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Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

02AUG2022
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„Frau Werner bitte“. Ich will mich gar nicht bitten lassen, aber das Knie schmerzt. „Sie müssen in die Röhre“, wie mir der Arzt zuvor locker mitteilt, „da ist was kaputt im Knie“. Püh, schönes Urlaubsmitbringsel. Eben noch im Meer - eine Welle falsch erwischt - und nun im MRT.

„Bitte hier in die Kabine“, sagt die Assistentin in Jeansweiß, „Schuhe aus, wir holen sie gleich“. Ratsch – schließt sie den Vorhang. Aus meinen Schuhen läuft noch Sand vom Strand, fast höre ich noch Meeresrauschen. Stattdessen das Dröhnen des MRTGeräts - und Geplapper. „Ich fahr ja morgen in Urlaub“, ruft eine Stimme, „und muss heut noch zum Friseur“. „Aha, fährst wohl nicht allein, erzähl!“ „Ich weiß es schon, sie hat ein Date“, flötet eine andere. „Doch nicht wieder so ein schräger Typ.“ „Nein, der ist mal echt normal, obwohl, ich sag euch…“ Und munter geht das Gespräch weiter über gute Männer, schlechte Männer, Exmänner.

Die Mädels lachen, tauschen Vertrauliches aus in diesem dunklen Raum, sind vertraut miteinander. Sie reden, als wäre ich nicht da, dabei sitze ich nur hinter einem Stück Stoff. Sie scheint es nicht zu stören, aber mir ist es peinlich. „Du weißt, Du kannst Dich auf uns verlassen, wenn´s Stress gibt ...“ Ich komme mir vor wie ein ungebetener Beichtvater hinterm Vorhang. Gerade will ich laut hüsteln, um auf mich aufmerksam zu machen. Da endlich – Ratsch - die Dame in weiß steht vor mir.

Sie wird leicht rot „oh, wir haben fast vergessen, dass Sie hier sind“. „Viel Spaß im Urlaub und ansonsten hab ich nichts gehört“, zwinkere ich. Sie stutzt. „Seelsorgegeheimnis, ich bin Pfarrerin. Alles vertraulich, selbst hinterm Vorhang.“ Sie zieht kurz eine Braue hoch, dann lacht sie ihre Kollegin an. „Da sind wir aber erleichtert“. Das ist es wohl, erleichternd, wenn man sich einander anvertrauen kann, denke ich. Und humple - fast beschwingt - zur Untersuchung in die Röhre.

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Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

01AUG2022
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Da sitzt sie. Eine Taube. Auf dem Mosaiksteinboden vor der kleinen Kirche. Sie sitzt und weicht nicht aus, als ich vorbeilaufe – anders als all die anderen, die kurz aufflattern unter den Zypressen. Typisch Portugal, dieser Platz. Die Sonne flirrt, ältere Leute auf den Bänken werfen Brotkrumen. Ein einziges Geflatter und Gegurre - schillernde Halskrausen und blau-lila Federn.

Wie schön sie sind, eigentlich, denke ich. Und wie schlau - Brieftauben, die über hunderte Kilometer nach Hause finden. Vögel, die uns in die Städte gefolgt sind, wo sie aber nicht bleiben sollen, nicht bei den Häusern, nicht bei den Kirchen. Auch das kalkweiße Kirchlein schützt sich mit Stacheldraht vor dem Kot der Tauben. Gleich darunter werden sie von den Portugiesen mit Brot gefüttert. Unvernünftig, klar. Aber mitfühlend. Selbst Wasser hat jemand bereitgestellt, einfach einen großen Getränke-Kanister aufgeschnitten, als Taubentränke und -Bad zugleich.

Es rührt mich. Ich sehe zurück zu der Taube am Rand des Platzes. Sie sitzt noch reglos, ihr Flügel scheint verletzt. Eine schmale Katze springt auf sie zu. Die Taube flieht. Ein paar schwache Hüpfer. Und sie landet auf der Straße. Ein Auto nimmt die Kurve. Kurz die Reifen über ihr. Dann … Der Schwanz zuckt noch einmal. Glitzernde Feder, Blut auf dem Asphalt.

Ich muss wegsehen. Nur eine Taube, eine von vielen, allzu vielen - ja. Aber auch ein Geschöpf, dazu noch ein Symbol des Friedens. „Die Friedenstaube unter die Räder gekommen“. Als wäre es ein Kommentar zur Zeit ... Ich sehe hoch zur Kirche. Dort oben im Mosaik, etwas verblasst – tatsächlich eine Taube. Den Ölzweig im Schnabel. Zeichen des Friedens, Zeichen, dass das Leben weitergeht. Nur wie und wann? Ich bleibe stehen, zwischen den Fragen in meinem Kopf. Die Tauben um mich baden, als wäre nichts geschehen. Ein Junge nimmt zärtlich die tote Taube von der Straße. Ich sage leise Danke. Und gehe weiter.

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Anstöße sonn- und feiertags

31JUL2022
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“Komm, wir packen schnell die Badesachen, bevor es zu heiß wird.“ Ein Satz meines Vaters - Pfarrer, aber auch leidenschaftlicher Schwimmer vor dem Herrn. Meist sehr früh am Sonntag, wenn er mal "Kirchefrei" gehabt hat. Meine Mutter war schleunigst gepackt und meine beiden Brüder schwupp in den Badehosen.

Dann ins Auto und ab ins Freibad Eisenberg. Passend zum Städtenamen ist das Wasser dort wirklich eisig kühl. Aber wunderbar, bei 30 Grad im Juli. Die sattgrüne Liegewiese in der Sonne, die langsam aufsteigt, Vogelgezwitscher, das unberührte Glitzerwasser im Becken. Morning has broken - Morgenlicht leuchtet, rein wie am Anfang. Nirgends scheint mir das Kirchenlied besser zu passen als hier. Frühlied der Amsel, Schöpferlob klingt.

„Guten Morgen“, blinzelt der Bademeister, sehr braun und sein Lächeln zahnweiß. Wie aus einer Vorabendserie entsprungen. Gut, dass ich schnell ins Becken springen kann, bevor er sieht, wie rot ich werde. Und weg bin ich, eingetaucht ins Wasser, Bahn um Bahn werde ich wacher und es singt in mir weiter: Grünende Frische, vollkommnes Blau.

Bis heute ist für mich Freibad gleich Freiheit. Sich frei fühlen und so frisch wie am ersten Schöpfungstag. So wie ich geschaffen bin - und all die anderen um mich. Dicke Opas, magere Mädels, kreischende Kinder, Kampfschwimmerinnen, die ihre Bahn verteidigen. Man spricht deutsch, türkisch oder sonstwie, streitet und kichert und wäre vielleicht lieber am Meer. Stattdessen aber Freibad. Dösen im Schatten. Frösteln auf der Haut. Heißhungrig labbrige Pommes essen. Im Klee in Bienen treten. Drum schnell nochmal abtauchen. Das vollkommene Blau glitzern sehen und innerlich singen: Morning has broken. Schöpferlob klingt. Drum glaub ich ja, Gott geht sonntags auch ins Freibad. Wenn er mal „Kirchefrei“ hat.

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Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

16APR2022
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Mal wieder hab ich Gefühlskuddelmuddel. Der Kirschbaum steht frischgrün im Garten. Mein Kater blinzelt gen Himmel. Das Mädchen aus Mariupol hat rotgeweinte Augen. Frühlingsboten und Kriegsnachrichten. Wie oft ist mir zwischen Heulen und Lachen in diesen fürchterlichen Wochen. Besonders heute, an diesem Dazwischen-Tag. Gestern Karfreitag, klagen und weinen: Jesus ist gestorben. Morgen Ostern, lachen und freuen, weil er aufersteht. Und der Engel am Grab sagt: „Fürchtet euch nicht“. Das Leben geht weiter. Auch heute – zwischen Todesbotschaft und Lebensfreude. Und ich frage mich: Wie soll denn Ostern werden?

In Russland, wo man in der Moskauer Metro heut früh zum Einkaufen fährt, in der Zeitung kein Wort wie „Krieg“, wo mittags Mütter und Großmütter dennoch auf die Straße gehen, ihre Söhne und Enkel schützen wollen, trotz aller Strafen.

Und in der Ukraine, in Mariupol. Wo das Mädchen vor einem Trümmerhaufen nach ihrem Vater schreit, herzzerreißend, wo die Kleine hochgenommen wird, von einer Frau, die sie umarmt. Ganz fest, bis das Schluchzen aufhört. „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen“, ruft Jesus. Und stirbt - jeden Tag mit Menschen im Krieg oder auf der Flucht.

Himmelschreiend. Fürchterlich, was Kinder, Frauen, Männer in diesen Tagen erleiden. Und zugleich soll Ostern werden. Ist der Engel nahe, der sagt: „Fürchtet euch nicht“. Besser, viele Engel sind nahe, sind unterwegs. Auch in der Pfalz. Sie bringen Hilfspakete nach Polen, retten Waisenkinder, machen Platz in ihren Wohnungen, räumen gar ihre eigenen Betten.

Hoffnungsvoll ist das, wie weit Menschen gehen, einander zu helfen, wie sie ihre Herzen öffnen, himmelweit. Liebe und Hass, Leben und Sterben. Alles zusammen. Alles nebeneinander. Gefühlskuddelmuddel im Frühling.

Die Kirchenglocken läuten bald Ostern ein und rufen in alle Welt: Das Leben blüht weiter, ist stärker als der Tod. Davon erzählen all die Engel, die tun, was sie können. Damit die Furcht kleiner wird und Menschen weiter hoffen dürfen.

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Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

14APR2022
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"Mein Gott, was tun wir nur." Der junge Mann schlägt das Kreuz über der Brust, mit drei Fingern, überm Gewehr. Eine Szene nahe der Elias-Kirche in Kiew, der ältesten der Stadt. Eine Kirche, die nach dem Propheten Elias benannt ist. Elias bedeutet: „Mein Gott ist der Herr.“

Unser Sohn Elias fragt auch ständig „Was können wir tun?“. Mit seinen 12 Jahren kann er kaum fassen, was geschieht. Wir versuchen, das Unfassbare zu erklären. Krieg. Da wo er sonst Videos sieht, auf Youtube. Wo er sonst Gebäude baut, Minecraft spielt – nun kaputte Häuser, Sirenen, flüchtende Kinder. Kein Spiel. Und Elias wird ernst: „Ich hab Taschengeld gespendet. Und ich kann helfen, wenn Kinder kommen, weißt du, vielleicht auch in unsere Klasse.“ Ich nicke gerührt. Er sieht mich an, zärtlich. Und plötzlich etwas älter, unser kleiner Elias.

"Mein Gott, was tun wir nur." So viele tun etwas. Kinder und Erwachsene. Menschen, die in aller Welt beten, demonstrieren und zum Frieden mahnen. Die im Kriegsgebiet unter Lebensgefahr berichten, die Gerichte anrufen, Soldaten beim Fliehen helfen. Meine Freundin Elke, fast 80 Jahre alt, hat zwei Geflüchtete aufgenommen. Alena und ihren Sohn Illja. Er kann etwas Deutsch, der 14jährige. Und sagt meist: Dankeschön.

"Wir unterhalten uns mit Händen, die Beiden sind dankbar, dass Sie sicher sind und zu essen haben“, sagt Elke, „sie verlieren die Hoffnung nicht, ich lerne von ihnen, jeden Tag“. Heute am Gründonnerstag werden die Drei – wie viele Menschen in Kirchen oder Häusern – abends an einem Tisch sitzen. Abendmahl feiern. Wie Jesus an seinem letzten Abend mit den Jüngern. Elke, Alena und Illja werden Brot und Wein teilen. Sie werden kaum ein Wort reden können, aber einander verstehen. Sie werden beten für die Familie - Ilja besonders für seinen Papa in Lwiw - und sich bekreuzigen, mit den drei Fingern. Ilja ist ukrainisch für Elia. „Mein Gott ist der Herr“. Der bleibe bei ihm. Und bei uns allen.

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Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

13APR2022
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Vor dem Wurstsalat mit Pommes, neben dem Weizenbier: gefaltete Hände. Verstohlen sehe ich hin, wie einige Augenpaare an diesem sonnigen Mittag am Rhein. Zwei Frauen um die 40, in Jeans und Kapuzenpulli. Ganz normal eigentlich. Aber sie beten. Am Biergartentisch, unter Eichen. Mitten im Geplauder und vor den japanischen Touristen. „Die sin von de fromme Truppe“, flüstert der Kellner hinter mir. Oder meint, zu flüstern.

Ja, Beten scheint peinlich. „Die Muslime werfen sich ja überall einfach auf den Teppich, aber wir? Müssen das doch nicht!“, hat eine Schülerin in Religion mal zu mir gesagt. „Müssen nicht“, hab ich geantwortet, „aber du darfst“. Auch wenn es ja offenbar merkwürdig ist, außerhalb der Kirche zu beten, so öffentlich, außer vielleicht auf dem Fußballplatz Stoßgebete zu murmeln. Einige meiner Pfarrerskollegen beten dagegen oft sehr laut und sehr lang, auch im Lokal. Püh. Da bete ich mit, wenn mir danach ist. Oder ich bin einfach still. Das ist schön. Still sein, kurz, und mir meinen Teil denken. Kurz mal inne halten. Und ich frage mich, ist es wirklich peinlich, dankbar zu sein? Gerade hier an diesem warmen, friedlichen Frühlingstag am Rhein, vor dem Wurstsalat?

„Seit Neustem findet es unser Großer voll Panne, wenn wir beten vorm Essen“, sagt nun die Eine im Kapuzenpulli, offenbar Mama, und greift nach dem Besteck, „das würd aussehen, als wärn wir scheinheilig, sagt er“. Darauf die Freundin: „Klar, in seinem Alter sind ja alle Eltern peinlich - aber scheinheilig? Nun ja, Heilige sind wir jedenfalls auch nicht, oder?“ Eben noch still am Beten, prusten die Beiden nun los. Mitten in ihr Weizenbier. Trinken, tauchen Pommes dick in Ketchup, lachen laut und herzerfrischend. So gar nicht „fromme Truppe“ - was immer das heißen mag. Klischees sind manchmal halt doch nur Vorurteile.

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Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

12APR2022
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Eigentlich sollte ich jetzt nicht reden. Heute ist Lesetag. Zumindest in den USA: Der D.E.A.R.Day, die Buchstaben stehen für „Drop Everything and Read Day“, übersetzt etwa der „lass alles liegen und lies was“ - Tag. Das gefällt mir, und mehr noch meinem Sohn Till. Kaum konnte er lesen, vor über 20 Jahren, hat er selten was anderes getan. Von Räuber Hotzenplotz zu Herr der Ringe mit allem so dazwischen. Kinderbibel, Sachbücher, Geozeitschriften, Lexika – Fahrpläne. Die Locken im Gesicht, die Nase zwischen Buchseiten. Im Bett, im Zug, auf dem Schulweg, im Laufen. „Tiiill, wo bist du, machst du Hausaufgaben, gehst du dann zum Sport?“ Die Antwort: „Hmh.“ Und weg war der Sohnemann. Meist nicht da, wo er sein sollte.

In ein Buch abtauchen, in Worte und Welten, ist wunderbar und erfrischt den Geist. „Lass alles liegen und lies was.“ Unserem Kleinen, wie vielen andern auch, ist das nie schwergefallen. Kein Wunder, dass die Idee auch von Kindern stammt und von einer Kinderbuchautorin: Beverly Cleary. Zu ihrem 90. Geburtstag, am 12. April 2006, gab es den ersten D.E.A.R.Day.

Zumindest in Amerika gilt heute: Mal kurz alles fallenlassen, sich hinsetzen und lesen. Science-Fiction, Krimi oder Liebesroman. Oder die Bibel, das Buch der Bücher, das von fast jedem Genre was hat. „Viel Lesen macht nicht gelehrt, aber Gutes oft lesen …“, schreibt Martin Luther. Der Reformator hat täglich Bibel gelesen, bestimmte Stellen immer wieder und manche Bücher x-mal.

 „Ej, da steht der alte Hotzenplotz noch“, ruft Till bei einem Besuch dieser Tage, langt mitten im Gespräch hinter sich ins Regal, blättert und grinst in sich hinein. „Ähm, sprichst du noch mit mir?“ „Hhm.“ Ich seh ihn an, den Großen mit dem zerlesenen Kinderbuch, samt Teeflecken und Eselsohren und denke, so muss das. Bücherliebe halt.

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Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

11APR2022
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„Ich bin endlich durch den Schrank“, sagt meine Freundin, „da musste ja alles raus“. Mit dem Frühling kommt unweigerlich der Frühjahrsputz. Es wird gefeudelt und geräumt. Ich hab´s wenigstens in der Küchenschublade probiert. Tja, so eine Schublade hat wohl jede und jeder zuhause. Die mit dem Krimskrams. Die auch bei Umzügen nie ausgeräumt wird. Mit allem, wo man nicht gleich weiß, wohin damit und ob es nicht noch mal wichtig sein könnte. Und tatsächlich, ganz hinten, als ich sie richtig rausziehe: Ach, wie süß, das Briefchen der Patentochter, als sie noch klein war. „Hab dich lieb, Tante“ mit goldenem Klecksherzchen, da geht mir wirklich das Herz auf. Ich erinnere mich, wie sie damals aussah und wische mit dem Putzhandschuh über die Augen.

So eine Schublade steckt voller Leben. Gut, ab und an drin herum zu räumen und noch besser, wenn etwas Wertvolles drinsteckt. Oder die Lade gar selbst noch wertvoll ist. Wie die Bundeslade, von der in der Bibel erzählt wird. Eine "Lade aus Akazienholz, innen und außen pures Gold… Goldringe, darin Tragestangen.“ (Ex 25, 10ff) Das klingt nach Pling-Pling, Luxushäusern von Promis oder nach Kirchenprunkprotz. Doch Kirche gibt es damals noch nicht, allenfalls die „Vorläufer“ - im wahrsten Sinne des Wortes.

Eine Handvoll Menschen, die durch die Wüste laufen und nach Hause wollen. Raus aus dem Exil, aus Ägypten, mit Moses zur Seite und mit Gott. Denn das war Gottes Versprechen, sein Bund, das Bündnis mit seinem Volk. In Stein gehauen auf zwei Tafeln, den zehn Geboten. Eben die sind in jene Bundeslade gelegt und mitgetragen worden. Den langen Umzug, durch die Wüste. Das war sicher ganz schön schwer. Aber der Inhalt eben auch schwergewichtig. Gottes Wort: wertvoller als alles Gold der Welt. Das Allerheiligste liegt in dieser Lade.

Klar, kann da keine Kramsschublade mithalten. Obwohl. Manches, was einem heilig ist, gibt’s eben schon zu entdecken. Das Goldherzbriefchen vom Patenkind liegt jedenfalls wieder ganz hinten in der Lade. Denn - nein, nicht alles muss raus.

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SWR3 Gedanken

01JAN2022
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Prost Neujahr! Oder „Proscht Naijohr“. So stelle ich es mir heute vor. Ich halte sie hoch, die Neujahrsbrezel. Oben steht Tante Heidrun. Am Balkon im Wohnstift - einziger Besuchsort in Quarantänezeiten. „Proscht Naijohr“, ruft sie hinunter, „e Brezel wie e Schaierdoor“. Und ich zurück: „En Kuche wie e Oofebladd, do wer mer all minanner sadd!“ Ein Pfälzer Segenswunsch. Will sagen: Brezel wie ein Scheunentor. Kuchen wie eine Ofenplatte. Dass alle satt werden.

Sie wird seufzen, denn sie knabbert noch an ihrem neuen Leben. Besonders im Speisesaal, bei Kamillentee und angetrockneten Käsescheiben. Heidrun. Ich sehe sie oben am Balkon. Wie auf dem Foto an der Treppe. Stattlich, blond, rotes Band um den Bubikopf. Ein wenig Rot musste immer sein. Dazu ein breites Lächeln zum schmalen Kostüm. Flugbegleiterin ist sie gewesen, weltgewandt. Ich stehe ein paar Stufen darunter, 10 Jahre, schüchternstolz. In der Hand den Stecken mit der Neujahrsbrezel und bunten Bändern. Lang ist´s her.

„Gesegnetes Neues“, werd ich heute hoch rufen. „Ich bin ja eh aus der Zeit gefallen“, sagt Tante Heidrun dann leise. Denn das ist sie, nachdem sie gestürzt war. Raus gefallen aus ihrer Welt, der Wohnung, den chicen Bauhaus-Sesseln, rein ins beige Abwaschdesign des Pflegeheims. Und doch – und das ist wunderbar - fängt sie jeden Tag neu an. Frischt etwa ihr Englisch auf, mit Nachbarin Margret. „New years pretzel means good luck.“ Ich bringe sie gleich vorbei - auf good luck - die süße Brezel wie ein Scheuertor. Aber klar doch, mit rotem Band.

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SWR3 Gedanken

31DEZ2021
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„Ich weiß nicht, wie ich feiere. Vielleicht geh ich ins Bett.“ Das habe ich oft gehört dieser Tage. Kein Wunder, wer mag schon planen, wen man wann, wie treffen darf oder will. Wenn überhaupt. Silvester: Wie schmeckt das, zwischen Lucaapp, Käsefondue und Omikron. Wie einsam wird sich „Dinner for One“ für manche anfühlen, die allein vorm Fernseher essen. Wie lustig mag die Nacht für alle werden, die auch ohne Knallerei gute Laune versprühen und guter Dinge sind.

„Klar feiern wir, im Kleinen, und irgendwann wieder wie früher“, sagt mein Cousin Matthis, unverbesserlich optimistisch, am Telefon. „Ja, so Gott will und wir leben“, lache ich. Und denke, wie gut, dass es Menschen wie ihn gibt. Oft waren wir Silvester zusammen, mit Familie und Freunden. Bis auf diese Nacht vor sieben Jahren. „Ich weiß nichts, fühle nichts“, sage ich damals, „ich bleib im Bett.“ 31. Dezember 2014. Mein erster Mann, erste und ewige Liebe, war gerade gestorben. Und ich so tot und kalt wie der Schnee draußen.

Das Feuerwerk, draußen überm Wald, sehe ich tränenverschwommen. Doch später, im durchwachten Morgen: eine Sternschnuppe, nur für mich, gleißendgelb. Hell, hoffnungsvoll. „Ich weiß noch nicht, wie ich feiere“, sage ich seither auch oft. Ich habe traurige und -glücklicherweise - wieder frohe Silvester erlebt. „Le Chaim, auf das Leben“, wird mein Cousin um Mitternacht durchs Telefon rufen. Ob Sie still feiern oder laut: Ich wünsche sternenfrohe Momente und setze auf hoffnungsvolle Menschen wie Matthis.

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