SWR2 Wort zum Tag

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10JAN2024
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Es gibt Komplimente, die lassen mich erbleichen. Meine Mutter macht mir regelmäßig so ein Kompliment! Mehrfach am Tag sagt sie: „Danke, dass du gekommen bist. Danke, dass du so weit gefahren bist.“ Und dann folgt dieses Kompliment: „Deine Geduld möchte ich haben - und Rothschilds Geld.“

Sie will mir damit Gutes sagen, aber es läuft mir jedes Mal kalt den Rücken runter. Meine Mutter ist 100 Jahre alt, „nicht mehr Deutschlands Jüngste“, wie sie sagt. Was da aus ihr rausplatzt, wohnt schon so lange in ihr. Es ist ihr in der Kindheit und Jugend eingetrichtert worden und in Fleisch und Blut übergegangen. Sie sagt das ohne böse Absichten - bis heute. Und transportiert mit diesem scheinbar lockeren Spruch das grässliche Vorurteil vom reichen Juden. Ein Vorurteil, das immer wieder Neid und Gier geweckt hat.

Ich will sie nicht tadeln oder belehren. Das wäre auch sinnlos. Doch es erschüttert mich immer wieder. Ich frage mich: Wie tief sitzen solche Zerrbilder und Feindbilder nicht nur in Hochbetagten, sondern auch in mir?

Der Schriftsteller Kurt Oesterle hat unlängst einmal formuliert: Jede und jeder soll ihr und sein eigener Antisemitismusbeauftragter werden.* Dieser Gedanke leuchtet mir ein. Es gibt abgründige Dinge und Vorstellungen in uns – da können und sollen wir die Verantwortung nicht auf politische Instanzen oder Schulen abschieben. Wir müssen selber daran arbeiten. Antisemitismus kann man nicht durch Verlautbarungen oder Verbote aus der Welt schaffen. Jede und jeder ist selber gefragt. Da geht es um Herzensbildung.

Für mich geschieht das zum Beispiel, wenn ich im sogenannten „Alten Testament“ lese - der jüdischen Bibel. Wenn ich mich dabei von jüdischen Deutungen inspirieren lasse, entdecke ich, wie jüdische Spiritualität meinen Glauben bereichert.
Was ich da lieb gewinne, was mir da zu Herzen geht, das vertreibt in mir alte Muster und Zerrbilder – von einer angeblich gnadenlosen und elitären Gesetzesreligion, die von Zwang und Vergeltung geprägt sei. Was für ein Unsinn!

Gebete und Geschichten aus der jüdischen Bibel sind es, die mir die Schönheit Gottes erschließen helfen und den Juden Jesus in neuem Licht erscheinen lassen.
An Kirchengebäuden sehe ich jetzt da und dort Banner mit dem Schriftzug „Nie wieder ist JETZT!“ Das macht mir Mut. Ich will nicht weggucken. Wo sich Judenfeindschaft wieder meldet – dagegen muss ich aufstehen und protestieren. Das ist mir eine Herzenssache.

* Kurt Oesterle, Eine Stunde ein Jude - Geschichten gegen Antisemitismus

https://www.kirche-im-swr.de/?m=39109
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