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SWR2 / SWR Kultur

 

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SWR Kultur Wort zum Tag

30OKT2024
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„Der Ort, an dem wir recht haben.“

So hat der israelische Schriftsteller Jehuda Amichai eines seiner Gedichte überschrieben.* 
Vor hundert Jahren hat er in Würzburg das Licht der Welt erblickt. Er floh als Zwölfjähriger – 1936 - mit seinen Eltern vor den Nazis nach Palästina. Jehuda Amichai hat am seinem eigenen Leib erlebt, wie Unrecht Menschen verletzten kann. Und auch, dass Rechthaberei oft ins Unglück führt. In seinem Gedicht schreibt er:

„An dem Ort, an dem wir recht haben, / werden niemals Blumen wachsen – ... /
Der Ort, an dem wir recht haben, ist zertrampelt und hart wie ein Hof.“

Jehuda Amichai führt die zerstörerischen Konsequenzen von „recht haben“ vor Augen. Recht haben wollen – auf Teufel komm raus – das kann in einer Wüstenei enden. Da wächst kein Gras mehr. Wie verheerend ist das! So können Streitereien im Familien- und Freundeskreis enden. So kann es im Straßenverkehr zugehen, wenn jemand auf seiner Vorfahrt beharrt und einen Totalschaden provoziert! Und das gilt auch für Konflikte, die mit Waffengewalt ausgetragen werden.

Gibt es einen Ausweg? Jehuda Amichai markiert ihn in der zweiten Hälfte seines Gedichtes:

„Zweifel und Liebe aber / lockern die Welt auf / wie ein Maulwurf, wie ein Pflug.
Und Flüstern wird hörbar / an dem Ort, wo das Haus stand, / das zerstört wurde.“

Verhärtungen und leblose Situationen aufbrechen, „die Welt auflockern“ – mit „Zweifel und Liebe“ – was für eine besondere Kombination ist das!

Für mich ist Jesus von Nazareth einer, der diesen Weg vorausgegangen ist. Auch den der Zweifel und der Selbstkritik: Als eine „Ausländerin“ zu ihm kam und bat, er möge seien Tochter heilen, da antwortete er barsch: »Ich bin nur für die Menschen in Israel da.« Er hat sich dann von dieser Fremden eines Besseren belehren lassen und hat sein Vorurteil aufgegeben. Er hat auf ihr Bitten hin, ihre Tochter geheilt. (Mt 15,21-28)

Seine Liebe leuchtet in besonderer Weise gerade in Konflikten. Jesus hat propagiert: Schlagt nicht gleich zurück! Gebt nach! Und geh mit dem mit, der dich darum bittet. Sogar doppelt so weit wie er es von dir verlangt. Auf der doppelten Länge kann auch Verständigung entstehen. So können, wie Jehuda Amichai es sagt, Zweifel und Liebe zum Humus werden für neues Leben. Und: Eine verschlossene Tür kann sich auftun.

*Jehuda Amichai (1924 - 2000) in dem Gedichtband „Zeit“, Frankfurt M. 1998

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SWR Kultur Wort zum Tag

29OKT2024
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Ein alter Bauernhof in Mecklenburg-Vorpommern. Er ist schon lange unbewohnt und nicht mehr bewirtschaftet. Einsturz gefährdet. Und dann kommt der Tag – und das Anwesen wird abgerissen.

Wenn Walter Green davon rechtzeitig erfährt, ist er zur Stelle. Er will die alten Eichenbalken aus dem Abrissschutt retten. Die nimmt er dann mit in seine Werkstatt. Er bürstet und schleift sie. Die Spuren der Holzwürmer bleiben. Auch die, die noch im Holz tätig sind. Das will er so. An manchen Stellen werden die Balken auch poliert. So entstehen aus alten Eichenbalken Holzskulpturen: mit Rissen und Kanten und Aussparungen. Manche versieht er mit sparsamen Farbakzenten. Gold oder kobaltblau.

Bei einer Ausstellung seiner Werke hat Walter Green einmal erzählt, wie sehr ihn diese Balken faszinieren. Er hat sagt: „In dem Augenblick, wo sie in meine Hände kommen - da spüre ich so etwas wie »Ewigkeit«.“
Er hat das so erklärt: So ein alter Balken, den er in die Hände bekommt, in dem steckt eine lange Geschichte, mit besonderen Ereignissen. Als die Eiche gepflanzt wurde, hat Luther in Wittenberg die Reformation der Kirche gefordert. Als der Baum gefällt wurde, 300 Jahre später, kann sein, da war Napoleon gerade mit seinem Heer unterwegs nach Osten. Und seit der gesägte Balken in der Scheune verbaut wurde, sind wieder 200 Jahre vergangen.

Jetzt ist der Eichenbalken in seine Hände geraten. Der uralte Balken, der so besondere Momente der Geschichte in sich birgt, der wird zum Material für Neues. Für eine Skulptur.
Für ihn, sagt Walter Green, wird da »Ewigkeit« greifbar und spürbar.

Mich hat das beeindruckt. Und ich habe daran für mich entdeckt: Ewigkeit ist zum einen offenbar eine lange, lange Zeit. Doch erfahrbar wird ihre Länge durch herausragende Momente und Ereignisse. Und so erfahre ich das auch in meinem Leben.

Es gibt Momente und Augenblicke, die kommen mir wie vor wie eine Ewigkeit.
Man sagt ja manchmal auch: Das hat eine Ewigkeit gedauert. Und dabei waren es nur ein paar Minuten. Die gemessene Zeitdauer spielt dabei nämlich keine Rolle.
Es sind die besonders intensiv aufgeladenen Momente im Leben – die machen eine erlebte Zeit zur Ewigkeit. Also: einschneidende Ereignisse - private oder auch politische.
Erlebnisse voller Freude und Glück - oder auch voller Schmerz und Enttäuschung.

Wo Ewigkeit so in die Zeit hineinleuchtet*, wird das Leben hell – und ist das mehr als nur eine lange Zeit, die vergeht.  

* Das Bild stammt aus einem Lied von Marie Schmalenbach, EG 680,4 (württ. Ausgabe).

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SWR Kultur Wort zum Tag

28OKT2024
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„Der wird sich wundern, wenn er die Augen aufmacht!“

Das soll Christoph Blumhardt so gesagt haben. Nachdem er erfahren hat, dass August Bebel gestorben war. Der war Sozialist und erklärter Atheist. Christoph Blumhardt selber war auch Sozialist – und evangelischer Pfarrer. Er war zu Anfang des 19. Jahrhunderts Landtagsabgeordneter für die SPD. Das war damals eine Seltenheit. Und für viele in der Kirche ein Ärgernis: „Als Pfarrer sich mit Sozialisten gemein machen - das geht doch gar nicht. Die sind doch Atheisten. Die lehnen doch Religion ab.“

Hassmails hat er noch keine bekommen können – aber Ablehnung in Hülle und Fülle. Blumhardt hatte Kontakte zu Sozialisten und anderen Andersdenkenden. Viele - wie auch Rosa Luxemburg - sind zu ihm nach Bad Boll gekommen – an den Rand der Schwäbischen Alb - , wo er lange als Seelsorger und Prediger im Kurhaus gewirkt hat. Man hatte von seiner glühenden Sehnsucht nach dem Reich Gottes gehört. Und von seiner Erwartung, dass mit Christus sich Frieden und soziale Gerechtigkeit in der Welt ausbreiten. Für Christoph Blumhardt war klar: Für dieses Anliegen steht in der Realpolitik hier auf Erden die Sozialdemokratie. Und so hat er sich dann auch in dieser Partei engagiert.

Ich frage mich: Wie ist Blumhardt damit klar gekommen, dass zwar viele seine politischen Ansichten geteilt haben, aber so ganz und gar nicht seinen Christusglauben? Blumhardt konnte damit offenbar gut umgehen. In Respekt vor den Überzeugungen Anderer - ohne dabei seinen eigenen Glauben zu verschweigen. Das imponiert mir so sehr an seinem Wort über den Verstorbenen August Bebel: „Der wird sich wundern, wenn er die Augen aufmacht!“ Trocken und mit Herzblut ist das gesagt. Und im Wissen darum: Bebel hat niemals damit gerechnet, sich über seinen Tod hinaus über irgendetwas zu wundern. Für ihn war mit dem Tod alles aus.

Blumhardts Zuspruch geht darüber hinweg, charmant und mit liebevollem Augenzwinkern. Ohne Besserwisserei oder Rechthaberei. Gesprochen aus der Mitte seines Hoffens und Glaubens: Der Tod hat nicht das letzte Wort. Der Ewige, der den Juden Jesus von Nazareth aus dem Tod ins Leben gerufen hat, der wird auch den Atheisten August Bebel nicht vergessen. Auch Bebel wird einst der Herrlichkeit Gottes ansichtig werden. Wird aufgenommen in sein Reich. Weil – wie es in der Bibel heißt – „Gott die Liebe ist“ - und es am Ende nur darum geht:
„Wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.“  (1.Joh 4,16)

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SWR Kultur Wort zum Tag

21SEP2024
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„Solange der Bauer klagt, lebt er noch.“
Das habe ich so von einem weisen Bauern auf der Schwäbischen Alb im Ohr. Und werde das nie vergessen: Klagen ist auch ein Lebenszeichen. Und doch gehen mir Menschen auf den Geist, die unentwegt klagen.  Die immerfort etwas bemängeln, was nicht so ist, wie es sein sollte. Das Essen ist fad, die anderen Autofahrer sind verrückt und die Politiker spinnen. Über Lehrer und Ärzte und Kinder wird dann hergezogen. Da lange zuzuhören, strengt mich richtig an.

Eine Pflegerin hat mir erzählt: Nach 10 Minuten Bitterkeiten pur, ist sie völlig platt. So ein Besuch ist für sie wie ein Fläschchen Bittermandelöl auf ex getrunken. Und obwohl es mich bei Anderen so stört, kenne ich das nur zu gut von mir selber. Ich gehe mir selber mit meinen Klagen auf die Nerven.

Ich habe das mit der Muttermilch eingesogen. Alles und jedes wurde immer wieder mit Kritik versehen: Was alles falsch läuft – in der Welt und direkt vor der Tür. Mich lähmt das. Und ich will da raus.

Manchmal gelingt mir das, wenn ich an Worte aus Psalm 36 denke:
„Gott, deine Güte reicht so weit der Himmel ist
und deine Wahrheit so weit die Wolken gehen...“
Diese Worte stellen mein Leben in ein strahlendes Licht – in den Horizont der wunderbaren Wohltaten Gottes. Und das wird noch vertieft: Gottes Gerechtigkeit wird gepriesen und sein unumstößliches Recht. Und wie Gottes Güte für Mensch und Tier erlebbar wird. Behütet und geschützt werden sie – und satt von den Gütern des Hauses Gottes. Also auch geistig-seelisch satt.

Das Lobgebet mündet in ein Bekenntnis:
Bei dir (Gott) ist die Quelle des Lebens - und in deinem Lichte sehen wir das Licht.

Also nicht nur ich. Wir! Alle! Mit Licht und Leben verbunden. Diese Worte vertreiben in mir immer wieder meine Schwarzmalerei. Was diesen Psalm für mich so besonders wertvoll macht: Ich habe entdeckt: Um diese strahlenden Worte herum ist nichts als Klage.

Da schimpft einer wie ein Rohrspatz und klagt Gott an:
Warum geht es mir so schlecht und den anderen, den Bösen, so gut? Gut möglich, dass es wirklich so ist. Dass er wirklich elend dran ist. Doch selbst, wenn dem so ist: Der Klagegeist fällt sich selber ins Wort. Mit einem Mal überstrahlen die Hoffnungsworte alle seine Klagen.

Diese Psalmworte sind mir zu einer geistlich-seelischen Gymnastik geworden. Wenn ich mich mal wieder beim Jammern ertappe, dann animieren sie mich: Ich will immer wieder auch das Schöne, das Gelungene, das Befriedigende sehen! Und Gott dafür loben und danken!

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SWR Kultur Wort zum Tag

20SEP2024
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Vom Frühstückstisch aus sehe ich, wie Kinder zur Schule oder zum Kindergarten laufen. Allein oder mit ihren Eltern. Für manche sind es jetzt die ersten Tage und Wochen in Schule und Kindergarten. Ich sehe ihre Augen, ihre Blicke, ihr Staunen. Wie sie am Gartenzaun stehen bleiben:
Keine Uhr im Kopf. Fasziniert von Blüten und Schmetterlingen, von heruntergefallenen Birnen, von Katzen, die frei umherstreunen. Und wie sie am Nachmittag dann Feuerwanzen an der Friedhofsmauer sammeln. Und Schnecken - nicht als Schädlinge: sie hegen und pflegen sie – zu Hause in Kisten. Sie füttern sie mit frischen Blättern.
Eine wundervolle Welt ist da vor meinen Augen. Ohne Kommerz und Karriere. Ohne die Fragen: Was kann ich mir dafür kaufen? Was muss ich tun, damit ich weiter vorankomme?
Reine Freude am Leben, an dem, was hier und jetzt lebt und gedeiht.
Auch an dem, was hier und heute zu lernen ist. Erste Buchstaben, erste Zahlen.

Ich verstehe den Dichter Dante (1285-1321) gut, wenn er die Augen von Kindern zu den Dingen zählt, die uns unsere himmlische Herkunft spüren lassen. Direkt aus dem Paradies!

Dazu gehört auch, wie Kinder ihre ersten Lehrerinnen und Lehrer anschauen können. Noch nichts von wegen „Stress“ und „Schule ist blöd“. Die Welt des Lernens und Entdeckens ist noch nicht kaputt geredet.

Wie staunend und verehrend habe ich einst als Kind auf meine Klassenlehrerin geschaut. Und ich stelle mir vor: Genau so einen Erstklässler hat Jesus in die Mitte gestellt, als sich seine Jünger untereinander ihre Gedanken über´s Ranking gemacht haben. Laut Bibel haben sie Jesus gefragt. „Wer ist der Größte im Himmelreich?“ Und Jesus hat schlicht ein Kind zu sich gerufen - und es in ihre Mitte gestellt.

Und ihre Frage so beantwortet: „Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, dann werdet ihr niemals ins Himmelreich kommen.“(Matthäus 18,2+3) Wenn ihr euch – wörtlich übersetzt – nicht umdreht – innerlich !! – vielleicht sogar um 180 Grad – dann könnt ihr eine himmlische Welt, wie Gott sie für euch im Sinn hat, nicht erleben.

Das ist ein Wort an die Erwachsenenwelt – heute zum Weltkindertag:
Staunt wie die Kinder, seid neugierig! - ohne auf Gewinn und Konkurrenz aus zu sein, ohne Gier und ohne Gewalt. Erhaltet den Kindern ihre Kindheit, haltet sie vor Grauen und Schrecken fern, tretet für ihre Rechte ein! Und: Das Kind in sich selber neu entdecken! Werden so wie sie. Dann können sie und wir etwas spüren vom himmlischen Leben. Hier und heute.

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SWR Kultur Wort zum Tag

19SEP2024
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Bald ist es ein Jahr her – jener 7. Oktober und das Verbrechen der Hamas-Terroristen. Wie viele Menschen wurden ermordet, verschleppt, gefangen gehalten!
Bis heute habe ich mich geweigert, mir irgendein Bild oder irgendein Video davon anzuschauen. Selbst wenn ich von diesen bestialischen Verbrechen höre, versuche ich, sie mir möglichst nicht vorzustellen. Überhören, Weghören, so gut es nur geht. Warum bloß?

Die israelische Schriftstellerin Maya Arad Yasur hat unmittelbar danach den Monolog einer Frau verfasst. Der Titel: „Wie man nach einem Massaker humanistisch bleibt - in 17 Schritten.“*

Ihre erste Regel lautet: Fernsehprogramme und andere Medien abschalten, die mit Gefühlen Geld verdienen wollen! Sie warnt vor den Schreckensbildern – denn daran kann man innerlich zerbrechen.
Stattdessen rät sie, sich daran zu erinnern: „Auch auf der anderen Seite der Grenze gibt es Mütter wie dich“. Sechzehnmal wiederholt und variiert sie diesen Satz in ihrem Monolog. Um sich gegen Gewalt- und Rachephantasien zu immunisieren. Und damit das Mitleiden wach bleibt für alle unschuldigen Opfer auf beiden Seiten dieses Gewaltausbruches.

Wie schwer ist das! Aber genau darum geht es: Wache Anteilnahme, ohne sich von Schreckensbildern gefangen nehmen zu lassen. Denn was in mein Auge hineingeht – hinterlässt Spuren in meiner Seele. Hass und Schrecken verfinstern meinen Blick, verblenden die Augen, heißt es in der Bibel. (1. Joh 2,11).

Maya Arad Yasurs Theaterstück hat mich tief berührt. Es hat in den vergangenen Monaten große Resonanz erfahren.
Ich denke, weil viele sich fragen: Wie kann ich in den Abgründen und Krisen dieser Welt Menschlichkeit bewahren?
Christen sagen: Jesus sei der wahre Mensch. Auch darum ich will festhalten am Bild vom Menschen als einem von Liebe und nicht von Hass erfüllten Wesen.

Maya Arad Yasurs 10. Rat lautet: „Such kleine menschliche Geschichten!“ Sie erzählt in ihrem Stück die Geschichte von einem arabischen Fahrradhändler in Israel.
Der verschenkt an jüdische Kinder, die überlebt haben, Fahrräder mit Helmen und bunten Klingeln. Solch eine Geschichte ruft Hoffnungen wach: Es kann Frieden geben!

Damit wird kein Verbrechen geleugnet. Das ist kein Augenverschließen aus Prinzip.
Das ist ein Versuch zu überleben – als Mensch – um für Andere ein Mensch bleiben zu können. Denn - wie schreibt sie: „Auch auf der anderen Seite der Grenze gibt es Mütter wie dich.“

*        uraufgeführt am 19. November 2023 am LTT-Tübingen – Regie: Sapir Heller

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SWR Kultur Wort zum Tag

10AUG2024
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Gott suchen. Sich nach Gott sehnen. Mit Haut und Haaren – und mit aller Energie, die in einem steckt. Wie fühlt sich das an? Und woher kommt das?

In einem Psalmgebet heißt es einmal:
„Gott, du bist mein Gott, den ich suche.
Es dürstet meine Seele nach Dir, mein ganzer Mensch verlangt nach Dir...“ Psalm 63,2 

In unserer Gesellschaft gibt es so viele Dinge, die menschliche Bedürfnisse befriedigen.
Es gibt für so ziemlich alles ein Produkt. Gegen Hunger und Durst allemal. Auch für unsere Gedanken, Meditation für die Seele. 
Und für unsere Fantasien: Filme, Musik und Bücher, Theater und Museen.
Wenn ich das bekomme, was ich brauche, ist mein Bedürfnis befriedigt.

Wie ist das aber, wenn ich mich nach Gott sehne, nach Gott verlange?
Ich spüre: Hier ist das anders. Hier gibt es nicht so etwas wie eine Bedürfnisbefriedigung. Gott ist und bleibt bei aller Sehnsucht nach IHM kein erreichbares Ziel, nichts, was ich in Besitz nehmen kann.

Und doch rückt dieses Sehnen nach Gott bei mir bisweilen alle anderen Wünsche in den Hintergrund. Es reicht weit über alles hinaus, was ich jemals erreichen kann.

Dieses Sehnen nach Gott steigert sich – erfasst meine ganze Existenz, so wie im Psalmgebet:
„Es dürstet meine Seele nach Dir, mein ganzer Mensch verlangt nach Dir...“

Ein ganzer Mensch verlangt nach Gott. Von innen heraus. Und zwar nicht ohne Grund.
Das Verlangen, das Ausstrecken nach Gott hat ein Woher und ein Wohin:
„Es dürstet meine Seele nach Dir, ... aus dürrem Land, wo kein Wasser ist“.
Gott ist kein Premiumwasser, kein Luxusprodukt, das diesen Durst löscht. Gott ist ein Adressat für Hoffnungen, die über alles hinausgehen, was man sich besorgen oder kaufen kann:
Bei ihm ist Geborgenheit und Schutz vor Gewalten, die mich bedrohen können.
Gott ist meine Hoffnung, wenn alles bricht.

Gerade jetzt – in diesen dürren Zeiten – wächst meine Sehnsucht nach Gott. Sie hält meine Hoffnungen am Leben:
Auf einen umfassenden Frieden – auf Versöhnung.
Streit und Zwietracht werden einmal ein Ende haben.
Trauernde und Leidende werden getröstet und menschliche Zerstörungswut vergeht.
Warum ich diese Hoffnung in Gott verankere?
Ich sage es einmal so - mit einem Vers von Matthias Claudius:
„Es ist nur einer ewig und an allen Enden und wir in seinen Händen...“
Wo ich zu IHM bete – da strahlt das Unerreichbare in mein Leben. Schon jetzt.

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SWR Kultur Wort zum Tag

09AUG2024
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Eine Veranstaltungsankündigung: Dunja Hayali kommt – die bekannte Fernsehjournalistin. Sie spricht über die Macht des Populismus und moderne Streitkultur. Und schon hagelt es Hassmails.


Als ihre Vorlesung an der Tübinger Universität so angekündigt wurde, erhielt die Lokalzeitung „über Nacht 1.400 Hass-Kommentare“. (Tagblatt, 20.6.24) So viele beleidigende, herabsetzende Zuschriften. Ich denke: Wem so massiv Ablehnung entgegenschlägt, dem klebt das auf der Seele. Wie damit umgehen?

Dunja Hayali sagt, sie sorgt dafür, dass „Pöbler aus der Kommentarspalte ihrer Social-Media-Kanäle entfernt werden“ (Tagblatt, 20.6.24).
Doch: Sie bleibt für Kritik erreichbar – auch in den sozialen Netzen: zum Dialog.
Sie sagt: „Wenn der Dialog endet, können wir alle einpacken.“ 
Ich denke: So kann es gehen. Hasskommentare löschen und an anderer Stelle zum Dialog bereit bleiben. Mit digitalen Zuschriften geht das. Doch wie gelingt das in der direkten Begegnung? Von Mensch zu Mensch?

Mir fällt eine Strategie ein, die Paulus empfiehlt. Er greift dabei eine Weisheit aus der Bibel auf: „Der dir Böses will, den versorge und unterstütze.
Wenn er hungert, gib ihm zu essen, wenn er durstig ist, gib ihm zu trinken. Befriedige seine Nöte.“ (Sprüche 25,21f).

Heute nennt man das auch „paradoxe Intervention“. Man tut etwas ganz und gar Unerwartetes, um den anderen zu verblüffen – und ihn so zum Umdenken zu bringen. Versorgst du den Feindseligen, so die Logik von Paulus, dann häufst du „glühende Kohlen auf sein Haupt.“ Das heißt: Reue und Scham können sich bei ihm einstellen, seinen Zorn abkühlen.

Ich habe das schon einmal so erlebt. Im Gespräch mit einem, der so richtig wütend war: auf die Regierung und die da oben - und ihnen alles Böse an den Hals gewünscht hat – er müsse endlos arbeiten und bekomme nichts dafür.
Da habe ich zu ihm gesagt: „In der Not kannst Du zu mir kommen.
Es gibt für Dich bei mir immer etwas zu essen und zu trinken.“
Das hat ihn beruhigt. Nicht, dass er das Essen gebraucht hätte. Das war es nicht. Er hat gebraucht, dass da einer seine Gefühle und seine Wut erst einmal stehen lassen kann. Und schlicht die Erfahrung: Der hält jetzt nicht gleich dagegen.

Der stellt mich nicht gleich in eine Ecke. Der will mir nichts Böses – sondern Gutes. Er musste sogar ein wenig lächeln. Vielleicht über seine Wut? Jedenfalls konnten wir dann weiterreden.

Ob das mit Hass-Mails auch so funktioniert? Da habe ich meine Zweifel. Aber in der persönlichen Begegnung schon. In jedem Fall gilt: Empathie schadet nie.

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SWR Kultur Wort zum Tag

08AUG2024
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Haben Sie schon einmal dieses Schild gesehen? „K + R“. Mir ist es vor kurzem am Bahnhof in Tübingen aufgefallen. Zum ersten Mal. „K + R“. Was das Kürzel bedeutet, steht drunter: Kiss and Ride.

Nichts Neues ist das, habe ich gelesen. Vor 60 Jahren gab es diesen Slogan schon. Damals sollte er dafür werben: Eine Familie braucht keinen Zweitwagen! Die Frau bringt ihren berufstätigen Mann mit dem Auto zur Bahn – parkt kurz – Küsschen, Küsschen – und fährt dann wieder nach Hause.

Heute ist das natürlich nicht mehr so rollenfixiert gemeint. Heute steht „Kiss and Ride“ einfach für: „Kurzzeitparkplatz“.
Aber das wäre nun wirklich sehr förmlich ausgedrückt - für alles das, was ein Abschied bedeuten kann. Wie viel Poesie, wie viel Lebensfreude steckt dagegen in „Kiss & Ride“! Da geht es um viel mehr als um Parkplätze an belebten Orten.

„Kiss & Ride“ verstehe ich so: Küssen ist passend, erwünscht – vielleicht sogar vorgesehen – und schon gar nicht verboten.
Nach den Corona-Jahren ist das ein Statement. Da wurde vor körperlicher Nähe gewarnt. Die Aufforderung „Kiss & Ride“ war unvorstellbar.
Heute hat „Kiss & Ride“ einen besonders guten Grund, quasi als Nachsorge für versäumte Küsse.

Küsse sind zärtliche Zeichen. Sie stiften Verbindung und Zugehörigkeit. Sie erneuern und stärken Freundschaft und Liebe und Leidenschaft. Bei „Kiss & Ride“ geht es um einen besonderen Kuss – um den Abschiedskuss. Abschiedsküsse wirken nach.
Schon Paulus hat die Christen in Korinth in einem Brief zum „Heiligen Kuss“ ermutigt. (1.Kor 16,20) Ich stelle mir vor, wie sie sich mit einem Kuss untereinander vergewissert haben: Wir gehören zusammen –  zu Jesus Christus – komme, was wolle. Der Kuss erinnert uns daran: Wir bleiben mit dem verbunden, den Gott nicht im Stich gelassen hat. Nicht einmal im Tod.

Ist das zu viel Ernst für einen Abschiedskuss? Überfrachte ich damit den „Heiligen Kuss“? Ich finde nicht. Im Gegenteil: Es gibt ihm Gewicht. Wer weiß, was geschieht...?
Es gibt so viele Momente, die uns voneinander trennen können. Von jetzt auf nachher. „Hoffentlich sehen wir uns wieder!“, „Bleib behütet!“,  „Geh mit dem Segen Gottes!“,  – alles das kann da mitschwingen.

Ich nehme den Kuss als ein Körperzeichen, das mich stärkt - so wie ein Händedruck oder eine Umarmung, - Worte braucht es da nicht. Ob mit religiöser Bedeutung – oder ohne – ich freue mich daran.

Kiss & Ride! Dafür muss ich eigentlich nicht erst zum Bahnhof fahren. Ein Kuss zum Abschied passt auch an der Haustür. Auch ohne Schild!

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SWR Kultur Wort zum Tag

15JUN2024
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Wie leben wir mit nicht erreichten Zielen? Mit dem Unerfüllten im Leben?
Wenn ich in Tübingen über die Neckarbrücke gehe und mein Blick auf den runden gelben „Hölderlinturm“ fällt, kommt mir manchmal ein Gedicht von Friedrich Hölderlin in den Sinn. Er hat es dort – schwach und erschöpft vom Leben –  auf ein Stück Holz geschrieben: 

Die Linien des Lebens sind verschieden
Wie Wege sind, und wie der Berge Grenzen.
Was hier wir sind, kann dort ein Gott ergänzen
Mit Harmonien und ewigem Lohn und Frieden.

Hölderlin hat 36 Jahre lang da in einem kleinen Turmzimmer gelebt. Er hat deutlich gespürt, wie sein Leben gelinde gesagt „unerfüllt“ geblieben ist. Ein Erfolg im Beruf war ihm verwehrt. Weder als Wissenschaftler noch als Dichter fand er zu seinen Lebzeiten groß Anerkennung. Der Verlust seiner großen Liebe „Susette Gontard“ hat ihn an den Rand der Verzweiflung getrieben. Enttäuscht und zerplatzt sind auch seine politischen Hoffnungen, die er als Student mit seinen Freunden hatte. Gemeinsam hatten sie gedacht, mit der Französischen Revolution bricht ein Reich der Freiheit und des Friedens an. 

Nach einer schweren seelischen Krankheit hat ihn schließlich der Schreinermeister Zimmer und seine Familie aufgenommen, in ihrem Haus am Neckar. Dort findet Hölderlin nach allen diesen Niederlagen und Verletzungen so wunderbar milde Worte für die eine Hoffnung, die weiterträgt:
Gott kann auch mein Leben einst „ergänzen“, mit allem, was auf der Strecke geblieben ist: „Mit Harmonien und ewigem Lohn und Frieden“.

Wie verschieden sind doch „die Linien des Lebens!“ Manches gelingt, anderes bleibt auf der Strecke, bei manchem stößt man an Grenzen. Wie gehe ich damit um – mit dem Nicht-Erreichten – im Beruf, in der Familie, im öffentlichen Engagement? Mich anstrengen – auf Teufel komm raus?! „Komm, da geht noch was. Das schaffst Du schon!“. Aber kann ich das überhaupt? Und muss ich das wirklich?

Hölderlin ist mir in vielem ein Seelsorger geworden.
Seine Dichter-Worte stärken meinen Glauben und trösten mich:
Ich kann im Leben an Grenzen stoßen und Ziele nicht erreichen.
Ich kann auch scheitern. Und kann dann mit dem Unerfüllten weiterleben.
Ich kann ein Fragment bleiben – und muss nicht komplett werden. Ja, ich kann dazu stehen – ohne Verdruss, ohne Selbstvorwürfe. Mit der Hoffnung: Gott wird einst ein Ganzes daraus machen, die unvollendet gebliebenen Linien weiterziehen.

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