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SWR2 / SWR Kultur

 

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SWR Kultur Wort zum Tag

15JUN2024
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Wie leben wir mit nicht erreichten Zielen? Mit dem Unerfüllten im Leben?
Wenn ich in Tübingen über die Neckarbrücke gehe und mein Blick auf den runden gelben „Hölderlinturm“ fällt, kommt mir manchmal ein Gedicht von Friedrich Hölderlin in den Sinn. Er hat es dort – schwach und erschöpft vom Leben –  auf ein Stück Holz geschrieben: 

Die Linien des Lebens sind verschieden
Wie Wege sind, und wie der Berge Grenzen.
Was hier wir sind, kann dort ein Gott ergänzen
Mit Harmonien und ewigem Lohn und Frieden.

Hölderlin hat 36 Jahre lang da in einem kleinen Turmzimmer gelebt. Er hat deutlich gespürt, wie sein Leben gelinde gesagt „unerfüllt“ geblieben ist. Ein Erfolg im Beruf war ihm verwehrt. Weder als Wissenschaftler noch als Dichter fand er zu seinen Lebzeiten groß Anerkennung. Der Verlust seiner großen Liebe „Susette Gontard“ hat ihn an den Rand der Verzweiflung getrieben. Enttäuscht und zerplatzt sind auch seine politischen Hoffnungen, die er als Student mit seinen Freunden hatte. Gemeinsam hatten sie gedacht, mit der Französischen Revolution bricht ein Reich der Freiheit und des Friedens an. 

Nach einer schweren seelischen Krankheit hat ihn schließlich der Schreinermeister Zimmer und seine Familie aufgenommen, in ihrem Haus am Neckar. Dort findet Hölderlin nach allen diesen Niederlagen und Verletzungen so wunderbar milde Worte für die eine Hoffnung, die weiterträgt:
Gott kann auch mein Leben einst „ergänzen“, mit allem, was auf der Strecke geblieben ist: „Mit Harmonien und ewigem Lohn und Frieden“.

Wie verschieden sind doch „die Linien des Lebens!“ Manches gelingt, anderes bleibt auf der Strecke, bei manchem stößt man an Grenzen. Wie gehe ich damit um – mit dem Nicht-Erreichten – im Beruf, in der Familie, im öffentlichen Engagement? Mich anstrengen – auf Teufel komm raus?! „Komm, da geht noch was. Das schaffst Du schon!“. Aber kann ich das überhaupt? Und muss ich das wirklich?

Hölderlin ist mir in vielem ein Seelsorger geworden.
Seine Dichter-Worte stärken meinen Glauben und trösten mich:
Ich kann im Leben an Grenzen stoßen und Ziele nicht erreichen.
Ich kann auch scheitern. Und kann dann mit dem Unerfüllten weiterleben.
Ich kann ein Fragment bleiben – und muss nicht komplett werden. Ja, ich kann dazu stehen – ohne Verdruss, ohne Selbstvorwürfe. Mit der Hoffnung: Gott wird einst ein Ganzes daraus machen, die unvollendet gebliebenen Linien weiterziehen.

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SWR Kultur Wort zum Tag

14JUN2024
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Wenn ich vor dem Kindergarten auf meinen Enkel warte, höre ich immer mal wieder diese Frage: „Arbeitest Du wieder? Oder bist Du noch Zuhause?“ Wo ich diese Frage höre, versetzt mir das einen Stich ins Herz.

Wer einmal kleine Kinder versorgt hat – für einen Tag, für eine Woche – oder auch nur für ein paar Stunden, – der weiß, wie viel Energie das kostet. Einen Haushalt führen: für Essen sorgen, die Wäsche waschen, Einkaufen.
Ein Betrieb mit etlichen Betriebszweigen ist das!
Und wie müde und erschöpft ist man danach.
Aber auch: Wie schön und erfüllend kann das sein.

Es ist freilich gut und wichtig, wenn in Kitas und Schulen Erziehende anständig bezahlt werden. Und es gibt immer wieder neue Ideen, wie man Mütter und Väter für ihre Erziehungs-Leistung finanziell entlasten und honorieren kann: Kindergeld, Elternzeit – und dergleichen mehr.

Nur wäre es für mein Empfinden fatal, wenn alle unsere Mühen und Anstrengungen auf die eine Dimension reduziert werden: Gibt es dafür Geld? Als Arbeit kann dann nur noch gelten, was bezahlte Lohnarbeit ist. Und als wichtige Arbeit, wofür es richtig viel Geld gibt.

Die Bibel kennt noch andere Dimensionen und andere Wege, wie Menschen zu lebenswichtigen Dingen kommen, ohne dafür Geld zu zahlen. Es heißt einmal im Buch Jesaja:
„Wohlan, alle, die ihr durstig seid, kommt her zum Wasser!
Und die ihr kein Geld habt, kommt her, kauft und esst!
Kommt her und kauft ohne Geld und umsonst Wein und Milch!“ (Jes 55,1)

Kaufen ohne Geld? Gratis? Wie soll das denn gehen?
Bei Jesaja ist damit ein Eintauschen auf dem Markt gemeint, ohne Geld.
Menschen tauschen Dinge und Dienstleistungen, so würde man heute wohl sagen, ohne zu zahlen.
Da und dort gibt es heute solche Initiativen, die das wiederbeleben.
In Repair-Cafés z. B. wenn ich nicht damit klarkomme, wie ich eine defekte Lampe repariere. Ich kann die mitbringen. Und es gibt technisch versierte, die mir dabei helfen oder es für mich machen. In derselben Zeit kann ich anderen bei der Fahrradreparatur helfen. Es gibt auch „Tauschbörsen“, wo Hilfeleistungen zum Tausch angeboten werden: „Das kann ich, was kannst Du?“ Im Tausch z. B. Gartenarbeit gegen Nachhilfe. Oder Knöpfe annähen und Hemden bügeln, gegen Einkaufen und Autowaschen.

Ich denke nicht, es ginge alles leichter ohne Geld. Keineswegs! Doch diese vorindustrielle Sicht auf Arbeit und Erwerb aus der Bibel hält an der Vorstellung fest: Im Leben ist vieles unverzichtbar und anerkennenswert und richtig Arbeit, was kein Geld kostet. Hoffentlich auch in Zukunft.

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SWR Kultur Wort zum Tag

13JUN2024
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Kennen Sie das Wort „Putzteufel“? Es wird abschätzig meistens Frauen nachgesagt, die mehr putzen, als andere das für nötig halten.  D e r „Putzteufel“ ist männlich. Und ich fühle mich durchaus angesprochen: Wenn ich einen Schnipsel Papier auf dem Boden sehe und den sofort zum Mülleimer bringe. Doch das betrifft nur Äußerlichkeiten.

Mir geht es heute in erster Linie um die „Putzteufel“ in uns. Die in den Gedanken, Gefühlen und Ansichten von Menschen aufräumen wollen. Die mit dem Kehrbesen im Kopf auf der Suche nach „schmutzigen Gesinnungen“ sind:
„Was denkst du über Geflüchtete? Wie über die vergangenen Coronamaßnahmen?
Wie über Klimaschutz oder Gendern?“

Keine wirklichen Fragen sind das dann. Sie sind gepaart mit Tabus und Denkverboten: „Bist du auch so verrückt?“ – „Mit denen redet man nicht!“ – „Denen geht man besser aus dem Weg!“ „Die lädt man nicht mehr ein.“ Ich denke, die Versuchung ist zur Zeit groß, bei solchen „Putzteufeleien“ mitzumachen.

Mir fällt auf: Im Wort „Putzteufel“ steckt der Teufel – eine religiöse Dimension. Führt zu Gesinnungsputzteufeln eine religiöse Spur?

Jesus hat einmal gesagt: Es kommt nicht auf die äußere Reinheit eines Menschen an, sondern auf die Innere! Es kommt auf das an, was ein Mensch fühlt und sagt! (Markus 7)

Christen haben das oft zum Anlass genommen, Überzeugungen und Äußerungen ihrer Mitmenschen zu durchleuchten. Mal waren es radikale Calvinisten zu Zeiten der Reformation in Genf, mal war es die Inquisition als großer kirchlicher Machtapparat.
Später auch staatliche Stellen, wie zB die Staatssicherheit in der DDR.
Mit Verhören und Strafen; mit Seelenqualen, die das für Andersgesinnte bedeutet hat.

Ich denke, Jesus wollte mit seiner Aussage, „es kommt auf das Innere im Menschen an, das gerade Gegenteil. Er hielt Kontakt zu Ausgegrenzten, die man für religiös und unrein erklärt hat. Er hat abweichende Ansichten nicht dämonisiert oder verurteilt.
Er hat argumentiert. Auch scharf. Und dabei versucht, die Anderen zu verstehen. Auch seine Widersacher. Auch die Abweichler in den eigenen Reihen, wie Judas oder Petrus.

Darum könnte die Stimme des Evangeliums heute wohl auch so lauten:
Vermeidet jede Form von Putzteufelei!
Egal ob jung oder alt: Erklärt Andersdenkende nicht vorschnell zu Staatsfeinden oder zu Verrückten. Wo Menschen so abgestempelt werden, steckt der Teufel drin. Das verhärtet Menschen und stiftet Unfrieden. Ich will das Putzteuflische in mir dämpfen - die Freiheit der Anderen aushalten. Mit Jesu Stimme im Ohr: „Selig sind die Sanftmütigen und Barmherzigen!“

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SWR2 Wort zum Tag

24FEB2024
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Wie oft höre ich den Satz: „Und denken Sie nur – so ´was passiert mir in der eigenen Familie!“ Das sind Geschichten von Streit, Neid und Missgunst. Ältere gegen Jüngere. Bruder gegen Bruder, Schwestern gegen Schwestern. Familie kann - aber muss nicht ein Ort des Friedens sein.
So steht es schon in der Bibel: Es beginnt mit dem ersten Brüderpaar, mit Kain und Abel, und hört nicht mehr auf. Die Söhne Noahs stellen ihren Vater bloß; im Kampf um den alten Abraham kracht es zwischen Sarah und Hagar ganz gehörig, die Zwillinge Esau und Jakob streiten um ihr Vorrecht der Erstgeburt. Und auch unter den Jüngern um Jesus gibt es Zoff: Eifersucht und Rangstreitigkeiten. Es kommt sogar zum Verrat. Keine heile, heilige Familie in Sicht. Auch nicht unter Menschen, die mit dem Friedensbringer Jesus unterwegs sind.

Für mich heißt das: Es gibt nicht von selbst eine heile Community. In der Familie nicht und auch nicht außerhalb davon. Das ist für den eigenen Familienkrach entlastend: Es ist nicht nur bei mir so.

Andererseits wirft das doch die Frage auf: Wenn denn Blutsverwandtschaft keine Garantie für ein friedliches Miteinander ist, wie kann das denn anders werden? Dafür braucht es offenbar klare Regeln. Für eine Kultur, die Streit und Kriege dämpfen kann.

Für mich sind dafür richtungsweisend die 10 Gebote, die Mose auf dem Berg Sinai empfangen hat. Und die Weisungen, die von Jesus überliefert sind.

Sie immunisieren nicht gegen Streit und Gewalt. Aber sie orientieren, geben mir einen Bezugsrahmen für eine andauernde erzieherische Arbeit an mir selber. Auch wenn ich in mancher Hinsicht nur schwer erziehbar bin, kann ich noch lernen:
Ich muss nicht andere beneiden, schlecht von ihnen sprechen, mir Vorteile und Gut aneignen, das mir nicht gehört. Auf dem Weg zum Frieden kann ich auch einmal nachgeben. Ich muss nicht der Erste sein, sondern kann mich auch einmal hinten anstellen und der Letzte sein.

Und wenn es nicht gelingt? Dann soll ich für meine Fehler Verantwortung übernehmen. Dazu stehen. Nicht wie Kain: Der schlägt seinen Bruder tot und als ihn Gott zur Rede stellt, reagiert er so, als hätte es mit ihm nichts zu tun: „Bin ich denn meines Bruders Hüter?“
Verantwortung abweisen und Schuld nicht anerkennen, verlängert die Kette von Untaten und Unfrieden. Wo ich aber Fehler eingestehe, kann ich neue Wege beschreiten.

Unterwegs zu jener verlockenden Vorstellung aus Psalm 133:
„Siehe. Wie schön und wie lieblich ist es, wenn Brüder in Eintracht beieinander wohnen.“ Ein friedvolles Wochenende, mit wem immer Sie unterwegs sind.

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SWR2 Wort zum Tag

23FEB2024
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Jeden Tag lese ich morgens die Losung der Herrnhuter Brüdergemein(d)e: ein Bibelwort, ein Impuls, der meinem Tag ein Licht aufsetzen soll.
Heute steht da: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Ich schreie, aber meine Hilfe ist ferne. (Psalm 22,2)
Wie kann denn so ein Wort mich heute tragen? Mir ein Licht sein?

Zieht das nicht nur runter?!  Bestärkt das nicht erst recht das Gefühl: „Ich bin einsam und verlassen.“
Wie viele Menschen schmerzt eben diese Erfahrung. Und dann steht da noch: Sogar von Gott verlassen. Der will und soll mich doch eigentlich nie im Stich lassen? Wo steckt der Trost, das Aufbauende in diesem Wort?

Bekannt ist dieses Wort aus Psalm 22 als ein Wort, das Jesus am Kreuz gesagt hat.
In seinem fürchterlichen Schmerz hat er dieses Wort herausgerufen.
Wer leiden muss, hat also einen Leidensgenossen an seiner Seite – und zwar keinen geringeren als Jesus, den Sohn Gottes. Leidende sind also im Leid gerade nicht allein.
Ist das ein Trost? Ja, das tröstet mich, das durchbricht mein Empfinden, im Schmerz und in der Einsamkeit verlassen zu sein.
Viele hören in Jesu Wort vom Kreuz nur die pure Enttäuschung über eine gottverlassene Welt voller Gewalttaten. Und die anklagende Frage: „Warum lässt DU das zu, Gott? “

Doch mich erreicht in diesem Wort noch eine andere Dimension.
In der Passionsgeschichte ist dieses Wort von Jesus gerade nicht das letzte Wort.
Gottes Geschichte mit Jesus geht weiter.
Er hat ihn nicht im Stich gelassen, sondern auferweckt – neu ins Leben gerufen.
Also gerade kein Ende.
Wo wir denken, es ist alles aus und vorbei, da wendet sich das Blatt. Von Gott her.
So steht es auch in dem Psalm, von dem Jesus am Kreuz nur die ersten Worte ausruft:
Gott erhört die Schreie der Leidenden. Und hilft ihnen heraus. So wie er auch in früheren Zeiten Menschen aus Not und Knechtschaft und Verfolgung herausgeholfen hat. So hilft er auch uns! (V.5+6)

Der Anfang eines Psalms steht für den ganzen Psalm. Und der Psalm 22 steht für eine doppelte Erfahrung: Auch noch in der tiefsten Erfahrung von Leid und Einsamkeit lebt die Hoffnung: Gott lässt mich nicht im Stich!

Ich möchte darum das Wort vom Kreuz so hören - im Licht von Ostern:
Auch wenn ich denke, ich kann nicht mehr, es ist alles unerträglich - Gott hält mich und diese Welt in seinen Händen geborgen.

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SWR2 Wort zum Tag

22FEB2024
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Wer ist ein heutzutage ein Held? Wer beim Fußball einen entscheidenden Elfmeter hält. Ein LKW-Fahrer, der sein brennendes Fahrzeug noch durch den Tunnel fährt, damit da Feuer-Inferno ausbricht. So unlängst geschehen in Thüringen im Rennsteig-Tunnel.
Von Soldaten hieß es früher und heißt es wieder, sie seien Helden: Wenn sie bei einer Militäraktion besonders erfolgreich gewesen sind. Oder ihr Leben im Kampf für ihr Volk verloren haben. Helden mit Orden und staatlichen Auszeichnungen.

Für mich gibt es noch andere Helden. Oft sind es Heldinnen. Ich begegne ihnen auf dem Weg zum Bahnhof. Da komme ich nämlich am Kindergarten vorbei und denke: Was die Erzieherinnen da heute wieder leisten!
Jeder, der selber Kinder begleitet, weiß, wie anstrengend das ist.
Ich tue mich schon mit zwei kleinen Enkeln schwer, bin nach ein paar Stunden richtig erschöpft.
Und den Erzieherinnen in der KiTa und den Lehrern in der Schule gelingt das in großen Gruppen. Tagein, tagaus. Unfassbar!
Für mich sind sie wirklich Heldinnen und Helden des Alltags. Auch, weil sie oft Streit schlichten müssen. Denn Zoff gibt es unter Kindern und Jugendlichen genug.

In einer rabbinischen Schrift wird Rabbi Natan ein Wort zugeschrieben, das dieses Heldentum so auf den Punkt bringt. Es heißt da: „Wer ist ein Held? Der den Feind in einen Freund verwandelt.“*

Darum ging es auch Jesus, als er das Gebot „Liebet eure Feinde!“ (Mt 5,44) denen gab, die in seinem Namen unterwegs sind. Wie das geht? Die Feinde lieben? Aus Feinden Freunde machen? Ein einfaches Rezept gibt es dafür sicher nicht. Schon gar nicht für Soldaten, die zum Kriegsdienst gezwungen sind. Aber mir fällt eines auf: Verfeindungen beginnen häufig damit, dass man über Andere schlecht spricht. Über Nachbarn, Verwandte oder Kolleginnen und Kollegen. Ich ertappe mich selbst dabei:
Es gelingt mir immer wieder nicht, nur Gutes hervorzuheben – oder den Mund zu halten.

Ich spüre, wie das den Frieden in mir stört. Auch deswegen werden meine Gebete um Vergebung immer länger.
Es kommt darauf an, das Gute im Anderen zu sehen und auszusprechen.
Das gilt auch für verfeindete Völker. Auch und erst recht zwischen Völkern, die im Krieg gegeneinander sind. „Wer ist ein Held?“, fragt Rabbi Natan. Seine Antwort: „Der den Feind in einen Freund verwandelt.“* Es braucht auf dieser Welt zurzeit offenbar viele solche Heldinnen und Helden – in der Nähe und in der Ferne.

* Avot de Rabbi Natan (AdRN), 23

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SWR2 Wort zum Tag

10JAN2024
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Es gibt Komplimente, die lassen mich erbleichen. Meine Mutter macht mir regelmäßig so ein Kompliment! Mehrfach am Tag sagt sie: „Danke, dass du gekommen bist. Danke, dass du so weit gefahren bist.“ Und dann folgt dieses Kompliment: „Deine Geduld möchte ich haben - und Rothschilds Geld.“

Sie will mir damit Gutes sagen, aber es läuft mir jedes Mal kalt den Rücken runter. Meine Mutter ist 100 Jahre alt, „nicht mehr Deutschlands Jüngste“, wie sie sagt. Was da aus ihr rausplatzt, wohnt schon so lange in ihr. Es ist ihr in der Kindheit und Jugend eingetrichtert worden und in Fleisch und Blut übergegangen. Sie sagt das ohne böse Absichten - bis heute. Und transportiert mit diesem scheinbar lockeren Spruch das grässliche Vorurteil vom reichen Juden. Ein Vorurteil, das immer wieder Neid und Gier geweckt hat.

Ich will sie nicht tadeln oder belehren. Das wäre auch sinnlos. Doch es erschüttert mich immer wieder. Ich frage mich: Wie tief sitzen solche Zerrbilder und Feindbilder nicht nur in Hochbetagten, sondern auch in mir?

Der Schriftsteller Kurt Oesterle hat unlängst einmal formuliert: Jede und jeder soll ihr und sein eigener Antisemitismusbeauftragter werden.* Dieser Gedanke leuchtet mir ein. Es gibt abgründige Dinge und Vorstellungen in uns – da können und sollen wir die Verantwortung nicht auf politische Instanzen oder Schulen abschieben. Wir müssen selber daran arbeiten. Antisemitismus kann man nicht durch Verlautbarungen oder Verbote aus der Welt schaffen. Jede und jeder ist selber gefragt. Da geht es um Herzensbildung.

Für mich geschieht das zum Beispiel, wenn ich im sogenannten „Alten Testament“ lese - der jüdischen Bibel. Wenn ich mich dabei von jüdischen Deutungen inspirieren lasse, entdecke ich, wie jüdische Spiritualität meinen Glauben bereichert.
Was ich da lieb gewinne, was mir da zu Herzen geht, das vertreibt in mir alte Muster und Zerrbilder – von einer angeblich gnadenlosen und elitären Gesetzesreligion, die von Zwang und Vergeltung geprägt sei. Was für ein Unsinn!

Gebete und Geschichten aus der jüdischen Bibel sind es, die mir die Schönheit Gottes erschließen helfen und den Juden Jesus in neuem Licht erscheinen lassen.
An Kirchengebäuden sehe ich jetzt da und dort Banner mit dem Schriftzug „Nie wieder ist JETZT!“ Das macht mir Mut. Ich will nicht weggucken. Wo sich Judenfeindschaft wieder meldet – dagegen muss ich aufstehen und protestieren. Das ist mir eine Herzenssache.

* Kurt Oesterle, Eine Stunde ein Jude - Geschichten gegen Antisemitismus

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SWR2 Wort zum Tag

09JAN2024
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Gerne mag ich regelmäßig vor dem Essen innehalten und beten. Ich wünsche mir für mich und für alle, die am Tisch versammelt sind, den guten Geist Gottes. Doch wenn die Enkel mit am Tisch sind, zögere ich. Ein Gebet mit kleinen Kindern? Wollen das die Eltern auch? Das ist nicht so einfach.

Mir ist eine Minimalversion eingefallen. Und für die ist dann oft auch Zeit. Ich bete in einem einzigen Satz um Gottes Geist, um „Frieden, Liebe und Ruhe. Amen.“

Doch unlängst bin ich gar nicht bis zum Amen gekommen. Mein Enkel hat dazwischen gerufen: „und Böses Opa!“.

Ich habe versucht, so gut es ging, davon keine Notiz zu nehmen. Aber es ist wie ein Stachel, der mich piekst. Wo mir Liebe und Frieden und Ruhe doch so am Herzen liegen. Und so zentral sind - so von Gott für alle Geschöpfe ersonnen und erdacht. Wenn man so will, ist mein kurzes Gebet wie die Bitte um Frieden im Alltag – jetzt beim Essen – wie für jedes Miteinander. Und da platzt dann das rein: „und Böses, Opa!“.

Ich weiß nicht genau, was meinen Enkel so gereizt hat auf das Böse hinzuweisen. Ich will auch gar nicht nachfragen, was das soll. Es hat mich nachdenklich gemacht - über mich selber. Bin ich vielleicht zu Harmonie bedürftig? Oder mehr noch als das: Harmonie süchtig?

Will ich mich dem Bösen nicht aussetzen? Will ich es verschweigen? Ja, verdränge ich das Böse zu sehr?  Vielleicht merkt der Knabe das. Und will genau das stören.
Könnte sein.

Jedenfalls bringt er mich damit zum Nachdenken: Wie ist das mit dem Bösen? Es ist doch da. Mach dir nichts vor. Es ist Teil dieser Welt, in der du lebst. Von Adam und Eva im Paradies heißt es ja auch schon: Nachdem sie vom Baum der Erkenntnis gegessen haben, konnten sie gut und böse unterscheiden (1.Mose 3,22). Sie mussten und sollten es dann auch unterscheiden: um böses Tun zu vermeiden.
Also war und ist es da - das Gute und das Böse. Und zwar beides!
Und wie massiv und heftig manchmal! Hier und Heute. Und deshalb gehört es wohl auch in unser Tischgebet.

Vielleicht sollte ich besser die eine Bitte aus dem das Vaterunser anfügen, wo es heißt „und erlöse uns von dem Bösen!“ Also: Befreie uns von dem, was uns bedrückt und zerstört. Halt es uns vom Hals.

Ich versuche, das einmal. Und bin gespannt, was passiert: Ob der Zwischenrufer wohl verstummt?

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SWR2 Wort zum Tag

08JAN2024
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Es ist noch nicht einmal Halbzeit. Der christliche Weihnachtsfestkreis dauert 40 Tage. Heute ist also erst der fünfzehnte Tag. Und doch fühlt sich dieser Montag wahrscheinlich so an, als wäre das schon der Schlusspfiff für Weihnachten: Die Lichter werden abmontiert – die Bäume verschwinden. Alles sozusagen wieder „im Normalbetrieb“.

Wie gut, dass da Krippen in vielen Kirchen noch weiter sichtbar sind, bis zum Ende der Weihnachtszeit – bis zum 2. Februar. Warum ich mich für Krippen so begeistere? Sie veranschaulichen Geschichten. Geschichten, die mein Leben berühren und erhellen.
Manche Krippen zeigen, wie es weitergegangen ist nach jener Heiligen Nacht.
Wie Joseph und Maria mit dem Kind auf dem Esel nach Ägypten aufbrechen.
Sie fliehen vor den Gewalttaten des König Herodes.

In der Wallfahrtskirche im Weggental bei Rottenburg steht so eine Krippe. Der schwäbische Mundartdichter Josef Eberle – alias Sebastian Blau – hat auf diese Krippe ein Gedicht geschrieben.* Darin ruft er dem Jesuskind auf der Flucht mit seinen Eltern zu: „Komm wieder xsond ond lääbig – Herodes lebt et ewig.“ Auf Hochdeutsch: „Komm wieder - gesund und lebendig! Herodes lebt nicht ewig.“

Ein wunderbarer Reise- und Fluchtsegen ist das! Die Zeit der Flucht und des sich Versteckens wird einmal ein Ende haben. Du kannst dann Heimkehren. Auch Tyrannen leben nicht ewig.

Josef Eberle hat das genau so selber erlebt - und überlebt. Als er von den Nationalsozialisten als Rundfunkjournalist in Stuttgart entlassen und verfolgt wurde, da konnte er bei der jüdischen Familie seiner Frau Else Lemberger in Rexingen Unterschlupf finden. Später mussten sich beide bis zum Kriegsende auf dem Speicher eines Bahnhofs in Stuttgart verstecken. Nach Kriegsende konnte er dann wieder als Journalist arbeiten - als Mitherausgeber der „Stuttgarter Zeitung“.

Was Josef Eberle dem Jesuskind auf die Flucht zuruft, ist mir purer Weihnachtstrost: „Komm wieder xsond ond lääbig – Herodes lebt et ewig.“ Auch in großen Nöten – liegt ein offener Ausgang. Mit der Aussicht auf Freiheit und Frieden und Heimkehr. So steht es im Matthäusevangelium: Ein Kind kommt durch. Und genau das ist die frohe Botschaft dieser Krippenszene: Auch du kannst durchkommen. Gesund und lebendig.
Du und so viele, die in unseren Zeiten und an diesen Zeiten schier gar verzweifeln. Mit dieser Hoffnung gehe ich weiter ins neue Jahr.

* Sebastian Blau, s´ Weggetaler Kripple

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SWR2 Wort zum Tag

29NOV2023
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Wenn jemand einen Sieg errungen hat, sagt man im Deutschen manchmal auch: „Er hat den Sieg davongetragen.“ Der österreichisch–israelische Schriftsteller Elazar Benyoëtz ist ein Sprachkünstler. Er fasziniert mich mit seiner Lyrik schon lange. Worte wie diese – „Er trug den Sieg davon“ – bürstet er gegen den Strich. Aus „Er trug den Sieg davon“ wird bei ihm »Alle Siege werden davon getragen.«*
Davongetragen, weggetragen? Und wohin bitte?

Beschädigen Siege womöglich das Miteinander?  In aller Regel sieht man ja glückliche Sieger und enttäuschte Verlierer. Sieger haben es leicht. Verlierer tragen schwer an einer Niederlage. So die landläufige Meinung. Elazar Benyoëtz hinterfragt diese Sichtweise: Sind die Sieger auch die Gewinner?

Zweifel daran kommen bei mir schon im Kinderzimmer auf: Mein Enkel ist bei Spielen gerne der Sieger. Ich helfe ihm dabei. Doch er spürt offenbar auch: Das ist nicht gut, wenn der Opa andauernd verliert. Darum tut er manchmal trickreich sogar einiges dafür, dass auch mal der Opa der Sieger ist.

»Alle Siege werden davongetragen«
Für Elazar Benyoëtz ist das eine Lebensweisheit, die mit eigenen Erfahrungen zu tun hat. 1937 in Wien geboren sind seine Eltern mit ihm noch vor Kriegsbeginn nach Palästina geflohen. Er ist so dem „Sieg Heil!“ der Nationalsozialisten entkommen. Kriege hat er später auch in Israel erlebt.

Im Schatten des Ukraine Krieges wurde er im vergangenen Jahr gefragt, was ihm die Schrecken von Krieg und Vertreibung sagen. Benyoëtz hat aphoristisch geantwortet:
„Kriege sind Versäumnisse des Nachkriegs.  ... in der Tat gibt es nur Kriegs- und Nachkriegszeiten - Frieden gibt es nur dann, wenn die Menschen nicht bloß gegen den Krieg, sondern auch gegen das Siegen sind.“** Für mich hört sich diese Lebensweisheit an wie eine zentrale Botschaft von Jesus:
Wer sich gegen das Siegen stellt, wer verlieren – also loslassen und unterliegen kann –, der kann wirkliches Leben gewinnen. Ich frage mich: Wie könnte dieser Umgang mit Siegen und Niederlagen zu einem Gewinn für unser Leben und unsere Kultur werden?! Auf den Kriegsfeldern dieser Tage und auch in persönlichen Streitereien?! Benyoëtz Aphorismus ermutigt zu einer Abkehr von Siegesbilanzen: Denn da hat er wohl recht: »Alle Siege werden« – zuletzt –  »davongetragen.«

* Elazar Benyoëtz, Alle Siege werden davongetragen, München 1998
** Interview Deutsche Welle – 24.3.2022
 

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