SWR4 Sonntagsgedanken

SWR4 Sonntagsgedanken

Heute ist Palmsonntag. Erst vor kurzem bin ich mit einer Gruppe den Weg in Jerusalem gegangen, den Jesus damals am Palmsonntag genommen hat. Oben vom Ölberg aus gingen wir hinunter ins Kidrontal, vorbei an der Kapelle „Dominus flevit“, wo Jesus über das verstockte Jerusalem weinte, hinab in den Garten Gethsemane. Dort wurde Jesus gefangen genommen. Heute ziehen viele Menschen an diesem Ort vorbei. Sicher spüren sie etwas von der beklemmenden Situation, als die Jüngerinnen und Jünger Jesu zusehen mussten, wie ihr geliebter Meister verhaftet und abgeführt wurde.

Einer der Jünger, Petrus, flieht nicht wie die andern. Er hat ja Jesus geschworen, ihn nie zu verlassen. Aber kurze Zeit später bringt ihn die Frage einer Magd zu Fall. Jetzt leugnet er, Jesus zu kennen. Aber danach erkennt er seine Schuld und weint über sein Versagen. Eigentlich hatte er sich entschieden, Jesus treu zu bleiben. Aber die Angst um sich selbst war größer.

Jesus ruft zur Entscheidung, den Menschen wichtiger zu nehmen als die religiösen Vorschriften. Darum gerät er in Konflikt mit der jüdischen Autorität, dem Hohen Rat. Dieser liefert ihn anschließend dem kaiserlichen Statthalter Pontius Pilatus aus. Ein Schauprozess! Mich erinnert das an Schauprozesse im Naziregime, wo Menschen wegen ihrer Überzeugung leiden mussten und ungerecht verurteilt wurden. Ich erschrecke, wenn ich sehe, wie leicht Menschen sich manipulieren lassen. Am Palmsonntag jubeln sie Jesus zu: „Hosannah!“ Wenige Tage später lassen sie sich hinreißen, „Kreuzige ihn!“ zu schreien.

Genauso überschreie ich Jesu Ruf, mich für den Menschen zu entscheiden, wenn ich heute gegen Flüchtlinge demonstriere. Zu Beginn des Flüchtlingsstromes haben wir eine Willkommenskultur gehabt, sozusagen ein „Hosannah, ihr habt es geschafft!“ Ich erinnere mich an Bilder von einem Bahnhof in Bayern. Auf einmal hören wir ein „Weg mit Euch, verschwindet hier oder wir machen Euch den Garaus!“ Jegliches Verständnis ist verschwunden, jedes Mitfühlen mit dem, was diese Menschen durchgemacht haben. Wie traumatisiert sind viele Flüchtlingskinder durch die oft abenteuerliche Flucht!

An Jesus muss man sich entscheiden. Papst Franziskus, unsere Kanzlerin und die deutschen Bischöfe sprechen da klar. Man kann nicht Christ sein wollen und sein Herz gegenüber Flüchtlingen verschließen. Da verleugne ich  Jesus heute wie Petrus damals.

Teil 2

Mit dem heutigen Palmsonntag beginnt die wichtigste Woche der Christenheit, die Karwoche. Sie fordert heraus sich zu entscheiden. Darüber spreche ich heute in den SWR 4 Sonntagsgedanken. Einer, der dies geradezu tragisch erfährt, ist Judas. Er ist der Schatzmeister der Gruppe, hat also eine Vertrauensstellung inne. Judas hofft, dass Jesus zum Aufstand gegen die Römerherrschaft blasen wird. Sein Kuss im Garten Gethsemane ist nicht der Kuss eines Verräters, es ist der innige Freundschaftskuss für den geliebten Meister. Judas will Jesus zwingen, sich für den Weg der Gewalt zu entscheiden, und überhört zugleich, dass er sich entscheiden müsste für die gewaltfreie Liebe.

Da beginnt seine Tragik. Judas hofft, dass Jesus jetzt beim Prozess alle an die Wand fegen wird, die jüdischen wie die römischen Autoritäten. Doch da hat er sich gleich zweimal geirrt. Zum einen ist Jesus nicht bereit, den politischen Rebell zu geben. Zum andern ist der Prozess längst entschieden, bevor er begonnen hat. Dafür sorgt der Hass des religiösen Establishments. Das schnürt dem Judas regelrecht den Hals zu. Er hat doch nicht den Tod Jesu gewollt, sondern seinen Triumph. Judas erkennt seinen Irrtum, und er bereut, aber da ist keiner, der seine Reue versteht. Das nimmt ihm den Lebensatem, und er erhängt sich.

Judas hat sich der Entscheidung gestellt, die er bei Jesus spürte. Aber er war in sich so gefangen, dass er diese Entscheidung falsch gedeutet hat. Das geht auch mir manchmal so, wenn ich meine, Gott müsse doch jetzt endlich eingreifen und dem unsäglichen Leid ein Ende bereiten. Dann merke ich, ich schiebe Gott zu, was ich tun sollte, nämlich geduldig und liebevoll kleine Schritte zu gehen, die anderen Menschen das Leben erleichtern.

Aber es ist für mich sehr tröstlich, dass Gott trotz meiner falschen Entscheidungen mich immer wieder umarmt. In der wunderschönen Magdalenenkirche im burgundischen Vézelay gibt es an der ersten Säule hoch oben ein Kapitell. Auf der einen Seite kann man erkennen, wie Judas sich erhängt. Daneben sieht man Jesus. Er hat sich den toten Judas um die Schultern gelegt wie der gute Hirte das verlorene Schaf. Für mich ein sehr tröstliches Bild. Auch der, der an sich selbst verzweifelt, ist von Jesu vergebender Liebe nicht ausgeschlossen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=24036
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