Alle Beiträge

Die Texte unserer Sendungen in den SWR-Programmen können Sie nachlesen und für private Zwecke nutzen.
Klicken Sie unten die gewünschte Sendung an.

Filter
zurücksetzen

Filter

Datum

SWR2

  

SWR4

 

Autor*in

 

Archiv

SWR4 Abendgedanken

08DEZ2023
AnhörenDownload
DruckenAutor*in

Tom und sein Klassenkamerad, die beiden sind  bei mir in der Schule. Zwei quirlige lebendige Jungs. Und sie haben Mist gebaut. Als Schulleiter hole ich die beiden in mein Büro und will hören, was sie selbst zu ihrem Verhalten sagen. Die beiden geben ihre Fehler sofort zu und sagen, dass das blöd war, was sie getan haben. Das finde ich gut. Ich habe Respekt vor Menschen, die zu ihren Fehlern stehen und die Konsequenzen dafür tragen wollen. Auf dieser Basis überlegen Tom, sein Klassenkamerad und ich gemeinsam, wie sie ihren Fehler wieder gut machen können. Ich bespreche auch mit ihnen, wie wir das ihren Eltern erklären. Das mache ich immer so, weil ich abschätzen will, was ihnen zuhause droht. Ich will auf keinen Fall, dass ein Kind zuhause körperliche Gewalt erlebt. Als ich ihnen sage, dass wir die Eltern ins Boot holen, wird Tom immer ruhiger. Ich habe ihn gefragt, was ihn beschäftigt. Tom ist sofort in Tränen ausgebrochen und hat gesagt: „Ich habe mir doch vorgenommen, dass ich es in diesem Schuljahr besser mache als in dem Jahr vorher. Ich will auch ein weißes Blatt sein.“ Jetzt bin ich berührt, ein „weißes Blatt“ ist ja noch reiner als ein „unbeschriebenes Blatt“. Tom will also ein Mensch sein, der als unschuldig und gut angesehen wird. Erwachsene wollen das vermutlich auch oft, aber sie wissen aus Erfahrung, dass niemand ohne Fehler durchs Leben kommt. Wir sind nicht ausschließlich böse oder ausschließlich gut. Aber es gibt einfach rote Linien, über die ich nicht drüber darf.

Und jetzt nochmals zurück zu Tom und seinem Freund. Ich habe den beiden erklärt wie ich das sehe. Und ich habe Tom gesagt: „Du kommst besser durchs Leben, wenn Du Dich selbst nicht entweder als rein gut oder rein böse einstufen musst. Wir Menschen sind immer beides  – böse und gut.“

Von meinem Glauben her kommt aber noch etwas anders dazu: Ich bin überzeugt, dass Gott mich noch anders sieht. Ich hoffe darauf, dass er in jedem Menschen einen Kern angelegt hat, der einfach nur gut ist. Und auch wenn niemand ein ganz weißes Blatt sein kann, diesen guten Kern gilt es zu sehen und zu pflegen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=38876
weiterlesen...

SWR4 Abendgedanken

07DEZ2023
AnhörenDownload
DruckenAutor*in

Es kommt immer wieder vor, dass Kinder eine Schreckschusspistole zum Spielen in  die Schule mitbringen. Das geht in der Schule gar nicht. Als Schulleiter spreche ich mit den Kindern, wenn so etwas vorgefallen ist. Dabei geht mir aber immer wieder durch den Kopf, wie das noch in meiner Kindheit war. Wir haben das ganze Jahr über immer wieder „Cowboys und Indianer“ gespielt. Am Anfang haben wir uns in zwei Gruppen aufgeteilt und uns dann in den Gärten in der Nachbarschaft oder im Wald versteckt und uns gegenseitig überfallen. Mal musste ein Holzstecken in der Phantasie die Waffe ersetzen, manchmal hatten wir von Fasching noch Spielzeugwaffen. Wir haben Gefechte ausgetragen und geschossen und wenn einer getroffen war, musste er aussetzen. Natürlich hat das nicht lange gedauert, dann hat man als Getöteter gerufen „ich lebe noch“ oder „ich lebe wieder“ und schon war man wieder mit im Spiel. Das war spannend, aber aus heutiger Sicht war es auch unbedarft und naiv.

Im Vergleich zu früher haben sich die Umstände gewaltig gewandelt. Wir haben den Amoklauf in Winnenden erlebt oder den Vorfall, dass in Offenburg ein Schüler einen anderen Schüler erschossen hat. Das Spiel aus meiner Kindheit ist da bitterer Ernst geworden.

Einerseits tun mir unsere Kinder heute leid. Denn so naiv unsere Spiele auch waren, sie zeigen in ihrer Unbedarftheit, dass wir in einer sicheren Welt groß geworden sind. Das ist heute nicht mehr so.

Die Kinder von heute können sich so eine Naivität wie wir sie früher hatten nicht mehr erlauben. Aber ich hoffe, dass ihnen das nicht schadet. Ich hoffe, dass sie einst, wenn sie erwachsen werden, mit noch mehr Ernsthaftigkeit an einer Welt bauen, in der Gewalt keine Chance hat. Weder im Spiel noch im Ernst. Alle Pädagogen und Eltern und alle, die mir Kindern arbeiten, müssen das mit den Kindern klären – sowohl, dass wir heute andere Zeiten haben als wir Erwachsene sie noch erlebt haben, als auch, dass diese Spiele keine Spiele für Kinder sind. Unsere Welt ist im Augenblick von Krieg und Gewalt geprägt, und man könnte meinen, dass nur das Recht des Stärkeren zählt. Ich will unseren Kindern und Jugendlichen aber zeigen, dass es ein Gewinn für alle ist, wenn nicht Gewalt über das Schicksal entscheidet, sondern der Mensch. Und zwar der Mensch, der souverän ist und nach Frieden sucht.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=38875
weiterlesen...

SWR4 Abendgedanken

06DEZ2023
AnhörenDownload
DruckenAutor*in

Am Nikolaustag als Nikolaus bei Familien sein. Ich habe das jahrelang gemacht, und ich erinnere mich daran, wie mich das als Kind berührt hat. Das war einfach faszinierend, dass dieser heilige Mann zu uns in die Wohnung kommt und mich besucht.

Als ich später selbst als Nikolaus unterwegs war, war das sehr spannend. Ich habe mich gefreut, wenn ich den Kindern auch dieses Gefühl schenken konnte: Sie sind voller Stolz Gastgeber dieses heiligen Mannes. Ich habe aber auch erlebt, wie der Nikolaus als Lückenbüßer einer schwarzen Pädagogik herhalten musste. Viele Kinder hatten Angst vor mir, weil man ihnen gesagt hat, dass der Nikolaus sie in seinen Sack steckt und sie mitnimmt, wenn sie nicht brav waren. Und als letzte Chance sollten sie dann beim Nikolausbesuch versprechen, dass sie es besser machen wollen. Ich habe da meistens erst mal Schlucken müssen und dann einen Mittelweg versucht. Also einen Nikolaus gegeben, der milde und gütig ist und die Kinder fördert. Im Endeffekt haben mich diese Momente geärgert. Denn da sind die Eltern ratlos, wie sie ihr Kind erziehen sollen und dem Kind tut das gar nicht gut. Ich finde das schrecklich. Für die Kinder, die von Angst geleitet werden und letztlich doch das Gefühl haben, dass sie nicht in Ordnung sind. Genauso fragwürdig fand ich aber auch die ganz gegenteiligen Erfahrungen, die ich auch gemacht habe. Wenn die Kinder so mit Geschenken überhäuft wurden, dass sie gar nichts mehr damit anfangen konnten. Beides hat mit dem heiligen Nikolaus wenig zu tun.

Was man von ihm weiß, sind vor allem Legenden. Aber diese Legenden haben eine Botschaft gemeinsam: Der heilige Nikolaus wird dort immer als einer Mensch geschildert, der sieht, wo andere in Not sind, und der ihnen Hilfe gibt. Nikolaus sorgt so für das Volk von Myra als eine Hungersnot herrscht und er unterstützt einen alleinerziehenden Vater, dessen Töchter in die Prostitution abzurutschen drohen. Er legt ihnen nachts drei goldene Kugeln vor die Türe und wendet so ihre Not ab. Er überhäuft aber niemanden mit Geschenken, bis der Beschenkte (völlig) überfordert ist und seinen Besitz nicht mehr sortieren kann. Und er macht seine Hilfe nicht davon abhängig, ob ein Mensch sich gut oder schlecht verhalten hat. Er hilft in der Not einfach.

Das ist echte Güte: unabhängig von Moral und nach einem Maß, das den andern einfach nur guttut. Ich vermute, dass der Heilige Nikolaus deshalb so stark verehrt wird, weil er diese Güte verkörpert. Er  ist ein passender Vorbote für die Weihnachtszeit.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=38874
weiterlesen...

SWR4 Abendgedanken

05DEZ2023
AnhörenDownload
DruckenAutor*in

Kaum jemand kennt Elias Chacour. Er ist arabischer Christ. Elias Chacour ist vor 84 Jahren in Galiläa geboren. Als er noch ein Kind war, haben israelische Soldaten ihn mit seiner Familie aus ihrem Haus vertrieben. Seine Schulzeit hat er in Nazareth verbracht, dann hat er Theologie studiert und wurde Priester, später sogar Bischof. Als junger Priester hat er sich besonders dem Judentum gewidmet und an der hebräischen Universität in Jerusalem die Tora und die jüdischen Traditionen studiert. Chacour hat als Kind erlebt, wie schlimm es sein kann, wenn Juden, Christen und Muslime sich  bekriegen. Seine Familie hat es ja unmittelbar erlitten. Elias Chacour hat sich danach aber nicht auf eine Seite geschlagen und den Streit weiter entfacht. Im Gegenteil. Er hat darauf gesetzt, dass das Gute sich entwickeln kann, wenn Menschen zusammen leben, zusammen studieren und sich begegnen. Deshalb hat er in Israel Schulen gegründet, in denen arabische und jüdische Kinder gemeinsam lernen und als Juden, Muslime und Christen friedvoll miteinander leben.

Es scheint so, als sei das alles umsonst geschehen. Keiner redet mehr von Chacour und seinen Projekten für den Frieden. Dabei gab es viele  Menschen in Israel, die diesen Weg gegangen sind. Zum Beispiel die Mütter von gefallenen Soldaten, israelische und palästinensische Mütter. Sie haben sich schon vor Jahren zusammengetan und setzen sich für Frieden ein.

Es mag sein, dass diese Projekte im Moment keine Schlagzeile wert sind und dass im Augenblick der Krieg dominiert. Aber ich kann und mag mir nicht vorstellen, dass das alles umsonst gewesen ist. Ich bin sicher, dass die Absolventen aus den Friedensschulen von Chacour die Idee weitertragen, dass Friede möglich ist. Auch dort, wo es scheinbar im Moment nichts zu hoffen gibt. Und diese Hoffnung ist meine persönliche Schlagzeile. Darauf baue ich..

https://www.kirche-im-swr.de/?m=38873
weiterlesen...

SWR4 Abendgedanken

04DEZ2023
AnhörenDownload
DruckenAutor*in

Diese alte Dame schätze ich schon immer sehr: Margot Friedländer. Jetzt habe ich gelesen, dass sie gesagt hat: „Ich würde nie hassen wollen.“ Sie ist inzwischen 102 Jahre alt und wirkt topfit für ihr Alter. Vor allem geistig erscheint sie mir so klug und weise, dass ich gerne von ihr lernen möchte. Margot Friedländer hat als Kind erlebt, wie die Nazis alle Juden vernichten wollten. Als Jüdin war sie und ihre ganze Familie höchst gefährdet. Sie, ihre Eltern und ihre Geschwister haben mehrere Fluchtversuche unternommen, aber die Flucht ist ihnen nicht gelungen. Alle Familienmitglieder wurden ermordet bis auf Margot. Sie hat sich längere Zeit versteckt. Aber auch sie wurde entdeckt, verhaftet und ins Konzentrationslager Theresienstadt gebracht. Dort lernte sie ihren Mann kennen. Die beiden überlebten bis zu ihrer Befreiung. Danach wanderten sie in die USA aus.

Margot Friedländer ist erst in hohem Alter wieder nach Deutschland zurückgekommen. Jetzt geht sie dreimal pro Woche in Schulen, um mit Kindern und Jugendlichen über ihr Leben zu sprechen. Die Schülerinnen und Schüler hängen ihr an den Lippen, wenn sie davon erzählt, wie ihre Eltern und ihr Bruder ermordet wurden. Ich könnte verstehen, wenn Margot Friedlländer da Vergeltung fordern würde oder Rachegefühle hätte. Umso mehr beeindruckt es mich, wenn sie sagt: „Ich würde nie hassen wollen.“ Deshalb ist es in meinen Augen so souverän von ihr, nicht hassen zu wollen. Sie lässt sich nicht auf das Niveau von Mördern und Unmenschen runterziehen. Rachefühle wären ja nur allzu menschlich, aber Margot Friedländer ist mehr, sie zeigt eine Würde, die nur wenige Menschen so haben. Sie zeigt noch in hohem Alter diese Menschenwürde, die die Nazis ihr eigentlich nehmen wollten.

Jetzt ist Margot Friedländer 102 Jahre alt geworden und muss es in diesem Alter nochmals erleben, dass jüdische Familien in Deutschland und in vielen Ländern in Angst leben. Judenhass ist ein absolutes No-Go. Und es macht mir Sorgen, dass es Deutschland gerade möglich ist, Judenhass zu zeigen. Margot Friedländer bleibt jedoch auch in der aktuellen Situation, die mir Sorgen macht, dabei dass sie niemals hassen will. Ich verneige mich deshalb tief vor Margot Friedländer und ihrer so würdigen Haltung. Auch ich will niemals hassen lernen, sondern lieben und vergeben.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=38872
weiterlesen...

SWR2 Lied zum Sonntag

03DEZ2023
AnhörenDownload
DruckenAutor*in

„Tochter Zion, freue Dich“ – Das Lied zum heutigen Sonntag ist so ein schönes Adventslied. Es klingt so festlich und so schreitend läutet es die Weihnachtszeit ein. Aber dieses Jahr stocke ich so wie die Bläser, die eben immer wieder neu angesetzt haben. „Tochter Zion, freue Dich“ richtet sich im übertragenen Sinn an Zion, den Burghügel von Jerusalem, der im Liedtext wie eine Person angesprochen wird. Nur – auf Zion, in Jerusalem, in Gaza, im Heiligen Land gibt es aktuell keinen Grund zur Freude. Trauer und Gewalt haben das Land im Griff. Wenn ich an Israel und den Zionsberg denke, habe ich eher Sehnsucht nach sanfteren Tönen:

See, the conqu’ring hero comes!

Sound the trumpets, beat the drums.

Sports prepare, the laurel bring,

Songs of triumph to him sing.

In dieser englischen Liedvariante geht es darum, dass ein Held in einer Stadt ankommt, die er erobert hat. Die Leute empfangen ihn mit Jubel, sie spielen Trompeten und Pauken. Es herrscht Triumphstimmung. Das Musikstück war so ein Erfolg, dass Georg Friedrich Händel es immer wieder verwendet hat: 1746 für das Oratorium „Joshua“ und fünf Jahre später in „Judas Makkabäus“. Beide Werke erzählen vom Volk Israel, das sein Land erobert und seine Freiheit behauptet. Die Nazis haben das Lied später zeitweise deshalb verboten.

Friedrich Heinrich Ranke hat den Text von „Tochter Zion“ um 1820 ins Deutsche übersetzt. In den englischen Fassungen besingt man Josua und Judas Makkabäus, bei Ranke richtet es sich jetzt an Jesus. Er denkt dabei an den Palmsonntag, an dem Jesus in Jerusalem einzieht und vom Volk mit „Hosanna“-Rufen begrüßt wird.

Hosianna, Davids Sohn!

Sey gesegnet deinem Volk!

Gründe nun dein ew’ges Reich,

Hosianna in der Höh!

Hosianna, Davids Sohn!

Sey gesegnet deinem Volk!

Mit diesem Bezug auf Jesus von Nazareth ist ein neuer Schwerpunkt gesetzt. „Tochter Zion“ passt deshalb auch zu Weihnachten: Da feiern Christen, dass mit Jesus Gott in der Welt angekommen ist. Jesus ist ja kein kriegerischer Held, der mit Gewalt zum Ziel kommen will. Für ihn zählen andere Maßstäbe als die von Überlegenheit und Gewalt, für ihn sind die Schwachen, die Bedürftigen und die Sanftmütigen, die Helden und Gewinner.

Zu Weihnachten wünsche ich mir, dass die friedlichen Ideen wieder einziehen in unsere Welt. In der Ukraine, in Israel, in Gaza und überall, wo Krieg herrscht. Ich wünsche mir, dass die Menschen dort erleben können, welche Macht sie haben, wenn sie statt Rache und Vergeltung Versöhnung üben und Frieden suchen. Das ist in meinen Augen nicht nur mächtig, sondern souverän. Denn ein Friede, der nicht auf dem Sieg der Stärkeren beruht, sondern auf dem Wohlwollen und Glück für alle, ist dauerhafter und sicherer. Darauf hoffe ich und diese Vision bejuble ich mit Trompeten und Pauken: 

Tochter Zion freue dich,

jauchze laut, Jerusalem!

Sieh, dein König kömmt zu dir

ja, er kömmt, der Friedefürst,

Tochter Zion freue dich,

jauchze laut, Jerusalem!

https://www.kirche-im-swr.de/?m=38877
weiterlesen...

SWR2 Wort zum Tag

22NOV2023
AnhörenDownload
DruckenAutor*in

Ich mag die Pfarrer-Braun-Krimis. Die Fälle sind oft Nebensache, es geht oft um den Wortwitz und die Tricks, mit denen der Pfarrer den Kommissar hintergeht, hinter seinem Rücken ermittelt und damit am Ende die Polizeiarbeit rettet. In einem der Krimis gibt es einen Dialog zwischen dem Kommissar und dem Pfarrer. Da sagt Pfr. Braun mit seinem typischen schwarzen Hut und dem Schirm in der Hand: „Gott hat die Menschen nach seinem Abbild erschaffen. Und ich bin dazu da, sie daran zu erinnern.“  Darauf fragt der Kommissar: „Auch die Atheisten?“. Pfarrer Braun antwortet ihm mit nüchternem Witz: „Insbesondere die Atheisten.“

Mir gefällt dieses kurze Gespräch. Ich möchte auch gerne daran erinnert werden, dass ich und die anderen alle nach dem Abbild Gottes geschaffen sind. Das heißt für mich nämlich, dass ich jedem Menschen, der mir begegnet, Respekt und Wertschätzung entgegenbringen soll. Gerade bei denen, die in meinen Augen moralisch schlecht leben, fällt mir das manchmal schwer. Wenn ich z.B. sehe, wie Menschen auf dem öffentlichen Platz in der Nachbarschaft ihre Zigarettenkippen und ihre Müll liegen lassen, dann ärgert mich das. Da könnte ich diese Erinnerung gut brauchen, dass ich sie als Abbild Gottes sehe und sie so behandle. Wie das genau aussieht, ist gar nicht so einfach. Aber ich vermute, dass ich mit einer freundlichen Ansprache mehr erreiche als mit  einer Moralpredigt.

Pfarrer Braun meint, dass er besonders die Atheisten daran erinnern will, dass sie ein Abbild Gottes sind. Ob einer glaubt und welche Religion er hat, spielt allerdings heute tatsächlich bei uns keine große Rolle mehr. Deshalb finde ich es wichtig, dass jemand die Menschen daran erinnert, dass sie ein Abbild Gottes sind. Denn dabei geht es nicht nur darum, was einer glaubt, sondern darum, wie er andere behandelt. Das gilt insbesondere für Atheisten, meint Pfarrer Braun. Ich schließe mich ihm gerne an. Ganz unabhängig davon, ob einer an Gott glaubt, die Würde des Menschen kann nicht hoch genug geschätzt werden.

Die Pfarrer-Braun-Krimis spielen in der Nachkriegszeit. Damals gab es noch viele Pfarrer für diese Aufgabe. In fast jedem Dorf gab es einen Pfarrer. Ich frage mich, wer diese Aufgabe heute übernimmt. Die Antwort liegt auf der Hand: Jeder Christ kann es übernehmen und sich sagen: Meine Aufgabe ist es, die Menschen daran zu erinnern, dass sie ein Abbild Gottes sind. Zum Glück geht das nicht nur mit Worten, sondern auch mit Haltungen und praktischen freundlichen Taten.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=38741
weiterlesen...

SWR2 Wort zum Tag

21NOV2023
AnhörenDownload
DruckenAutor*in

Jedes Mal, wenn ich den Geldbeutel zücke, zucke ich noch ein bisschen zusammen, wenn ich zwischen Personalausweis und Kontokarte meinen Behindertenausweis sehe. Wenn ich ihn entdecke, löst das immer noch zwei gegensätzliche Gefühle (in mir) aus.

Ich habe den Behindertenausweis wegen meiner Krebserkrankung bekommen. Das hat sich damals schon eigenartig angefühlt. Als ob ich zusätzlich zu meiner Krankheit noch für den Rest meines Lebens mit dem Stempel „schwerbehindert“ abgestempelt bin und ab jetzt nie hundertprozentig funktioniere. De facto arbeite ich längst wieder und bringe meine Leistung so gut ich kann. Das fühlt sich gut an und ich weiß: In unserer Gesellschaft gilt es als Maßstab, dass Menschen funktionieren und Leistung bringen. Aber als Christ finde ich so eine Sicht auf den Menschen befremdlich. Menschen sind doch nicht daran zu bemessen, wie gut sie in unser Leistungsschema passen. Jeder Mensch ist ein Geschöpf Gottes, ob behindert oder nicht. Ich sehe gerade auch bei behinderten Menschen Leistungen und Begabungen, die mich beeindrucken. Ich denke an eine junge Schauspielerin mit Down-Syndrom, die ich in einer Filmkomödie gesehen habe. Sie hat ihre Rolle mit so viel Witz gespielt. 

Das zweite Gefühl, das ich habe, wenn ich meinen Behindertenausweis anschaue, ist nicht so eigenartig, sondern rein positiv. Mein Ausweis zeigt mir nämlich, dass ich in einer Gesellschaft lebe, in der Menschen mit Behinderung besonders geschützt sind. In so einer Gesellschaft fühle ich mich gut aufgehoben und will alles, was mir möglich ist, dazu beitragen damit andere Menschen geschützt sind. Und wenn ich manchmal auch daran zweifle, ob die Mehrheit in unserem Land daran festhält, dass wir solidarisch sind und Schwächere besonders schützen, dann ist mein Behindertenausweis doch ein ganz praktisches Zeichen dafür, dass wir in unserem Land füreinander einstehen und uns gegenseitig schützen.

Wenn ich mit diesen Gedanken meinen Behindertenausweis in Händen halte, merke ich, die Herausforderung in unserem Land sind oft nicht die Menschen mit Behinderung. Wir schaffen es, einen Schutz für sie aufzubauen, und wir schaffen es hoffentlich immer besser, dass Menschen mit Behinderung sich gut entfalten und ihren Beitrag zu unserer Gesellschaft einbringen können.

Die größere Herausforderung für uns alle sind vermutlich eher die, die andere Menschen behindern. Nach meiner Erfahrung behindern behinderte Menschen selten andere, im Gegenteil. Sie schaffen es oft, anderen so viel zu ermöglichen: Lebensfreude zum Beispiel und eine etwas andere Sicht auf die Welt.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=38740
weiterlesen...

SWR2 Wort zum Tag

20NOV2023
AnhörenDownload
DruckenAutor*in

Der Nahe Osten ist wieder einmal stark umkämpft und unzählig viele Menschen sterben in diesem Krieg. Und es scheint, als ob die Regeln der zivilisierten Welt keine Rolle mehr spielen. Die Gewalttäter machen keinen Halt vor Kindern, Frauen, wehrlosen, kranken und alten Menschen. Die Kriegsmacher begründen den Krieg mit dem Hass zwischen Israelis und Palästinensern und dem Streit um den Tempelberg in Jerusalem. Ich kenne wenige Orte auf unserem Planeten, die so hart und andauernd umkämpft sind, wie der Tempelberg in Jerusalem. Das allein ist schon der reinste Hohn, bedeutet „Jerusalem“ doch wörtlich übersetzt „Stadt des Friedens.“

Aber ich frage mich, warum diese drei Religionen es nicht gemeinsam schaffen, dass diese Stadt ein Ort wird, von dem Friede und Heil für alle ausgeht.

Schon im 6. Jahrhundert vor Christus hat dieser Streit um Jerusalem begonnen, die Babylonier haben den ersten jüdischen Tempel zerstört. Er wurde wieder aufgebaut, bis die Römer ihn wieder zerstörten und durch einen römischen Tempel ersetzt haben. Schließlich habe die Osmanen dort die Al-Aksa-Moschee gebaut. Dieser Ort in Jerusalem ist für Juden und Muslime ein heiliger Ort. Auch für mich als Christ hat dieser Ort eine große Bedeutung. Einige Forscher vermuten, dass der Tempelberg der Ort ist, an dem Abraham nach der biblischen Erzählung seinen Sohn Isaak opfern sollte. Er wurde von einem Engel davon abgehalten, denn Gott will keine Menschenopfer.

Diese Botschaft ist offensichtlich bei keiner Religion angekommen. Auch Christen haben für eine scheinbar heilige Sache viel Leid angerichtet und viele Menschen getötet. Ich finde das abstoßend. Ausgerechnet Jerusalem, dieser vermeintlich heilige Ort, ist weiterhin ein Ort, wo Menschen im Namen der Religion getötet werden. Im Grunde widerlegen alle Religionen sich mit diesem Verhalten selbst.

Jesus  von Nazareth hat sich davon distanziert, dass Menschen sich auf einen Ort festlegen, an dem Gott wohnt und verehrt wird. Für ihn war der wichtigste Ort, an dem Gott existiert, das eigene Herz. Das überzeugt mich. Wenn ich es schaffe, dass ich Gott in mir Raum gebe, bekomme ich vielleicht eine Einsicht in seinen Plan für die Welt. Was ich von ihm bisher verstanden habe, ist sicher nur ein kleiner Teil. Und doch kann diese Einsicht die Welt verändern: Gott will, dass keiner vom andern unterdrückt wird, sondern dass alle Menschen wohl und zufrieden leben.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=38739
weiterlesen...

SWR2 Lied zum Sonntag

05NOV2023
AnhörenDownload
DruckenAutor*in

„Zum Paradies mögen Engel Dich geleiten,

die heiligen Märtyrer dich begrüßen

und Dich führen in die himmlische Stadt, Jerusalem.

Die Chöre der Engel mögen Dich empfangen

und durch Christus, der für Dich gestorben,

soll ewiges Leben Dich erfreuen.“

„Zum Paradies mögen Engel Dich geleiten“ – Der Gesang zum heutigen Sonntag stammt aus der Begräbnisliturgie. Wenn Trauernde sich mit dem Sarg oder der Urne auf den Weg zum Grab machen, wird das gesungen „Zum Paradies mögen Engel Dich geleiten“. Dieser Moment ist vermutlich einer der heikelsten Momente bei einer Beerdigung. Jedenfalls habe ich das so erlebt. Wenn ich weiß, das ist jetzt der letzte Weg, den der Tote geht, ist klar, wie endgültig der Tod ist. Es gibt kein Zurück. Das ist die Wirklichkeit. Ich habe aber auch erlebt, wie tröstlich es sein kann, wenn jemand diesen Weg umdeutet und sagt: Deine sterblichen Überreste gehen jetzt vielleicht ins Grab, aber Du als Person kommst im Paradies an. Was die Augen sehen, ist etwas Anderes als das, was ich mit dem Herzen sehe.

 

„Chorus angelorum te suscipiant“

 

„Die Chöre der Engel mögen Dich empfangen und durch Christus soll ewiges Leben Dich erfreuen“. Ich mag es, wenn beschrieben wird, wie der verstorbene Mensch im Paradies ankommt: Engel singen in Chören und die anderen Verstorbenen, die ihm schon vorausgegangen sind, heißen ihn willkommen. Sie kennen sich schon aus in dieser neuen Wirklichkeit und führen ihn an diesen Ort, wo alles heil wird.

Für mich ist das eine Hoffnung, die nicht nur für Christen gilt. Ich sehe das Paradies als den Ort, an dem alle Menschen finden, wonach sie sich sehnen, egal ob Christ, Jude, Muslim oder andere. Sogar die Zweifler und die, die nichts glauben.

Weil mir diese Hoffnung für jeden Menschen so viel bedeutet, deswegen singe ich das „Zum Paradies“ immer wieder, oft wenn ich auf der Straße unterwegs bin und mir ein Leichenwagen begegnet. Ich weiß nicht, was für ein Mensch darin auf seinem letzten Weg ist, aber ich wünsche ihm so alles Gute. Er möge wie hoffentlich jeder Mensch an einem Ort des Friedens und der Freude ankommen. Für mich als Christ ist das Bild dafür das himmlische Jerusalem. Und dieses Jerusalem klingt bei dem französischen Komponisten Gabriel Fauré so:

 

„… et perducant te in civitatem sanctam Ierusalem“

Musik: Gabriel Fauré: Requiem; Coro e Orchestra dell’accademia nazionale di Santa Cecilia unter der Leitung von Myung-Whun Chung (459365-2)

https://www.kirche-im-swr.de/?m=38738
weiterlesen...