burgundischen Vézelay gibt es an der ersten Säule hoch oben ein Kapitell. Auf der einen Seite kann man erkennen, wie Judas sich erhängt. Daneben sieht man Jesus. Er hat sich den toten Judas um die Schultern gelegt wie der gute Hirte das verlorene Schaf. Für mich ein sehr tröstliches Bild. Auch der, der an sich selbst verzweifelt, ist von Jesu vergebender Liebe nicht ausgeschlossen.

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SWR4 Sonntagsgedanken

Gestern ist der Hiroshima-Gedenktag gewesen. Er erinnert an den Abwurf der ersten Atombombe, die vor 71 Jahren um 8.15 h über dieser japanischen Stadt ausgeklinkt worden ist. Sie hat eine Minute später unbeschreibliches Leid verursacht. Drei Tage danach hat Nagasaki dieselbe Katastrophe ereilt.

Als Jugendlicher habe ich einen Film über Nagasaki gesehen. Der Titel ist mir noch heute in Erinnerung: „Die Glocken von Nagasaki.“ Ich habe Menschen gesehen, die an den Folgen des Atombombenabwurfs leiden. Sie haben Angehörige verloren, ihre Häuser sind verbrannt und sie selbst leiden unter den Folgen bis heute. Die Strahlungen haben ihr Immunsystem durcheinandergebracht oder ganz zerstört. Erblindete, Hörgeschädigte, Haut- und Krebserkrankte erzählen in dem Film von ihrem Lebenskampf. Sie müssen sich völlig neu orientieren. Die seelischen Belastungen all dieser Menschen sind enorm. Zwischendurch läuten in diesem Film immer wieder Glocken. Und man sieht zerstörte Kirchen.

Später habe ich gehört, dass auch der Pilot, der die Atombomben ausgeklinkt hat, seines Lebens nicht mehr froh geworden ist. Das kann ich gut nachfühlen. Wäre ich an seiner Stelle gewesen, ich könnte nicht mehr ruhig schlafen. Ich hätte dauernd diese grauenvollen Bilder der Zerstörung vor mir.

Dann nach dem Zweiten Weltkrieg hat es viele Menschen auf der Welt gegeben, die gesagt haben: „Nie wieder Krieg – und schon gar nicht mit einer solchen Bombe!“ Aber sie konnten sich nicht durchsetzen. Weltweit sind weitere Bomben gebaut worden. Ich denke an die Napalmbomben im Vietnamkrieg mit ihrer grässlichen Zerstörungskraft. Bilder von entstellten verkrüppelten Menschen sind mir vor Augen. Ich denke an andere Giftgasbomben und an Raketen. Ich denke an die Atombomben, die auch heute noch bei uns gelagert sind und frage mich: Warum sind wir so erfinderisch, wenn es ans Zerstören geht? Warum können wir nicht unsere Fantasie in positive Kraft verwandeln?

Ich spüre seit dem Film über Nagasaki, dass auch ich herausgefordert bin, mich für jene Kraft einzusetzen, die nicht zerstört, sondern aufbaut. Deshalb hab ich als Lehrer und Pfarrer mit meinen Schülern immer wieder einen Dokumentarfilm diskutiert, der vom ersten Abwurf der Bombe, damals auf Hiroshima, berichtet. Auch da haben wir Betroffene gehört. Obwohl wir ihr Japanisch nicht verstanden, sondern nur die Untertitel gelesen haben: Der Schmerz hat ihre Gesichter gezeichnet. Als junge Menschen hat sie das Unglück getroffen, aber  nach 40/50 Jahren ist immer noch spürbar, wie katastrophal die Bombe ihr Leben verändert hat.

Teil 2

Vielleicht empfinden Sie, liebe Hörerinnen und Hörer, meine Sonntagsgedanken heute über die Atombombenabwürfe am 6. und 9. August 1945 als wenig sonntäglich. Das kann ich verstehen. Aber ich möchte diese beiden Gedenktage – gestern Hiroshima, am Dienstag Nagasaki – nicht übergehen. Für mich ist es wichtig, mein Gewissen wach zu halten. Viele Menschen sind auch heute noch überzeugt, dass mancher Konflikt in unserer Welt nur durch Gewalt und zerstörerische Waffen zu lösen ist. Deshalb stimmen sie der Produktion von Waffen zu, auch ihrem Verkauf und Export. Schließlich verdienen wir nicht schlecht daran.

Aber ich frage mich: Ist das der richtige Weg, um zu verdienen? Die leidenden Gesichter von kriegsgezeichneten Menschen, vor allem von Kindern - damals wie heute - lassen mir keine Ruhe.

Der Hiroshima-Film, den ich meinen Schülern gezeigt habe, endet mit dem Läuten der Friedensglocke von Hiroshima. Dazu spricht der Kommentator Worte des Propheten Jesaia:

 „Am Ende der Tage wird es geschehen: Der Berg mit dem Haus des Herrn steht fest gegründet als höchster der Berge; er überragt alle Hügel. Zu ihm strömen alle Völker. Viele Nationen machen sich auf den Weg; sie sagen: Kommt, wir ziehen hinauf zum Berg des Herrn und zum Haus des Gottes Jakobs. Er zeige uns seine Wege, auf seinen Pfaden wollen wir gehen…Dann schmieden sie Pflugscharen aus ihren Schwertern und Winzermesser aus ihren Lanzen. Man zieht nicht mehr das Schwert, Volk gegen Volk, und übt nicht mehr für den Krieg. Ihr vom Haus Jakobs, wir wollen unsere Wege gehen im Licht des Herrn“ (Jesaia 2,2-5).

Schwerter zu Pflugscharen! Ist das die veraltete Illusion eines fast 3000 Jahre alten Propheten? Ich finde es mutig, dass Jesaia diesen Text schrieb, als sein Volk Israel hochgerüstet hat. Dadurch hat er die provoziert, die ihre Sicherheit durch Waffengewalt erhoffen. Er provoziert auch mich heute, nicht müde zu werden und ans Um- schmieden von Waffen zu denken. Schwerter zu Pflugscharen! Immerhin ist dies vor dem Fall der Berliner Mauer das Erkennungszeichen derer gewesen, die das politische System der DDR damals ändern wollten. Sie haben mehr fertig gebracht als alle Waffengewalt, die letztlich nur zerstört.

Ich wünsche mir, dass dieses Bild „Schwerter zu Pflugscharen“ auch heute zu einer positiven Kraft für uns wird, im privaten wie im politischen Leben.

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SWR4 Sonntagsgedanken

Als Kinder haben wir am Ostermorgen Eier im Garten suchen dürfen. Der Osterhase habe sie versteckt, wurde uns gesagt. Irgendwann habe ich mich gefragt: Was hat ein Hase mit Eiern zu tun, die doch die Hühner legen? Kinder fragen und Erwachsene wissen manchmal eine Antwort. Damals hat mir niemand so geantwortet, dass ich zufrieden gewesen wäre.

Später habe ich dann selber nachgeforscht und eine schöne Antwort gefunden: Der Hase und die Eier sind zwei verschiedene Symbole für neues Leben, für Auferstehung. Das Ei ist ein Symbol der Fruchtbarkeit. Natürlich! Wenn das Huhn es ausbebrütet hat, kommt ein Küken hervor: neues Leben! Und der Hase? Er hat keine Augenlider. Deshalb hat man früher gemeint, er würde nie schlafen, er sei immer wach. Auch ein Zeichen für Leben!

Das ist es, was wir Christen an Ostern feiern: das Leben – und zwar das Leben im Angesicht des Todes. Ich hab das bei meiner ersten Beerdigung vor fast 50 Jahren intensiv gespürt. Der Verstorbene, den ich in einem Stuttgarter Vorort beerdigen musste, ist genauso alt gewesen wie ich: 27 Jahre. Bei einem Autounfall dort, wo die B 27 unter der A 8 durchführt, ist er ums Leben gekommen. Im Trauergespräch habe ich Folgendes erfahren: Als jugendlicher Waise ist er auf Abwege geraten und im Erziehungsheim gelandet. Eine Frau, die die Autowerkstatt ihres verstorbenen Mannes weiterführte, bot ihm Arbeit an. Trotz der eigenen Trauer um ihren Mann sah sie in den Augen des Jugendlichen eine Sehnsucht.

Eines Tages hat sie zu ihm gesagt – zum Entsetzen ihrer Verwandten, wie sie mir gestand: „Ich nehme dich in meine Familie auf, wenn du willst.“ Sie hatte einen gleichaltrigen Sohn; und der junge Mann hat sich durch die Liebe seiner Pflegemutter aus einem schwer erziehbaren Jugendlichen in einen liebenswürdigen und hilfsbereiten Menschen verwandelt. Er sagte einmal zu ihr: „Zum ersten Mal in meinem Leben durfte ich zu jemand ‚Mama‘ sagen.“ Ein paar Jahre später ist er in eine eigene Wohnung gezogen. Binnen kurzer Zeit war er von seinen Nachbarn geachtet und geschätzt, weil er überall ein nettes Wort übrig hatte und half, wo er konnte. Kurz danach geschah der Unfall.

Ich habe an seinem Sarg gespürt: jetzt spricht er mich an, er ermutigt mich und die vielen Menschen, die bei seiner Beerdigung da waren. Wir alle haben aus seinem Tod Kraft für unser Leben gespürt. Das ist für mich Ostern: Die Liebe einer Mutter hat aus dem verlorenen Sohn einen liebenswerten Menschen geformt.

Teil 2

Ich spreche heute am Ostermontag über die Kraft des Lebens im Angesicht des Todes. Aber es hört sich wie Hohn an, wenn ich an Ostern von neuem Leben spreche und dann an den Nahen und Mittleren Osten denke: an die vielen Menschen, die dort in der letzten Zeit umgekommen sind oder an die, die auf einer abenteuerlichen Flucht sind und um ihr Leben bangen. Außerdem: So viele Waffen werden in unserer Welt produziert, die so vielen Menschen den Tod bringen. Leid über Leid!

Dieses Problem hat auch die beiden Jünger Jesu umgetrieben, von denen Lukas in seinem Evangelium berichtet. Es wird heute in der katholischen Kirche vorgelesen. Enttäuscht und mutlos gehen die Zwei nach dem Tod Jesu von Jerusalem weg in ihr Heimatdorf Emmaus, etwa zwei Stunden Wegzeit. All ihre Hoffnung auf ein besseres Leben, auf ein Ende der Besatzung durch die Römer, auf ein Leben in Freiheit ist zerstört. Wieso musste Jesus am Kreuz sterben? Das will nicht in ihren Kopf.

Nun erzählt der Evangelist Lukas, wie ein Wanderer sich zu ihnen gesellt und mit ihnen über ihr Problem spricht. Während des Gesprächs spüren sie, dass sich in ihnen etwas bewegt. Ihr Schmerz möchte sich lösen, aber noch geht es nicht. Dann sitzt der Wanderer mit ihnen zu Tisch und bricht das Brot. Da gehen ihnen die Augen auf und sie erkennen Jesus, er aber entschwindet ihrem Blick.

Es geht in dieser Geschichte um ein doppeltes Sehen: das Sehen der Augen und das Sehen des Herzens. Die Augen sehen das Scheitern Jesu am Kreuz. Das Herz spürt: es gibt eine Kraft, die stärker ist als der Tod, nämlich die Liebe. Sie stirbt nicht. Deshalb sagt Lukas: das Herz der Jünger brennt.

Das will Ostern, dass unser Herz zu brennen beginnt. Dann greift die Osterbotschaft. Solange ich sage: „Ach, da kann ich ja eh nichts machen. Die Welt ist halt, wie sie ist!“ hab ich noch nichts verstanden. Dann brennt auch mein Herz nicht. Wenn mich aber die Not anderer nicht gleichgültig lässt, wenn ich mein Herz öffne, dann wird Leben mitten im Tod spürbar. Dann schotte ich mich nicht vor Flüchtlingen ab, weil ich um mein Eigenes fürchte. Ich trinke mit den Syrern oder Irakern einen Kaffee und poliere meine Englischkenntnisse auf. Ich lerne ein paar Worte arabisch und merke, wie ein Lächeln das Gesicht des Fremden verändert. Das Schöne daran: Begegnung vertreibt die Angst. Das ist Ostern! Dann kann ich mich an Ostern freuen und singen.

Wenn Christen an Ostern Halleluja singen, machen sie nicht die Augen zu vor dem Leid, das ihnen begegnet. Sie finden durch ihr Singen neuen Mut. Sie müssen angesichts der Not in unserer Welt nicht verzweifeln. Sie gehen  kleine Schritte der Hoffnung, und die wünsche ich uns allen.

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SWR4 Sonntagsgedanken

Heute ist der Gedenktag von zwei Menschen, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben: die heilige Cäcilia und John F. Kennedy. Cäcilia ist die Patronin der Kirchenmusik.   Wenn ich in Rom bin, besuche ich ihre Kirche im Stadtviertel Trastevere. Die Kirche ist nicht imposant, eher bescheiden. Aber es gibt in ihr eine liegende Marmorstatue der Cäcilia, die mich jedes Mal in Bann zieht. Der italienische Künstler Stefano Maderna hat sie 1599 geschaffen. Ich habe gelesen, Maderna hätte sie aus Marmor so geformt, wie man ihren Leichnam vorfand, als man ihr Grab in den Katakomben öffnete. Dann hat man sie in jene Kirche überführt, die bis heute ihren Namen trägt.

Was mich an dieser Gestalt fasziniert: ich sehe die Schnittwunde des Schwertes an ihrem Hals und frage mich: Wie war ihr wohl zumute, als sie das Schwert sah, das ihr irdisches Leben beendet hat? Eine junge Frau wie sie, die eigentlich das Leben noch vor sich hat. Dann ist da ihre linke Hand. Mir scheint, die Finger sind wie zum Schwur erhoben. Will sie mir sagen: Ich bin treu gegenüber Christus  – bist du es auch? Ich merke, wie sie mich fragt, ob ich meinen Glauben überzeugend lebe oder nicht.

Cäcilia ist zusammen mit ihrem Verlobten und dessen Bruder enthauptet worden, weil sie sich geweigert hatten, den Göttern zu opfern. In unserer Zeit, in der Menschen auch wegen Ihres Glaubens umgebracht werden, spüre ich die Nähe zu diesen frühchristlichen Märtyrern. Heute sind es nicht mehr römische Cäsaren, die wüten, sondern fanatische Gotteskrieger, wie sie sich nennen. Sie meinen, Gott einen Dienst zu tun. Furchtbar! Ich denke an die schrecklichen Attentate in Paris. Religiöser Fanatismus ist immer schlimm, egal in  welchem Namen Gottes!

Wie schön dagegen, wenn Menschen die Patronin der Kirchenmusik praktisch erfahren, wenn sie nämlich miteinander singen. Jeder bringt sich ein,  keiner muss Solist sein. Es herrscht kein Egoismus, wo einer aus dem Chor herausfällt, sondern ein Miteinander. Das ergibt dann einen schönen Klang.

Das habe ich schon als Kind erfahren. Als ich Klavier spielen lernte, hat mich meine Klavierlehrerin nicht nur mit Sonaten von Mozart und Beethoven vertraut gemacht, sondern auch mit Fugen von Johann Sebastian Bach. Da hab ich etwas gelernt, was für mich im Leben wichtig geworden ist:  In der Fuge ist jede Stimme gleichberechtigt. Es gibt nicht eine Hauptstimme und alle anderen sind bloß Nebenstimmen. Nein, jede Stimme ist bedeutend! Dennoch klingt es erst dann gut, wenn nicht nur eine Stimme erklingt, sondern alle drei oder vier. Keine Diktatur eines Einzelnen! Alle sind gleichberechtigt und wichtig.

Das ist für mich auch ein Bild für die Demokratie, in der wir leben. Sie war dem wichtig, an den ich heute neben Cäcilia auch denke:  John F. Kennedy, dem amerikanischen Präsidenten.

 Teil 2 

Heute ist nicht nur der Gedenktag der heiligen Cäcilia, der Patronin der Kirchenmusik, sondern auch der Tag der Ermordung von John F. Kennedy 1963. Ich kann mich an jenen Abend noch gut erinnern. Ich hatte mit dem Waiblinger Kirchenchor Probe, und wir wollten anschließend noch Cäcilia, unsere Patronin, feiern. Da brachte jemand mitten in die Probe hinein die Nachricht,  Kennedy sei erschossen worden. Wir waren wie gelähmt. Dieser sympathische Präsident hatte so viel Hoffnung in uns geweckt. Gerade war die Kubakrise mit Chruschtschow ausgestanden, die damals die Gefahr eines dritten Weltkrieges heraufbeschworen hatte.

Ein Wort von ihm, das mich damals sehr geprägt hat, ist:  Zivilcourage! Mut zeigen und eintreten für das, was mir wichtig ist, auch wenn die andern nicht applaudieren. Mich beeindruckt, dass Kennedys Bruder Robert erzählt: „Obwohl er, John, viel krank war und schmerzliche Operationen durchstehen musste, hörte ich ihn nie klagen. Stattdessen hat er für das Wohl seiner Mitmenschen gekämpft und sie eingeladen, Zivilcourage zu zeigen.“ Ja, Kennedy war überzeugt davon, wie wichtig jeder Einzelne ist, damit eine Demokratie gelingt. Ich hab damals als junger Mensch gespürt, dass es sich lohnt, mutig zu sein. Denn davon war Kennedy überzeugt: es braucht Mut, seinem Gewissen treu zu bleiben.

Ich möchte Kennedy nicht verklären. Er hat auch seine Fehler gehabt wie wir alle. Aber er hat deutlich gemacht, dass wahre Demokratie nicht bloß um Wählerstimmen buhlt, sondern sich mit den andern einsetzt für das Wohl der Menschen. Der wahre Demokrat weicht dabei nicht dem Druck der öffentlichen Meinung oder verrät sein Gewissen. Er ist standhaft und widersteht den Verlockungen falscher Freunde.

Am Tag seiner Ermordung hat Kennedy frühmorgens mit einem Kloster telefoniert und gefragt, um welche Uhrzeit die Schwestern Messe feiern. Er wolle daran teilnehmen, denn er habe einen schweren Tag vor sich. So hat er sich Kraft geholt aus der Feier des Gottesdienstes in der Gemeinschaft. Sicher hat er dabei gespürt, dass diese Gemeinschaft ihn trägt.

Vor kurzem hab ich in Bietigheim eine Religionslehrerin im Unterricht vertreten. Immer wenn ich aus der Realschule herausgekommen bin, sah ich an der gegenüberliegenden Hauswand einen Spruch von Kennedy angeschrieben: „Wann, wenn nicht jetzt. Wo, wenn nicht hier. Wer, wenn nicht wir.“ So zeigt sich Zivilcourage – und die wünsche ich uns allen.

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SWR4 Sonntagsgedanken

Heute beginnt die Gebetswoche für die Einheit der Christen. Für viele Menschen braucht es dies nicht. Sie sagen: „Wir haben doch eh alle denselben Herrgott!“  In der Tat, den haben wir. Gott sei Dank! Dennoch gibt es zahllose christliche Konfessionen. Ich frage mich: Ist das ein Fehler?

Wer an Ostern die Grabeskirche in Jerusalem besucht, wundert sich, wie pingelig genau die verschiedenen Konfessionen ihr Recht auf diese Kirche beanspruchen.  Manchmal streiten sie sogar, wem welcher Teil gehört.

In unserem Land gibt es heute selten solche Streitigkeiten.  In meiner Jugend war das noch anders. Da hatten wir Katholiken manchmal einen schweren Stand im evangelischen Württemberg, und den Protestanten ging es im katholischen Süden unseres „Ländle“ nicht anders. Manche Fehden wurden zwischen Dörflern verschiedener Konfessionen ausgetragen, vor allem wenn ein  junger Mann aus dem katholischen Dorf im evangelischen Nachbarort zur Freundin ging. Zum Glück ist das alles längst Geschichte.

Das Zweite Vatikanische Konzil, das von 1962 bis 65 in Rom stattfand, hat die Türen der katholischen Kirche weit geöffnet. Seither ist die ökumenische Bewegung immer stärker geworden. Leider gibt es  noch christliche Gruppen auf allen Seiten, die nur ihr eigenes Süppchen kochen möchten und sich Andersdenken gegenüber verschließen oder sie gar bekämpfen. Aber sie sind glücklicherweise in der Minderheit.

Dasselbe Phänomen finden wir in anderen Religionen. Auch im Judentum wie im Islam gibt es Gruppen, die sich mit Andersdenkenden verstehen wollen,  und es gibt solche, die nur sich sehen und andere verteufeln.

Wenn einer seiner eigenen Sache gegenüber nicht sicher ist, gerät er leicht in Angst um das Seine und wird dann intolerant gegen Andersdenkende. Vor lauter Angst macht er zu und empfindet andere nur als Bedrohung. Statt sich auf den Andern einzulassen, bekämpft er ihn.

Das erleben wir gerade im Islam, aber das hat es im Christentum genauso gegeben. Es ist immer fatal, wenn jemand Gott auf seine Seite zieht und gegen Andersdenkende losgeht.

Ich habe ein gutes Wort aus Asien gehört: „Es gibt drei Wahrheiten: meine, deine und die Wahrheit.“ Wo dieses Wort greift, braucht keiner sich ängstlich abzugrenzen. Dort weiß ich, was mir geschenkt ist, und ich schätze es. Ich achte aber auch, was dem Andern geschenkt ist, und ich möchte mich mit ihm auf den Weg machen, um besser zu begreifen, was Gott uns heute sagen möchte.

Musik

Teil 2

Die Gebetswoche für die Einheit der Christen, die heute beginnt, macht uns bewusst, wie schön es ist, dass es verschiedene Konfessionen gibt. Darüber spreche ich heute in den Sonntagsgedanken. Manche halten es für falsch, ja ärgerlich, dass es verschiedene Konfessionen gibt. Ich sehe darin einen Reichtum, denn keine Konfession kann Gott fassen oder nur für sich beanspruchen. Gott ist nicht einförmig, er zeigt sich in vielen Gestalten. Jede Konfession sieht etwas anderes für wichtig an. So können wir uns gegenseitig bereichern.

Deshalb gibt es in der Bibel auch vier Evangelien und nicht nur eines, obwohl es um die eine Botschaft geht. Aber das, was Gott uns über unser Leben und unsere Welt sagen will, ist umfassender als wir je zu begreifen vermögen.

Ich bin dankbar für meinen christlichen Glauben, so wie er mir in der römisch-katholischen Form vermittelt worden ist. Ich bin aber auch dankbar für das, was mir die evangelische Theologie geschenkt hat. So habe ich früher nicht so viel Wert auf die Predigt gelegt. Heute ist es mir wichtig, meine Hörerinnen und Hörer so anzusprechen, dass sie Kraft schöpfen für ihr Leben. Ich möchte, dass sie spüren: Gottes Ja zu uns Menschen ist etwas, an das ich mich halten kann, wenn andere ständig etwas von mir fordern oder ich mich überfordert fühle. Ich habe gelernt, dass ich sein darf, so wie ich bin, auch wenn ich manches an mir nicht so gut finde und gern anders hätte.

Aber Gott nimmt mich so an wie ich bin. Er sagt nicht zu mir: „Zuerst musst du dich ändern, dann kannst du mit mir reden.“ Nein! Er steht bedingungslos zu mir. Das habe ich von der evangelischen Theologie gelernt.

Ich kann Gott auch dafür danken, was er mir in der orthodoxen Kirche geschenkt hat, etwa durch meine Freundschaft mit christlichen Arabern in Galiläa. Sie haben eine innigere Beziehung zu Bildern von Heiligen, die sie verehren.  Der Weihrauch bedeutet ihnen viel. Ihre Gesänge rühren mich an. Auch Freikirchen wie die Baptisten oder die Methodisten sind mir liebe Geschwister geworden.

Jesus bittet uns um Einheit, aber nicht um Uniformität. Im Englischen klingt das schön: unity, but not uniformity, also Einheit, aber nicht Einförmigkeit. Sie lähmt das Wirken des Geistes Gottes und endet in der Langeweile. Einheit in der Verschiedenheit dagegen ist eine spannende Sache, weil sie mir immer wieder neue Horizonte eröffnet.

Ich möchte in dieser Woche darum beten, dass wir die Vielfalt der verschiedenen Bekenntnisse als etwas sehen, was uns nicht bedroht, sondern bereichert. Bedrohlich wird diese Vielfalt nur, wenn ich meine Form zu glauben für die einzig richtige halte. Wenn ich aber andere Formen zu schätzen beginne, können wir voneinander lernen, und unser Leben wird reicher, vielfältiger und farbiger.

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SWR4 Sonntagsgedanken

Heute hätte meine Mutter Geburtstag, wenn sie nicht schon vor 42 Jahren gestorben wäre. Dennoch begehe ich ihren Geburtstag, denn ohne sie wäre ich nicht da. So simpel das klingt! Ich bin ihr immer noch dankbar. Natürlich habe ich mich als Jugendlicher mit ihr auch gestritten. Sie hat manches Mal die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, wenn ich als Theologiestudent mit den neuesten Gedanken von Hans Küng und anderen Lehrern nach Hause kam.

Mit den Jahren habe ich gespürt, wie prägend ihr Leben, auch das religiöse, für mich ist. Ich habe Respekt bekommen vor ihrem schlichten Glauben. Sie hatte auch eine erstaunliche Fähigkeit, die ich heute noch bewundere. Wenn etwas anders lief als gedacht, sagte sie: „Bua, woisch nia, wozu dehs guat isch!“ Wie oft schon habe ich in meinem Leben an diesen Satz gedacht: ‚Du weißt nie, wozu es gut ist‘. Das hat sie nicht bloß so daher gesagt. Sie hat es erlitten. Meine Mutter hatte, als sie die damalige Volksschule verließ, ein Superzeugnis. Gern wäre sie Lehrerin geworden, aber das Geld in ihrer Familie reichte nicht zum Studium.

‚Du weißt nie, wozu es gut ist‘.  Mir gibt dieser Satz Kraft, wenn ich mich in eine ungewollte Situation hinein finden und etwas Neues in ihr entdecken soll. Das geht nicht ohne Abschiedsschmerz. Aber es bereitet den Boden für die Freude am Leben.

Der Sonntag heute trägt in den Kirchen die Überschrift „Gaudete“. Das lateinische Wort meint „freuet euch“. Der Apostel Paulus hat es in einem Brief an die Gemeinde in Philippi geschrieben: „Freuet euch, denn der Herr ist nahe!“ Paulus lädt ein, dass wir uns für die Ankunft des Herrn vorbereiten. Advent bedeutet ja Ankunft.

Schon als Kind habe ich diese Zeit des Adventes sehr geliebt und eindrücklich erlebt. Das verdanke ich vor allem meiner Mutter. Ich denke an den Adventskranz mit seinen Kerzen, an die warme Stube am Abend – wir hatten damals noch keine Zentralheizung. Wir lasen dann eine Adventsgeschichte und sangen ein Adventslied. Wir hörten abends die Sendung „De adventu Domini“ im damaligen Süddeutschen Rundfunk und besuchten frühmorgens den Gottesdienst in der dunklen Kirche, die nur mit Kerzen erleuchtet war. Meine Mutter hat diese Zeit intensiv in unserer Familie gestaltet. Auch der Verzicht auf Süßigkeiten gehörte dazu. Nur der Nikolaustag machte eine Ausnahme! Nicht aber der Geburtstag meiner Mutter am heutigen Tag. Da wollte sie nur, dass ich ihr auf dem Klavier etwas vorspiele. 

Advent – Warten

Der Advent ist eine Zeit des Wartens! Das hat mir meine Mutter beigebracht. Deshalb hat sie auch erst 4 Tage vor Weihnachten Gutsle gebacken und sie anschließend versteckt, damit wir Kinder sie nicht finden. Erst am Heiligen Abend kamen sie nach dem Beten, Singen und der Weihnachtsgeschichte auf den Tisch, sehnsüchtig erwartet von uns Kindern. Heute bekomme ich sie überall bereits im Advent angeboten. Aber ich denke an meine Mutter und sage tapfer zu den verlockenden Zimtsternen und köstlichen Haselnussbrötchen: „Nein, danke! Erst an Weihnachten!“ Vielleicht ein bisschen kindlich, aber für mich ist der Advent nach wie vor eine Zeit des Wartens.

Heute weiß ich, wie wichtig Wartezeiten in meinem Leben sind. Ich nehme in solchen Zeiten mehr als sonst Anteil am Leben der Menschen, die auf etwas warten: Einer wartet im Krankenhaus, dass er  geheilt wird von seinem Leiden. Eine Bekannte von mir hat erfahren, dass ihr Tumor doch nicht gutartig ist, wie sie gehofft hat. Jetzt wartet sie, wie es weiter geht. Eine syrische Familie ist nach abenteuerlicher Flucht zu Land und zu Wasser bei uns gelandet. Wie wird sie sich hier in der Fremde fühlen? Ein Dorf auf der Schwäbischen Alb hat mit vielen Helferinnen und Helfern eine richtige Willkommensfeier für die Flüchtlinge inszeniert. Eine wunderbare adventlich-weihnachtliche Geste!

Der Advent will mich wach machen und die Sinne schärfen, damit ich wahrnehme, wo ein anderer Mensch auf mich wartet, meine Hilfe braucht oder einfach, dass ich für ihn da bin.  Das ist auch die Botschaft jenes Kindes, auf dessen Geburtstag der Advent vorbereitet. In seiner Geburt, in der Geburt Jesu wird etwas sichtbar, was jedem Menschen gut tut: dass Gott ihn bedingungslos liebt.

Jesus will genau so wenig am Geburtstag groß gefeiert werden wie meine Mutter es wollte. Aber wenn wir an Weihnachten seinen Geburtstag feiern, kann in uns etwas lebendig werden von der Art, wie er mit seinen Mitmenschen umging. Sie fühlten sich von ihm verstanden, auch wenn in ihrem Leben etwas schief gelaufen war. Er ermutigte sie neu anzufangen. Sein liebevoller Blick gab ihnen Kraft.

Darauf warten auch heute Menschen, vielleicht schon an der nächsten Ecke, wo ich ihnen nachher begegne. Vielleicht warten darauf auch jene Mädchen, die ihre Mitschülerin geprügelt, zu Boden geworfen und getreten haben, dabei die ganze Szene noch filmten. Wer hilft ihnen, sensibler zu werden für das Leid anderer, damit so etwas nicht nochmals passiert? Wer kann unsere Jugendlichen empfindsamer machen, dass sie nicht der Faszination von „Gewalt“ verfallen? Es gibt so viele Menschen, die darauf warten, eine helfende Hand zu spüren, ein offenes Ohr zu finden. Sie warten vielleicht schon lange. Sie warten auch auf uns.

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