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SWR4 Sonntags-/Feiertagsgedanken

14SEP2025
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Wenn ich aus dem Haus gehe, dann habe ich immer drei Dinge dabei:  Handy. Schlüsselbund und Geldbeutel. Ohne die geht überhaupt nichts. Wenn eins davon nur fehlt, dann fehlt mir etwas. Denn ohne Handy kann ich niemanden erreichen und niemand mich und die vielen Möglichkeiten, die mir das Handy sonst noch bietet, sind auch nicht möglich. Türen, die ich öffnen will, bleiben ohne meine Schlüssel verschlossen. Und fehlt das nötige Kleingeld geht trotz anderer Bezahlmöglichkeiten vieles noch immer nicht.

Seit einiger Zeit habe ich noch etwas dabei. Auf den ersten Blick passt es gar nicht so recht zum Handy, dem Schlüsselbund und Geldbeutel. Und ich staune über mich selbst, wieso es irgendwie seit kurzem dazugehört. Es ist ein kleines Holzkreuz. Gerade mal so groß, dass es in meine Hosentasche passt. Es ist ein Unikat. Seine Holzmaserung ist ganz besonders und mittendrin in meinem Kreuz ist ein kleines dunkles Astloch. Gefertigt haben es junge Menschen mit körperlichen und seelischen Beeinträchtigungen. Sie leben in einer Einrichtung, die sie auf ihrem Lebensweg individuell begleitet und fördert. Im Krankenhaus in dem ich als Seelsorger arbeite, verschenken wir diese kleinen Kreuze immer wieder an Patientinnen und Patienten.

Auf die Idee das Kreuz in der Hosentasche mit mir herumzutragen hat mich ein Patient gebracht. Ins Gespräch vertieft liefen wir kürzlich durch den Wald, der an der Klinik angrenzt. Plötzlich blieb der Mann stehen und holte sein kleines Kreuz aus der Hosentasche und sagte zu mir: Das Kreuz ist für mich etwas zum Festhalten. Es war ein ganz besonderer Moment. Wir schwiegen kurz und schauten uns an. Ich dachte mir, der Mann weiß, wovon er spricht. Von all den Kreuzen in seinem Leben hat er mir schon viel erzählt. Den Abgründen und Krisen, die er durchleben musste. Wo es keinen Halt für ihn gab. Nichts zum Festhalten. Noch nicht einmal einen Strohhalm. Bis er das Kreuz fand.

 

Das Kreuz ist etwas zum Festhalten. Was mir der Patient gesagt hat, beschäftigt mich am heutigen Sonntag. Denn katholische Christen feiern in ihren Gottesdiensten das Fest Kreuzerhöhung. Es reicht bis ins 4. Jahrhundert zurück. Vielleicht ist es noch älter als das Weihnachtsfest. Damals entwickelte sich das Christentum von einer verfolgten hin zu einer tolerierten und sogar privilegierten Religion. Kaiser Konstantin wollte es so. Er ließ in Jerusalem, am Ort der Hinrichtung Jesu, einen großen Kirchenkomplex errichten. Seine Einweihung fand am 13. September 335 statt. Am darauffolgenden 14. September wurde das Kreuz Jesu, das Konstantins Mutter Helena glaubte gefunden zu haben, an einem erhöhten Platz aufgestellt. So konnte es von den vielen Gläubigen gesehen und verehrt werden.

Das Kreuz verehren. Ein seltsames Ritual ist das. Bis heute. Denn für die Römer war das Kreuz ein Galgen, um Verräter und Verbrecher brutal hinzurichten. Für die von ihnen eingenommen und besetzen Völker war es Ausdruck römischer Gewaltherrschaft und Brutalität. Eigentlich ist das Kreuz nichts zum Herzeigen. Und schon gar nichts zum Verehren. Erinnert es doch an eine Niederlage. An diesen Jesus, der gescheitert und ganz unten angekommen ist.  Und doch ist es Erkennungszeichen der Christen geblieben.

Das Kreuz steht bis heute dort, wo Lebenspläne durchkreuzt werden. Aber auch dort, wo Menschen über Leichen gehen. Dort wo wir fragen und an kein Ende kommen: Warum ich? Warum er? Warum sie? Warum jetzt? Da, wo es einem das Herz zerreißt, wo es zum Heulen ist, dort steht das Kreuz.

Das Kreuz führt Menschen aber auch zusammen. Denn dort, wo alles zum Himmel schreit, können wir Menschen über uns hinauswachsen. Wir werden solidarisch. Wir umarmen einander und hören zu. Tränen dürfen dann sein. Und miteinander schweigen wiegt dann vielleicht mehr als noch so viele gut gemeinte Worte. Bleiben und nicht weglaufen, darauf kommt es dann an.

Wir dürfen uns von den vielen Kreuzen im Leben nicht abstumpfen und entmutigen lassen. Denn nicht alles muss so bleiben wie es ist. Wir können den Kreuzen dieser Welt eines entgegensetzen: Ganz viel Liebe. Dieser Jesus hat es vorgemacht. Bis ans Kreuz. Ich nehme das kleine Kreuz mit. In der Hosentasche bei den Schlüsseln, dem Handy und dem Kleingeld. Auch ich halte mich daran fest. Wie Jesus an seinem Vater im Himmel. Dem hat er vertraut bis in den Tod.

Wenn ich mein Kreuz anfasse, sehe ich so viele Menschen vor mir. Die die das Kreuz hergestellt haben. All die Menschen, die ihre Kreuze tragen. Im Hospiz und auf der Intensivstation. Irgendwo. Nie namenlos. Im Krieg und auf der Flucht. Die Gesichter der Kinder, die längst nicht mehr lachen können. Die Bilder auf meinem Handy von den Menschen in den Katastrophengebieten. In Afghanistan im Erdbebengebiet. Bei den Sturzfluten und Überschwemmungen im Himalaya. Das Kreuz ist etwas zum Festhalten. Es schenkt Hoffnung. Der Mann hat recht.

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SWR4 Sonntags-/Feiertagsgedanken

22JUN2025
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Kaum hatten wir unsere Ferienwohnung verlassen, kam eine E-Mail in mein Postfach. Zu einer Umfrage wurde ich eingeladen. Ob und wie gut es mir und meiner Familie gefallen hat. Wie der Blick aus dem Fenster war, wie störend der Lärm auf der Straße davor und wie sauber die Wohnung bei der Ankunft. Das und noch viel mehr wurde ich gefragt. Die Einladung, ein Häkchen zu setzen, einen Smiley anzuklicken, oder eine Bewertung auf einer Skala von 0 bis 10 abzugeben beginnt immer so: Wir würden uns freuen, wenn Sie sich an unserer kurzen Umfrage beteiligen, denn unser Ziel ist es noch besser für sie zu werden.

Meinungsumfragen zu allem Möglichen und in allen Bereichen begegnen uns auf Schritt und Tritt. Nach dem Autocheck in der Werkstatt werde ich befragt, ob ich wiederkomme. Wie zufrieden ich mit dem Service war, oder ob ich Bekannten empfehlen würde ihr Auto auch in diese Werkstatt zur Reparatur zu bringen. Mit der berühmten Sonntagsfrage werden seit 1997 Sonntag für Sonntag 1000 repräsentativ ausgewählte Menschen nach der aktuellen politischen Stimmung in Deutschland befragt. Die zentrale Frage ist immer gleich: Welche Partei würden Sie wählen, wenn am kommenden Sonntag Bundestagswahl wäre?

Im katholischen Gottesdienst heute wird eine Geschichte vorgelesen in der auch Jesus einmal so eine Art Umfrage gestartet hat. Zunächst geht sie an die Jünger. Für wen halten die Leute mich? will er von ihnen wissen. Jesus scheint daran interessiert zu sein, welchen Eindruck die Menschen von ihm haben. Was sie von ihm halten. Was die Anderen über ihn denken. Die Antworten seiner engsten Freunde zeigen zunächst einmal, wie unterschiedlich er wahrgenommen wird. Jeder und jede hatte ein anderes Bild von ihm. Die einen vergleichen ihn mit Johannes dem Täufer, der so wie er durch die Lande zog. Seine Botschaft war aber so ganz anders. Johannes drohte den Leuten mit Gericht und Unheil. Wieder andere meinen, er trete so auf wie der Prophet Elija. Der war radikal. Denn Elija und all die anderen Propheten bekämpften wortgewaltig und angsteinflößend Götzendienst und soziale Ungerechtigkeit.

Doch die Meinung Fremder über ihn, die genügte Jesus nicht. Seine zweite Frage, hat es deshalb in sich: Ihr aber, für wen haltet ihr mich? Wer bin ich für euch ganz persönlich? Darum geht es ihm. Ganz persönlich will er das wissen, von denen die ihm nachfolgen. Da gibt es kein ausweichen mehr. Kein Verstecken vor der Meinung anderer. Selbst gilt es jetzt Farbe zu bekennen.

 

Die Antwort des Petrus lässt nicht lange auf sich warten. Fast wie eine Liebeserklärung, aber auch wie auswendig gelernt sagt er:  „Du bist der Messias. Du bist mein Retter, auf den ich so sehr gewartet habe.“ Aber dieser Jesus zeigt sich so ganz anders als all die Erwartungen, die die Menschen damals mit einem Messias verbinden. Er proklamiert nicht den politischen Umsturz mit Macht und Gewalt. Die Vertreibung der Römer, die das Land besetzt halten ist nicht sein Ziel. Gott und den Nächsten lieben, wie sich selbst. Das ist sein Herzensanliegen. Es kommt nicht gut an bei den Frommen seiner Zeit. Und so spricht er nach dem Liebesbekenntnis des Petrus von seinem Leidensweg und nahen Tod am Kreuz. Schwere Kost für seine  Jünger.

Der Schweizer Schriftsteller Max Frisch war fasziniert von biblischen Texten und von der Forderung, sich kein Bild von Gott zu machen. So dachte er darüber nach, was es eigentlich bedeutet, sich ein Bild von anderen Menschen zu machen. Am ausführlichsten kam er in einem Tagebucheintrag aus dem Jahr 1946 mit der Überschrift „Du sollst Dir kein Bildnis machen“ darauf zurück:

Es ist bemerkenswert, dass wir gerade von dem Menschen, den wir lieben, am mindesten aussagen können, wie er sei. Wir lieben ihn einfach. Eben darin besteht das Wunderbare an der Liebe, dass sie uns in der Schwebe des Lebendigen hält, in der Bereitschaft, einem Menschen zu folgen in allen seinen möglichen Entfaltungen. … Die Liebe befreit aus jeglichem Bild. Das ist das eigentlich Spannende, dass wir mit den Menschen, die wir lieben, nicht fertigwerden; weil wir sie lieben, solang wir sie lieben. Unsere Meinung, dass wir andere Menschen kennen, ist das Ende der Liebe.

Das mussten auch Jesu Jüngerinnen und Jünger lernen. Ihr Messias war so ganz anders. Ging einen ganz anderen Weg als von ihnen erwartet. Dem Weg der Liebe blieb er treu. Bis ans Kreuz. Verhaftet wurde er, gewehrt hat er sich nicht. Und seinen Gott suchte er selbst noch in der äußersten Not.

Und eigentlich gilt es bis heute. Gott übersteigt mein Denken. Erspart mir nicht Krankheit und Leid. Lässt das Unbegreifliche zu. Unsere Meinung, dass wir andere Menschen kennen, ist das Ende der Liebe, sagt der Schrifsteller Max Frisch über die Liebe zwischen uns Menschen. Das gilt genauso auch für Gott: Wenn ich glaube Gott zu kennen, dann wäre es das Ende meines Glaubens.

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SWR4 Sonntags-/Feiertagsgedanken

13APR2025
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Heute, am Palmsonntag, führt uns die Geschichte aus der Bibel, die im katholischen Gottesdienst vorgelesen wird, mitten hinein in die Stadt Jerusalem. Und dort ist ganz schön was los. Unzählige Menschen kommen zusammen um ein ausgelassenes Fest zu feiern. Es soll erinnern an die Befreiung des Volkes Israel aus der Sklaverei damals in Ägypten.

Wie ein Lauffeuer verbreitet sich in der Stadt, dass auch Jesus unter den Gästen sein wird. Von ihm wird Unglaubliches erzählt und die Gerüchteküche über ihn brodelt. Er sei so ganz anders als all die jüdischen Gelehrten. In seiner Nähe geschehe Außergewöhnliches, sagen die Menschen auf den Straßen von Jerusalem.

Wie in einem Drehbuch beschreibt der Text der Bibel den Auftritt von Jesus. Er wird begleitet von seinen Freunden, die buchstäblich alles stehen und liegen ließen um ihm zu folgen. Es sind einfache Leute: Fischer. Tagelöhner. Nicht gebildet und ganz einfach gekleidet. Unter Jubel reitet ihr Held nun bescheiden auf einem Esel durch die Straßen der Stadt.

Die Menge legt Kleider und Tücher auf die staubige Straße. Wie einen roten Teppich. Mit Palmzweigen in den Händen winken sie Jesus zu.  Und einige sind davon überzeugt: Er ist unser Retter. Der Messias. Denn schon in der Bibel steht, so erinnert man sich, dass der herbeigesehnte Erlöser einmal auf einem Esel in die Stadt Jerusalem einziehen wird.

Was für ein Kontrast zu den damaligen Herrschern Roms. Denn diese liebten pompöse Auftritte und Einzüge hoch zu Ross, und die kannten die Bewohner von Jerusalem zu Genüge. Auch der römische Stadthalter Pontius Pilatus ließ sich von Behörden und der jüdischen Obrigkeit bejubeln und huldigen. Für die römischen Besatzer dürfte der Empfang Jesu mit Palmzweigen und seinem Ritt auf einem Esel einer Provokation gleichgekommen sein.

 

Bis heute lieben die Mächtigen dieser Welt pompöse Auftritte. Das ganz große Spektakel. Minutiös wird alles inszeniert. Nichts bleibt dem Zufall überlassen. Ein Wladimir Putin zum Beispiel. Wir kennen die Bilder. Er mit nacktem Oberkörper kraftstrotzend auf einem Pferd. Oder mit ernster Miene emotionslos durch die endlosen und prunkvollen Flure des Kremls schreitend. Die Türen öffnen sich vor ihm. Flankiert von herausgeputzten Uniformierten mit goldenen Schwertern.  Und dann Bilder, die zeigen, wie er seine Rede mit großem Abstand zu seinen Zuhörern hält und nichts dem Zufall überlässt. Auch ein Donald Trump liebt seine narzisstischen Auftritte.  Immer wieder schiebt er Menschen beiseite, die ihm im Wege stehen, damit er auf jeden Fall gesehen wird. Kürzlich erst wurde medial verbreitet, wie er den Präsidenten der Ukraine zurechtweist, vor laufender Kamera. Inszeniert bis ins Detail.

Jesus, der getragen von einem Esel in die Stadt Jerusalem kommt, geht einen anderen Weg als all die Despoten. In dieser Woche erinnern wir uns an seine letzten Lebenstage bis zum gewaltsamen Tod am Kreuz. Wie im Brennglas bündeln sie noch einmal all das was ihm wichtig ist. Er wird sich mit seinen Freunden zusammensetzen. So wie er es immer wieder getan hat. Besonders mit denen, die niemand einlädt. Er wird etwas tun was nur Sklaven tun. Ihnen die Füße waschen. Sie werden zusammen essen und ihre Freundschaft mit Gott und auch untereinander feiern, und er wird von seinem nahen Tod sprechen. Auch Judas, sein Verräter wird mit am Tisch sitzen. Die Bibel erzählt von seiner Todesangst in der Nacht vor seiner Hinrichtung und seinem Beten, selbst dann noch, als er sich von Gott verlassen fühlt. Am nächsten Tag sind die Jubelrufe verstummt. Erst einzelne, dann immer mehr werden den römischen Stadthalter Pontius Pilatus auffordern, ihn zu kreuzigen. Doch so schwach er auf dem Esel daherkommt, so stark ist sein Glaube, dass Gott ihn halten wird. Gott ist für ihn wie ein Vater.

Immer wieder treten Menschen in seine Nachfolge. Sie nehmen es buchstäblich mit den Despoten und Narzissten ihrer Zeit auf. Ohne Waffen. Nicht kraftstrotzend. Scheinbar schwach und klein kommen sie daher, doch ihr Handeln und Sprechen ist kraftvoll und mutig. Sie bleiben unvergessen. So kürzlich die Bischöfin Mariann Edgar Budde. Sie empfing Donald Trump zum Gottesdienst anlässlich seiner Amtseinführung in der Kathedrale von Washington. Sie hatte ihm etwas zu sagen angesichts all seiner menschenverachtenden Pläne: Im Namen unseres Gottes bitte ich Sie um Erbarmen für die Menschen in unserem Land, die jetzt Angst haben, sagte sie und nannte sie beim Namen. Es gebe schwule, lesbische und transgeschlechtliche Kinder in Familien aller politischen Parteien, von denen einige um ihr Leben fürchteten. Und auch Putzkräfte, Pfleger, Tellerwäscherinnen und Erntekräfte seien oft keine Staatsbürger. Die Mehrheit all dieser Einwanderer zahle aber Steuern. Sie seien gute Nachbarn und auch nicht kriminell. Massiv attackiert wurde daraufhin Frau Budde von Trump und seinen fanatischen Fans. Es hat bis heute Konsequenzen dem Mann auf dem Esel zu folgen. Der brasilianische Bischof Dom Helder Camara hat das einmal so im Gebet ausgesprochen:

 

Jesus, lass mich dein Esel sein, auf dem Du zu den Menschen kommst. Gib mir die Genügsamkeit und Eselsgeduld, die Kraft zum Tragen und auch die Sturheit, die ich brauche, um Träger deiner Liebe in einer Welt des Hasses zu sein.

Lass mich dein Esel sein, Christus, dass ich dich zu anderen trage.

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SWR4 Sonntags-/Feiertagsgedanken

19JAN2025
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Maria hat mir geholfen. Ein kleines Schild mit goldenen Buchstaben hat jemand an einer Wand im Wallfahrtkloster im saarländischen Blieskastel angebracht. Und es ist nicht das einzige Schild. Da berichten Menschen von ihren wundersamen Heilungen. Manchmal ganz konkret mit Namen und Datumsangabe. Ihre Gebete wurden offensichtlich erhört. Maria, Heilige, Engel und Gott selbst sind ihre Retter in der Not, bei denen sich die Menschen bedanken. Wie gut und wieviel Gottvertrauen, denke ich mir. Gleichzeitig frage ich mich: Wie viele rufen nach Hilfe und erhalten keine Antworten. Sie schreien buchstäblich in die Nacht hinein und hören nur ihr eigenes Echo, das an der Wand zurückhalt. Denn ihre Schmerzen bleiben. Wie viele werden enttäuscht trotz ihres Glaubens an Gott, der doch alles gut machen soll. Wie viele verzweifeln an ihrem Gott, dem sie sich doch von Kindheit an mit ihren großen und kleinen Sorgen anvertraut haben.

Im Krankenhaus in dem ich als Seelsorger arbeite, stehen im Fürbittbuch am Eingang der Kapelle oft ganz andere Gebete. Unerhörte Gebete sind es. Nicht mit Goldbuchstaben, eher mit zittrigen Händen sind sie geschrieben.  Da stehen verzweifelte Hilferufe im Leid einer Krankheit, die bleibt.  Stammelnde Gebete nach einem Schicksalsschlag, der von jetzt auf nachher alles verändert hat. Und Schreie zum Himmel für die Liebsten.

Heute wird im katholischen Sonntagsgottesdienst in einem Text aus der Bibel berichtet, wie Maria Jesus, ihren Sohn, um etwas bittet und bei ihm nur auf blanke Ablehnung stößt. Ihre Bitte bleibt zunächst unerhört. Es ist die Geschichte von der Hochzeit in Kana. Und die ist schnell erzählt. Zur Zeit Jesu war eine Hochzeit DAS Fest. Das ganze Dorf kommt zusammen. Jeder und jede, die Braut oder Bräutigam kennen, sind dabei. Auch Jesus, seine Jünger und Maria, seine Mutter gehören zu den Gästen. Mehrere Tage wird gefeiert. Gegessen und getrunken. Getanzt und erzählt. Doch da geschieht etwas, was auf einer Hochzeit einfach nicht vorkommen darf. Der Wein geht aus. Das geht überhaupt nicht. Eine Hochzeit ohne Wein. Undenkbar ist das. Und mehr als peinlich für Braut und Bräutigam. Maria merkt das sofort. Hilfesuchend richtet sie ihre Bitte an den Sohn. Er ist ihre letzte Rettung. So oft hat er doch schon in der Not geholfen. Leise flüstert sie ihm ins Ohr: Der Wein ist ausgegangen. Kein Tropfen ist mehr da. Bitte hilf den Gastgebern. Doch der lässt sie links liegen und wendet sich von ihr ab. Nur ein abfälliges Was willst du von mir? hat er für sie übrig.

 

 

Die Geschichte von der Hochzeit erzählt auch von den Gebeten vieler Menschen. Von all den Bittgebeten, die nicht erhört werden. Von all den Enttäuschungen nicht angehört zu werden. Sie erzählt von der verzweifelten Suche nach jemandem der mir in meiner Not hilft. Sie erzählt von all den Menschen, die nur das Beste für andere wollen.

Maria hat geholfen, steht auf dem Schild beim Kloster in Blieskastel. In Kana damals wird ihr nicht geholfen. Sie erlebt nur Abweisung. Doch sie bleibt gelassen und vertraut umso mehr. Sie geht zu den Dienern und Bediensteten und meint nur: Was er euch sagt, das tut. Maria erlebt bei ihrem Sohn immer wieder, dass sein Sprechen von Gott so ganz anders ist als die Frommen ihrer Zeit es lehren. Er betet wie ein Kind. Er hat ein grenzenloses Vertrauen in seinen Vater im Himmel, wie er immer wieder sagt. Selbst in der Aussichtslosigkeit seines gewaltsamen Todes am Kreuz bleibt er dem treu und vertraut sich seinem Gott an. Mein Gott warum hast Du mich verlassen ist sein Schrei in die Nacht hinein. Bis heute wird so im Gebet das Leid hinausgeschrien. Und bis heute fügen Menschen an: In deine Hände lege ich mein Leben. Dir allein vertraue ich mich an.

Die Geschichte von der Hochzeit in Kana nimmt einen guten Ausgang. Sechs leere Steinkrüge werden herbeigebracht und mit Wasser gefüllt.  Ein scheinbar sinnloses Unterfangen. All die Peinlichkeit mit dem Wein, der ausgegangen ist, wird noch einmal in den mit Wasser gefüllten Steinkrügen vor Augen geführt. So lässt sich keine Hochzeit feiern. Doch vielleicht kennen sie ja den Ausgang der Hochzeitsgeschichte. Das Wunder geschieht. Beim Schöpfen und Trinken reiben sich alle die Augen. Aus dem Wasser ist bester Wein geworden.

Die Geschichte von der Hochzeit in Kana. Lesen wir sie nicht als historischen Bericht von vor 2000 Jahren. In ihr wird nämlich erzählt, was Glaube bedeutet. Maria macht es vor. Und bis heute all die Menschen, die trotz ihrer Gebete, die nicht in Erfüllung gehen, vertrauen.

Vielleicht braucht es nur das. Das Eingeständnis meiner Leere und Ohnmacht. Das grenzenlose Vertrauen, dennoch in Gott getragen zu sein. Mein ehrliches Gebet in der Verzweiflung. Mein Festhalten an Gott, trotz seiner Unbegreiflichkeit, wie der Theologe Karl Rahner meinte. Gebete, nicht in goldenen Buchstaben geschrieben. Eher mit zittriger Hand.

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SWR4 Sonntags-/Feiertagsgedanken

01DEZ2024
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Komm, Herr Jesus, sei unser Gast und segne, was Du uns bescheret hast“, so haben meine Eltern mit mir vor dem Essen am Küchentisch gebetet. So richtig verstanden habe ich das Gebet damals nicht, aber es gehörte einfach zum Essen dazu. Ich kannte diesen Jesus vom Religionsunterricht und von der Kirche. Mit dicken Buntstiften habe ich Bilder von ihm gemalt. Es waren für mich Geschichten aus der Vergangenheit, damals, vor 2000 Jahren. Dass er wirklich kommen könnte, darüber habe ich nicht groß nachgedacht.

Dieses Komm, Herr Jesus war für die Christen im ersten Jahrhundert ein ganz besonderes Gebet. Unerschütterlich glaubten sie, dass ihr Herr Jesus praktisch jeden Moment in Macht und Herrlichkeit wiederkommen könnte. Wie ein unerwarteter Gast. Komm, Herr Jesus. Das war ein Seufzer voller Sehnsucht und Hoffnung. Jesus würde es endlich richten. All der Brutalität und Zerstörung könnte er allein ein Ende setzen.  Denn die Zeiten waren alles andere als rosig. Das Land war von den Römern besetzt. Jerusalem war zerstört und lag in Schutt und Asche. Die vielen Kranken und Bettler auf der Straße zeigten, wie sehr das Land von Armut und sozialen Spannungen gezeichnet war. Inmitten all der Sorgen und Angst war ihr Gebet umso stärker: Komm, Herr Jesus.

Im Text aus der Bibel, der heute im katholischen Gottesdienst zum ersten Advent vorgelesen wird, berichtet der Evangelist Lukas wie erschüttert die Menschen damals waren. Mit drastischen Bildern beschreibt er eine Weltuntergangsstimmung, die einem Angst und Schrecken einjagt. Da tobt und donnert das Meer und die Sonne, der Mond und die Sterne werden erschüttert. Die Völker der Erde sind all dem hilflos ausgeliefert und vergehen vor Angst. Widersprüchlicher als mit solchen Texten kann man die Adventszeit nicht beginnen. Einerseits hören wir verstörende Schreckensbilder, andererseits soll doch jetzt eine Zeit der Stille beginnen. Eine Zeit der Besinnung und des Friedens. Eine Vorbereitungszeit auf die Geburt Jesu im Stall von Bethlehem

Vielen Menschen geht es heute, am ersten Advent, ähnlich wie den Menschen zu Jesu Lebzeiten. Tagtäglich sehen wir Bilder der Zerstörung. Menschen mit Tränen in den Augen in den Nachrichten und Zeitungen. Irgendwo auf der Flucht. In Kellern und Bunkern, oder vor ihren zerbombten Häusern. Und auch uns hier in Europa geht es alles andere als gut. Ängste machen sich schon bei Kindern und Jugendlichen breit. Der Klimawandel kommt bis vor unsere Haustür. Fremdenhass ist wieder mittendrin in der Gesellschaft und die Gefahr eines Krieges beschäftigt uns. Gefühlt war es schon lange nicht mehr so dunkel in der Welt.

Kaum jemand betet heute noch Komm, Herr Jesus,sei unser Gast.

Und doch, so schrieb kürzlich der Publizist Heribert Prantl über diese letzten beiden Monate im Jahr: Es ist die Zeit der kleinen Lichter. Sie brennen auf den Gräbern an Allerheiligen, sie leuchten beim Martinszug, sie stecken dann auf dem Adventskranz und auf dem Weihnachtsbaum. Die kleinen Lichter stehen für die Hoffnung. Ihr Licht ist schwach und klein - aber es reicht wohl, um Ritzen im Gebäude der Geschichte kenntlich zu machen; es sind die Ritze, durch die Hoffnungsschimmer fallen. Das stimmt. Je länger und dunkler die Nächte werden, desto mehr Kerzen zünden wir an. Sie stehen dafür, etwas gegen die Dunkelheit zu tun. Davon erzählt auch ein Adventslied, das weder in der Bibel noch im Gesangbuch steht. Geschrieben hat es der jüdische Poet und Sänger Leonhard Cohen. Dass das Licht immer stärker ist als die Dunkelheit, daran lässt der Refrain seines Liedes keinen Zweifel, wenn er immer wieder singt: Da ist ein Riss, ein Riss in allem. Das ist der Spalt, durch den das Licht einfällt. Cohens Lied ist kein billiger Trost. Die Analyse der Zeit in seinem Liedtext ist geradezu nüchtern und niederschmetternd. Es beschreibt wie all die Kriege endlos weitergehen. Wie sich Gesetzlosigkeit Platz verschafft und wie Menschen, die töten ihre Gebete scheinheilig sprechen. Plärrend – so heißt es im Lied. In Cohens Lied heißt es aber auch an einer Stelle: Läute die Glocken, die noch läuten können. Es sind Glocken, die daran erinnern sollen, dass es da noch einen Riss gibt. Einen Spalt in allem, der dem Licht eine Chance gibt. Weil keine Finsternis so finster ist, dass nicht doch etwas Licht durchdringen könnte.

Komm, Herr Jesus, sei unser Gast. Das mir damals fremde Gebet am Küchentisch bleibt mir unvergessen. Jesus war da irgendwie auch noch da. Wie ein Gast. Unerwartet. Mitten im Alltag und seinen Zumutungen. Er hat dem Licht getraut. Seinem Vater im Himmel wie er sagte. Dort wo Jesus war, atmeten die Menschen auf. Hatten keine Angst. Fühlten sich wertgeschätzt.

Weihnachten ist vielleicht nur so ein kleiner Lichtblick. Ein Ritz. Ein Spalt. Ein kurzes Innehalten im Trubel der Welt. Und doch eine Ermutigung dem Licht zu trauen. Licht zu bringen. Dort wo Hass und Hetze sind. Dort wo Angst geschürt wird und Zukunftsängste sich breitmachen. Haben Sie ihre Adventskranzkerze schon angezündet? Wenn ich gleich die erste Kerze auf dem Kranz anzünde, dann möchte ich diesen kleinen Spalt nutzen, der sich damit auftut. Ich möchte dem Licht trauen.

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SWR4 Sonntags-/Feiertagsgedanken

22SEP2024
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Ganz schön aufgeregt war ich bei der Hochzeit meines Sohnes vor Tagen. Mit dem Vater der Braut hatte ich vereinbart, mit ihmzusammen etwas beim Fest zu sagen. Keine Rede sollte es werden. Kein Manuskript sollte es geben. Wir wollten ohne viel Pathos vor den Gästen miteinander ins Gespräch kommen. Erzählen, wie stolz wir auf unsere Kinder sind. Welche Erinnerungen wir haben, wenn wir sie so vor uns sehen. Alles mit ganz kleinen Anekdoten aus der Kindheit. Die Vorbereitung war einfach. Wie im Brennglas eingefangen erinnerte ich mich ganz schnell an Geschichten mit meinem Sohn. Die Bilder von damals wurden lebendig als sei das alles gestern noch gewesen.

Immer war er draußen. Oft bis es dunkel wurde. Mit seinen vielen Freunden. Wir lebten damals in einer ländlichen Region im Saarland. Der Garten um unser großes Haus war wie im Bilderbuch. Ein Spielplatz der besonderen Art. Da gab es einen Bach. Eine kleine Schlucht zum sich verstecken. Zwei Schafe auf einer Wiese. Und auf vielen Bäumen seine ganz große Leidenschaft, meist hoch oben hinter Ästen und Blättern versteckt. Die Baumhäuser. Uneinnehmbar für den Feind. Mit Brettern, Nägeln und Paletten errichtet. Nur über Hängeleitern zu erreichen. Dort konnte man schlafen, Hausaufgaben machen, essen und sich zurückziehen. Mein Sohn im Baumhaus. Das ist für mich das Bild seiner Kindheit.

Wir Menschen brauchen solche Geschichten, um uns zu beschreiben. Wir erzählen dann mit ganz einfachen Worten und Bildern, wer wir sind. Was uns begeistert. Wie wir uns und auch unsere Mitmenschen sehen. Solche Geschichten sagen viel mehr als viele Worte oder lange Biografien. Und das war auch bei der Hochzeit meines Sohnes so.

Heute wird im katholischen Gottesdienst eine Geschichte erzählt, die der Evangelist Markus über Jesus schreibt. Auch wenn uns aus dem Leben Jesu nichts weitergesagt worden wäre, als diese Stelle der Bibel, wir würden ganz schnell verstehen, wer dieser Jesus war und was er wollte. Die Geschichte ist schnell erzählt. Jesus hat sich einmal in die Mitte seiner Jünger gestellt. Da war ein kleines Kind. Das hat er in seine Arme genommen und nur gesagt. Schaut her. Vergesst nicht:  Wer von euch der Erste sein will, soll der Letzte von allen und der Diener aller sein. Das ist ein starkes Bild: Jesus und das kleine Kind. Im Kreis drumherum seine Jünger.

 

 

Jesus stellt ein kleines Kind in die Mitte und damit all die Vorstellungen seiner Jünger auf den Kopf. Ein Kind in der Mitte von Erwachsenen. Klein. Ohne Stimme. Schutzlos und wehrlos. Jesus nimmt es in seine Arme. Gibt ihm Sicherheit und Halt. Nimmt ihm die Angst. Ohne große Worte zeigt er, was ihm wichtig ist. Seine Botschaft ist klar. So sollt auch ihr euch verhalten!

Ich stelle mir vor, wie sich die Jünger vor Verwunderung die Augen reiben. Denn nur langsam begreifen sie, um was es diesem Mann aus Nazareth geht. Markus lässt seine Geschichte vom Kind auf dem Weg nach Jerusalem spielen. Dorthin ist Jesus mit seinen Freunden unterwegs. Dort im Zentrum der Macht aber wird er gehasst. Nicht wenige meinen, sein Sprechen über Gott sei unerträglich. So ganz anders als die übliche Lehre. Hier wird man ihn womöglich verhaften. Er ahnt jedenfalls nichts Gutes und versucht die kleine Schar seiner Jünger darauf vorzubereiten. Wenigstens die sollen doch begreifen, um was es ihm in Gottes Namen geht: Der Erste soll der Letzte sein. Buchstäblich Diener soll er werden. Groß ist eben nicht, wer reich ist, schöne Kleider hat und ein teures Auto fährt. Groß machen uns nicht gut bezahlte und hochangesehene Posten. Groß bin ich auch nicht, wenn alle mir zujubeln und mich bewundern. Groß bin ich nach Jesu Logik, wenn ich das Kleine und Schwache achte und nicht verachte. Groß bin ich, wenn mir meine Mitmenschen nicht egal sind. Wenn ich die kleinen Leute nicht vergesse. Die Kinder. Die Menschen auf der Flucht. Die Alten. Die Kranken und Einsamen. Sie in die Mitte stelle. Ihnen eine Stimme gebe.

Das Bild vom Kind ist tröstlich auch für mich selbst. Es gibt mir Kraft, wenn ich mich schwach fühle und darauf angewiesen bin, dass andere mich tragen und halten. Mich in den Arm nehmen. In Therapien geht es oft um unser inneres Kind. Um die heilenden Kräfte, die sich entfalten, wenn ich mich darauf einlasse. Auf meine Grenzen und Schwächen. Mein Angewiesensein auf die Liebe anderer Menschen. Erst wenn ich mein inneres Kind in seiner Schwäche und Hilfsbedürftigkeit akzeptiere und annehme, kann ich groß werden. Verantwortungsvoll und wertschätzend. Buchstäblich wachsen wie ein Baum.

Kleine Geschichten brauchen wir, die davon erzählen, wer wir sind und was uns am Herzen liegt. Sie tun gut, wenn wir sie erzählen. Und helfen uns dann so ganz langsam zu verstehen, was uns und unsere Mitmenschen so ganz besonders macht. So stark und so verletzlich. Kurt Marti, ein Schweizer Pfarrer hat einmal ganz einfach zusammengefasst, was die Botschaft Jesu war. Wie er mir einen Spiegel vorhält und von Gott so ganz anders spricht. Er bringt es auf den Punkt, wenn er schreibt: Mensch gerne groß. Gott gerne klein.  

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30JUN2024
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Meine Oma ist schon sehr lange tot. Unvergessen bleibt mir, dass ich um ihr Bett immer einen Bogen gemacht habe. Der Grund war ein großes Bild über ihrem Bett. Besonders bedrohlich war für mich seine Aufhängung. Mit Paketschnur an einem Haken befestigt ragte es schräg ins Zimmer hinein. So konnte man im Bett liegend darauf schauen. Immer in der Hoffnung, dass die Schnur nicht reißt und das Bild mit seinem schwarzen Rahmen einen im Bett erschlägt. Und doch schaute ich es mir immer wieder interessiert in sicherem Abstand an. So düster seine Darstellung und so gefährlich seine Aufhängung auch waren. Ich kannte die auf dem Bild dargestellte Geschichte vom Religionsunterricht. Von einem Mädchen, das schläft und totsterbenskrank ist.

Heute wird die Geschichte aus der Bibel im katholischen Gottesdienst vorgelesen. Dem Kind des Synagogenvorstehers Jairus, heißt es da, konnten weder Ärzte noch ein Medikament mehr helfen. Nur von Jesus erwartet Jairus noch Rettung. Buchstäblich auf den Knien fleht er ihn an und sagt unter Tränen: Mein Töchterlein liegt in den letzten Zügen. Komm, leg ihr die Hände auf, dass es wieder gesund wird. Die Geschichte erzählt, wie Jesus die Not und das Vertrauen des Jairus sieht und sich mit ihm auf den Weg macht. Doch es scheint alles zu spät zu sein, als Boten auf sie zukommen und die Todesnachricht überbringen. Jesus aber lässt sich nicht beirren. Trotz der ganzen Verwandtschaft, die inzwischen am Haus des Jairus eingetroffen ist und nur noch weinen kann. Seine Reaktion ist alles andere als einfühlsam: Warum macht ihr solchen Lärm?Das Kind ist nicht gestorben. Es schläft nur. Meint er und geht unbeeindruckt von all den Leuten ins Zimmer des Kindes. Nur Jairus, seine Frau und vier Jünger gehen mit.

Was dann geschieht, war auf dem Bild meiner Oma übergroß abgebildet. Jesus greift nach der Hand des Kindes im weißen Nachthemd. Wie tot liegt es auf dem Bett. Er sagt nur: Junge Frau, ich sage dir, steh auf! Und sie steht auf. Aus eigener Kraft findet sie wieder Boden unter den Füßen.

Immer wenn ich mir das Bild im Schlafzimmer meiner Oma aus sicherem Abstand angeschaut habe, sah ich, obwohl es überhaupt nicht dargestellt war, wie das Mädchen langsam wie in Zeitlupe aufsteht und quicklebendig vor Freude herumspringt.

Vom Töchterlein des Jairus erzählt die Bibel. Eigentlich ist das Mädchen kein Kind mehr. 12 Jahre ist sie schon und im damaligen Israel eine junge Frau. Bald könnte sie heiraten.

Für Jairus aber bleibt es sein Töchterlein. Sein ganzer Stolz. Und er ist ja auch nicht irgendwer. Jairus ist Vorsteher der Synagoge und steht in der Öffentlichkeit. Sein Kind muss so sein, wie eine Tochter eines Synagogenvorstehers zu sein hat. Fromm. Nicht aufmüpfig. Angepasst. Der Vater hat das Sagen. Wie oft werden die Eltern ihr gesagt haben, was sie darf und was nicht. Einen Skandal in der Familie kann man sich bei einem Vater in dieser Position nicht leisten. Die Folgen sind absehbar. Die junge Frau hat keine Kraft mehr, aufzustehen. Nur noch schlafen möchte sie. Schritte in eine Unabhängigkeit von den Eltern bleiben ihr verwehrt. Einmal ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen, kann sie vergessen. Die Tochter des Jairus bleibt in der Geschichte namenlos. Der Vater ist entscheidend und nicht sie. Viele Geschichten der Bibel berichten davon, wie Menschen, die klein gehalten werden, endlich aufstehen. Oft sind es die Frauen. Jesus richtet sie auf. Damit sie ihren eigenen Weg gehen. Aufstehen, mitten im Leben. In den Zwängen einer oft von Männern bestimmten religiösen Ordnung. Bis heute gibt es die. Im Haus des Jairus ist sie für Jesus nicht das Töchterlein, wenn er sagt: Junge Frau, steh auf.   

Obwohl mir das düstere Bild meiner Oma so viel Angst machte. Was darauf abgebildet war, ist eine Auferstehungsgeschichte. Mitten im Leben ereignet sie sich. Die Theologin Dorothee Sölle meint: Die Auferstehung ist längst schon vor dem Tod sichtbar. Jesus glaubte vor allem an ein Leben vor dem Tod. Für alle Menschen. Auferstehung bekommt so eine ganz neue Bedeutung. Es ist nicht etwas, was ich glauben muss, jenseits aller Erfahrung. Der einseitige Glaube an eine Auferstehung erst nach dem Tod führt schnell dazu zu vertrösten. Irgendwann und irgendwo wird schon alles gut werden. In der Geschichte von Jairus und seiner Tochter geht es um die Auferstehung, ganz konkret im Leben einer Zwölfjährigen. Denn eine namenlose und fast vergessene junge Frau, die im Schatten ihres Vaters wie tot ist, steht auf und geht ihren eigenen Weg.

Geschichten von Jairus und seiner Tochter gibt es bis heute. Wir können versuchen, den Kreislauf zu durchbrechen. Mit ganz einfachen Worten. Steh auf. Trau Dich. Geh deinen Weg. Aufrecht. Ich begleite dich. Diese Worte lassen leben. Mich selbst und meine Mitmenschen.

Mit den Worten der Dichterin Marie Luise Kaschnitz wünsche ich ihnen diese Erfahrung vom Aufstehen mitten im Leben:

Manchmal stehen wir auf, / stehen wir zur Auferstehung auf, / mitten am Tage, / mit unserem lebendigen Haar, / mit unserer atmenden Haut.

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SWR4 Sonntags-/Feiertagsgedanken

24MRZ2024
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Mit einem lebendigen Esel beginnt heute am Palmsonntag der Gottesdienst bei uns. Auf dem Marktplatz von Blieskastel im Saarland wird er auf seinen großen Auftritt warten. Bis zur Kirche wird er von den Kommunionkindern und ihren Eltern begleitet. Alle tragen bunte Palmsträuße. Mehr oder weniger geduldig wird der Esel mitgehen. Geführt vom Pfarrer an einer Leine. Seit dem 10. Jahrhundert gibt es diese Tradition. Die Pfarrer ritten am Palmsonntag auf einem Esel durch die Stadt zur Kirche. Sie spielten einfach nach, wie es Jesus damals erlebt hatte. Wie er begrüßt wurde von jubelnden Menschen auf den Straßen von Jerusalem. Bis zur Kirche war es weit und der Esel nicht selten störrisch. So mussten die Prozessionen öfters so lange anhalten, bis der Esel wieder bereit war weiterzugehen.

Irgendwann hatte man es satt mit den Launen des eigensinnigen Tiers. Die Lösung war ein sogenannter „Palmesel“ mitsamt einer Jesusfigur aus Holz. Auf Rädern montiert ging alles seinen geordneten Weg, ohne das ungebührlich störrische Verhalten eines Esels.

Nach altem Brauch wurde früher am Palmsonntagsmorgen so mancher Langschläfer mit den Worten „Du bist der Palmesel“ begrüßt. Das hatte seinen guten Grund. So störrisch wie ein Esel erschienen auch die Spätaufsteher. Sie kamen nicht voran, oder in diesem Fall, aus ihrem Bett.

Der Esel ist zwar ein Nebendarsteller in der Geschichte vom Palmsonntag. Aber ein wichtiger. Erzählt er doch viel von dem, den er trägt. Von diesem Jesus, denn auch der geht seinen eigenen Weg. Unbeirrt. So ganz anders, als all die andern es wollen. 

Heute beginnt für Christen die wichtigste Woche im Jahr. In den Gottesdiensten werden dramatische und emotionale Geschichten erzählt. Vom letzten Mahl Jesu mit seinen Freunden kurz vor seiner Gefangennahme. Von seinem Prozess und dem brutalen Mord am Kreuz. Aber auch von einer glücklichen Wende an Ostern. Alles beginnt heute, mit dem Palmsonntag. Wie bei einem Event. Es ist ganz großes Kino. Voller lebendiger Bilder.

In der Geschichte vom Palmsonntag wechselt Jesus sein Fortbewegungsmittel. Nicht mehr zu Fuß ist er unterwegs, sondern auf dem Rücken eines Esels kommt er daher.

Am Rand der Straße jubeln ihm die Menschen zu. Sie kennen all die uralten Prophezeiungen. Die erzählen davon, wie ein König kommen wird. Sanftmütig sei er, erzählt man sich. Nicht hoch zu Ross. Auf einem Esel werde er reiten. Nicht Krone und Schwert trägt er. Bewaffnete Begleiter an seiner Seite braucht er nicht. Es sind einfache Leute in seinem Freundeskreis. Jetzt ist es so weit, sagen sich die Menschen in der jubelnden Menge. Dieser Jesus wird Frieden bringen im von den Römern besetzen Land. Im Eselreiter kommt der lang ersehnte König zu uns.

Und es kommt, wie es so oft kommt. Erst hören wir, dass Jesus unter lautem Jubel durch Jerusalems Straßen zieht. Wie er als der lang ersehnte Retter gefeiert wird. Und dann kurz darauf brüllt man: „Ans Kreuz mit ihm.“ Die Menschen, die ihm erst nachlaufen und zujubeln, stehen Tage später schweigend am Kreuz, oder verfolgen das grausame Geschehen aus Angst von der Ferne.

Die Stimmung der Öffentlichkeit ist wankelmütig. Bis heute ist das so. Nicht nur in den sozialen Medien. Erst viele Likes und dann ein tödlicher Shitstorm. Daumen hoch. Daumen runter. Von jetzt auf nachher. Was für ein krasser Umbruch. Jubel und Hass, Leben und Tod sind ganz nah beieinander. All das erleben auch wir. Wir freuen uns an der Wärme des Frühlings. Der Natur, die endlich wiedererwacht. Und sehen die bedrückenden Bilder des Krieges. Die Menschen auf der Flucht. Das Sterben der Kinder. Wir freuen uns auf das Osterfest und betrauern die Toten.

Sanftmütig kommt er daher, steht in den uralten Prophezeiungen. So ganz anders als erwartet. Kann uns der Mann auf dem Esel heute noch Vorbild sein? Unzählige machen es so wie er. Sie gehen ihren Weg entschieden. Ganz anders, als die Mächtigen es wollen. Sanftmütig. Ohne Gewalt. Der Liebe und der Menschenwürde verpflichtet. All die Frauen, die jetzt im Krieg das Leben ihrer Kinder retten wollen. Sie tragen keine Waffen. Wurden unschuldig hineingezogen in den Wahn des Krieges. Ich denke an mutige Menschen, die irgendwo auf der weiten Welt auf die Straßen gehen und für den Frieden demonstrieren. Selbst auf die Gefahr hin festgenommen und verhaftet zu werden. All die Jüdinnen und Juden, die noch immer auf Freiheit warten. Ihre Familien, die seit dem 7. Oktober sehnlichst erwarten, sie wieder in den Arm nehmen zu können. Ich denke an den mutigen Alexei Nawalny. Seinen Kreuzweg. Entschieden und unbeirrt ging er seinen Weg. Das Ende einer mörderischen Diktatur war seine Vision. Das bezahlte er mit seinem Leben.

Mit dem Palmsonntag beginnt die wichtigste Woche der Christen. Der Mann auf dem Esel hat der Welt keinen Frieden gebracht. Aber eine Botschaft, die nicht totzukriegen ist.

Mitten im Leid bleibt er ihr treu. Es ist die Botschaft der Liebe und der Gerechtigkeit. Die Botschaft von der Würde eines jeden Menschenkindes. Ich will ihn mir zum Vorbild nehmen.

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SWR4 Feiertagsgedanken

01JAN2024
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Vor Tagen blätterte ich in einem ganz besonderer Buch. Es liegt am Eingang unserer Krankenhauskapelle auf einem Stehpult. Patientinnen und Patienten schreiben darin ihre Sorgen und Bitten auf. Das Fürbittbuch erzählt von Gesundheit und Krankheit. Von der glücklichen Geburt und dem langen Sterben. Von der Angst vor der OP ist darin zu lesen, aber auch von der Erleichterung nach einer Untersuchung. Ein mit zittriger Hand geschriebener Eintrag fällt mir auf. Er ist so schön und schlicht. Irgendwie auch geschrieben für diesen Neujahrsmorgen:

 

Gott achte auf mich und hülle alle Menschen in deinen Frieden.

 

Das ist ein Segensgebet für 2024.  Heute am Neujahrsmorgen an dem wir uns alle nur Gutes wünschen. Mit dem Sektglas in der Hand. Mit guten Worten und Umarmungen.

 

Gott achte auf mich und hülle alle Menschen in deinen Frieden.

 

Segenswünsche am Neujahrsmorgen tun gut. Mit welchen Worten auch immer sie gesprochen werden. Denn die Tage, die vor uns liegen, liegen nicht in unserer Hand. Sie sind unverfügbar. Nur begrenzt planbar. Das wissen wir allzu gut. Das lehrt uns die Vergangenheit. Was wir in den kommenden 365 Tagen erleben werden, bleibt ungewiss. Dass Gott auf uns achten möge und uns Frieden schenkt, wie die zittrige Hand schreibt, bleibt unsere Hoffnung und Sehnsucht.  Auch 2024.

Meine Mutter war früher für den Segen zuständig. Ich kann mich noch gut daran erinnern. Wie ich da mit dem Schulranzen in der Küche stand. Kurz vor dem Weg zur Schule. Ein Kreuzzeichen hat sie mir auf die Stirn gemacht. Manchmal glaube ich sogar mit Weihwasser. Kalt fühlte sich das an und doch war es ganz besonders. Einen Moment nur. Was und ob sie überhaupt dabei etwas gesagt hat, weiß ich nicht mehr. Vielleicht dass ich aufpassen soll und schon alles gut werden wird in der Schule. Der Segen mit dem kleinen Kreuzzeichen hat einfach dazugehört. Wie das Frühstück. Oder wie der Gute Nacht Kuss. Gut hat es mir getan. Beruhigend hat es auf mich gewirkt. Der Segen meiner Mutter. Vor dem Lärm im Bus, der mich zur Schule brachte. Vor der Klassenarbeit gleich in der ersten Stunde. 

 

Segenswünsche am Neujahrsmorgen. Obwohl wir nicht wissen, was auf uns zukommt, erhoffen wir nur Gutes.  Im Namen Gottes. Ist das nicht irrational? Was tun wir da eigentlich? Und warum? Der Theologe Fulbert Steffensky erzählt in einem Erlebnis, was Segen für ihn bedeutet:

 

Ein Freund von mir erlitt vor kurzem einen Herzinfarkt. Einer der Krankenpfleger, die ihn versorgten, ein junger Mann von erfrischender Respektlosigkeit, sagte zu dem Kranken: „Du alter Graukopf, du machst jetzt gar nichts. Du denkst nicht, du bewegst dich nicht, du sorgst dich nicht.“ Der Freund sagte später: „Die Aufforderung des Pflegers empfand ich in diesem Moment der Gefahr wie einen großen Segen“.

 

Warum hat der Kranke die Bemerkung Krankenpflegers wie einen Segen empfunden?

Wenn wir gesegnet werden, sind wir passiv. Tun nichts. Der Pfleger hat es dem Kranken ziemlich deutlich zu verstehen gegeben. Das ist ganz schön schwer. Wer sich segnen lässt muss lernen loszulassen. Gibt zu nicht alles im Griff zu haben. Stellt sich der ungewissen Zukunft. Lässt sich anschauen. Berühren. Trösten. Ansprechen mit guten Worten. Aber auch der Segnende hat nichts in der Hand. Auch der Krankenpfleger weiß nicht, wie das ausgeht mit dem Herzinfarkt. Er gibt nur ein Versprechen. Jetzt da zu sein. Wer segnet geht aufs Ganze. Gibt Gott als Versprechen. Nicht viel ist das. Und Steffensky hat Recht, wenn er schreibt:

 

Der Segen ist die dichteste und dramatischste Stelle des Glaubens. Wer Segen empfängt stürzt in den Abgrund des Schoßes Gottes.

 

In einem Text aus der Bibel, der heute am Neujahrstag im katholischen Gottesdienst vorgelesen wird, steht auch ein Segen.  Es ist der älteste überlieferte Segensspruch der Bibel. Jüdinnen und Juden beten ihn bis heute. Segnen einander mit diesen Worten. Oft wird an einer Stelle dieses Segens ein weibliches Pronomen für Gott verwendet. Das ist gut so. Denn bei mir war es ja auch meine Mutter, die mich treu gesegnet hat. Morgen für Morgen. Und eben nicht mein Vater. Sie hat mir gezeigt was Segen bewirken kann.

Ich wünsche Ihnen mit diesem Segen der Bibel nur Gutes am Neujahrsmorgen.  Dass wir alle dem Geheimnis unseres Lebens trauen. Einem Gott der unverfügbar bleibt. Der uns nahe ist wie der Krankenpfleger. Treu wie damals meine Mutter. Auf uns achtgibt und uns umhüllt wie es im Fürbittbuch mit der zittrigen Hand aufgeschrieben ist. Seien Sie gesegnet mit den Worten der Bibel:

 

G*tt segne dich und behüte dich
G*tt lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig
Go*tt erhebe ihr Angesicht auf dich und gebe dir Frieden.

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SWR4 Sonntags-/Feiertagsgedanken

29OKT2023
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Es ist fast schon zum Ritual geworden. Im Krankenhaus, in dem ich als Seelsorger arbeite. Bevor ich am Abend nach Hause fahre. Mein Besuch bei einer alten Frau.

Im Auf und ab ihrer Altersschwäche begegnen wir uns seit Wochen. Immer will die Patientin nach unserem Gespräch ihr Lied hören. Singen kann sie es schon lange nicht mehr. Die Luft fehlt. Doch das Lied ist tief drinnen in ihrem Herzen. Seit Kindheitstagen ist es ihr vertraut. Es ist das Lied vom Mond. Der aufgegangen ist. Den Sternen und dem Himmel. Hell und klar. Von den Menschenkindern, dem kranken Nachbarn und den Luftgespinsten. Das Lied das dazu einlädt sich am Abend in Gottes Namen zum Schlafen niederzulegen. Mein Handy kann ihren Wunsch erfüllen. Ein großer Chor singt das Lied unüberhörbar. Nur für uns beide. Fremde Klänge sind das im eher lauten Krankenhaus. Jetzt am Abend kommt es etwas zur Ruhe.

Ich schaue in das faltige Gesicht der Frau. Letzte Sonnenstrahlen streifen es. Entspannt hört sie zu. Zufrieden. Mit halb geschlossenen Augen. Irgendwie daheim. Bis zur letzten Strophe. Dann lächeln wir beide uns an, sprechen ein kurzes Gebet und verabschieden uns. Bis morgen. Schlafen sie gut, sage ich. Das genügt ihr.

Wer ist eigentlich glücklicher nach unseren Begegnungen. Sie oder ich!? Ich glaube wir beide sind es gleichermaßen. Und was ist das Besondere an der Begegnung zwischen der alten Frau und mir?

Mein Besuch bei ihr tut mir gut. Das Lied vom Mond der aufgegangen ist gefällt auch mir. Ohne viele Worte findet mein Tag im Krankenhaus ein gutes Ende. Zufrieden und dankbar bin ich.

Ich und Du. So lautet der Titel eines 1923 erschienen Buches des jüdischen Religionsphilosophen Martin Buber. Im Anfang ist für Buber, den gläubigen Juden, nicht etwa Gott, oder das Wort, oder der Urknall. Im Anfang ist für ihn allein die Beziehung. Wirkliches Leben ist bei ihm immer Beziehung und Begegnung von ICH und DU, wie er sagt. In Abgrenzung zu einer distanzierten Haltung, die Martin Buber ICH und ES nennt. Denn wenn wir einem Menschen begegnen, können wir ihn auch für eigene egoistische Zwecke benutzen. Wir benutzen dann eine Beziehung nur, um etwas zu erreichen. All das beschreibt Buber als die ICH-Es Haltung.

Die ICH-DU Beziehung dagegen ist sehr anspruchsvoll. In dieser Beziehung begegnen sich Menschen unmittelbar. Hier will ich kein Ziel erreichen. Und verfolge auch keinen Zweck. Immer geht es um den Anderen in seiner Gesamtheit. Um seine Würde. Immer bleibt der Andere mir ein Geheimnis. Ohne Vorbehalt versuche ich mich in ihn hineinzuversetzen. In seinen Augen entdecke ich mich irgendwie selbst. Meine eigene Würde. Meine Sehnsucht nach Gesundheit. Nach dem Freund und der Freundin, die einfach nur da sind.

Immer wenn ich das Krankenzimmer der alten Frau verlasse bin ich dankbar und beschenkt. Das war so eine ICH-DU Begegnung, sage ich mir dann.

Mein Krankenbesuch am Abend. Seit Wochen schon. Fast ein Ritual. Die Begegnung mit der alten Frau. Heute wird im katholischen Gottesdienst ein Text aus der Bibel vorgelesen, der vielen Christen sehr vertraut ist. Auch dort geht es um Begegnung zum Nächsten. Um die Frage wie Beziehungen gelingen.  Erzählt wird wie ein frommer Schriftgelehrter zu Jesus kommt und ihm eine Frage stellt:  Welches Gebot bei all den vielen Gesetzen ist das Wichtigste? Jesus antwortet souverän: "Du sollst deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft. Das ist das wichtigste und erste Gebot. Ebenso wichtig ist das zweite: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst."

Gottesliebe und Nächstenliebe lassen sich bei Jesus nicht voneinander trennen. Sie sind für ihn zwei Seiten einer Medaille. Davon erzählt sein Leben uns Christen bis heute. Und auch für Martin Buber ist alles wirkliche Leben Begegnung. Begegnung zwischen Menschen und genau darin auch Begegnung mit Gott. Denn Gott ist für ihn, wie er sagt, das ewige DU. Gott, wie Buber ihn versteht, ist in allen liebevollen und wertschätzenden Begegnungen nämlich immer schon da. Er ist so etwas wie der Ursprung aller guten Begegnungen zwischen Menschen.

Vielleicht macht uns das im Krankenzimmer ja so dankbar und glücklich. Ohne es zu wissen, oder auszusprechen. In der allabendlichen Begegnung kommen wir uns nahe. Beim Lied. Im Gespräch. Beim Gebet zum Abschied. Uns und damit auch Gott. Dem ewigen Du.

Haben Sie viel Zeit für gute Begegnungen heute am Sonntag. Gott und Menschen nahe.

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