Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP
Eine Kirche im Odenwald hat einen echten Dachschaden. Von der Holzdecke können kleine Teile in den Kirchenraum fallen. Die Gemeinde weiß sich zu helfen: Sie spannt unter dem Dach eine große Stoffbahn wie ein Zelt über die Sitzbänke. So sind die Besucherinnen und Besucher geschützt und der Gottesdienst kann weiterhin im gewohnten Kirchenraum stattfinden.
Doch der Charakter der Kirche hat sich verändert. Gefühlt betrete ich nicht ein Haus aus Stein, festgefügt für die Ewigkeit, sondern ein luftiges Zelt, leicht aufzuschlagen und leicht abzubauen. Das erinnert mich an Stellen in der Bibel, in denen Gott in einem Zelt bei den Menschen wohnt. In einem Zelt begleitet Gott die Israeliten nach der Flucht aus Ägypten durch die Wüste. Und in einem Zelt will Gott mitten unter den Menschen wohnen, wenn er am Ende der Zeit alles zum Guten wendet, jede Träne abwischt und es keine Trauer und keinen Schmerz mehr gibt. Die Bibel sagt mit diesem Bild: Unser Gott ist ein beweglicher Gott, immer nahe bei den Menschen. Er residiert nicht in einem Palast und wartet, dass wir zu ihm kommen, sondern er zieht mit uns, teilt unsere Lebensumstände.
Wenn ich die riesigen Flüchtlingslager aus Zelten, Hütten und Baracken sehe, wird dieses Bild für mich aktuell. Auf die Frage „Wo ist Gott in all diesem Elend?“ kann ich antworten: Er ist mitten unter diesen Menschen. Er hat sein Zelt mitten unter ihnen aufgeschlagen. Vielleicht bei dem alten Mann, dem seine Herde verdurstet ist und der vor dem Hunger fliehen musste. Oder bei der Mutter mit den drei kleinen Kindern, deren Mann im Bürgerkrieg getötet wurde und die nur das Nötigste retten konnte. Gott ist beweglich, denn er will unter den Menschen sein, gerade unter denen, die arm sind, die leiden oder kein festes Dach über dem Kopf haben. Deshalb ist das Zelt sein Symbol, nicht der Palast.
Wenn ich wieder im Odenwald bin, will ich nachsehen, ob das Zelt noch steht. Das Dach ist sicher längst repariert, aber es würde mich freuen, wenn das Zelt noch da wäre. Als Zeichen der Gegenwart Gottes. Und wenn es weg ist – auch nicht schlimm. Dann hat Gott gewiss sein Zelt wo anders aufgeschlagen.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=37296Von der bemerkenswerten Gesprächsbereitschaft Gottes erzählt die Bibel heute im katholischen Gottesdienst: Das Volk Israel ist aus Ägypten geflohen, aber jetzt hängt es in der Wüste fest. Sein Vertrauen in den unsichtbaren Gott ist geschwunden. Sie wollen lieber einen sichtbaren Gott wie die anderen Völker auch. Deshalb gießen sie sich ein Kalb aus Gold und verehren es als ihren neuen Gott.
Gott sieht das und hat - gelinde gesagt – dieses störrische und jetzt auch abtrünnige Volk endgüldtig satt. Er will es vernichten. Doch Moses, der Führer der Israeliten, ist gerade auf dem Berg Sinai, um mit Gott zu sprechen. Er fängt eine Debatte mit Gott an: Willst du wirklich dieses Volk und damit dein eigenes Werk vernichten? Und Gott lässt mit sich reden und verzichtet auf die Vernichtung Israels.
Gott lässt mit sich reden. Das kommt in der Bibel öfter vor. Abraham diskutiert mit Gott, ob er wirklich die ganze Stadt Sodom auslöschen will, wenn da vielleicht noch zehn gerechte Menschen leben. Und Gott gibt nach, okay, wenn sich zehn Gerechte finden, bleibt Sodom verschont.
Auch Jesus lässt mit sich reden. Eine heidnische Frau will, dass er ihre Tochter heilt. Er aber sieht sich nur zu den Kindern Israels gesandt. Doch die Frau lässt nicht locker und argumentiert: So wie selbst die Hunde im Haus von den Brotkrumen was abbekommen, die vom Tisch fallen, so muss doch auch für mich was abfallen. Und Jesus lässt sich überzeugen und heilt die Tochter.
Offenbar machen Menschen die Erfahrung, dass Gott mit sich reden lässt. Gott ist so groß und souverän, dass er Entscheidungen überdenkt und zurücknimmt. Der allmächtige Gott der Bibel ist nicht willkürlich oder stur. Er hält nicht kleinlich fest an einmal gefassten Entscheidungen. Sondern er zeigt sich zugänglich für Fragen und Argumente. Ich finde dieses Gottesbild sehr hilfreich, geradezu anrührend. Natürlich ist das eine sehr menschliche Vorstellung von Gott. Doch offenbar beruht sie auf so starken und echten religiösen Erlebnissen, dass die Bibel es wert findet sie zu berichten. Deshalb vertraue ich darauf, dass ich Gott nicht nur alles erzählen kann - das ist eine Binsenweisheit. Sondern dass ich sogar mit ihm diskutieren kann. Denn Gott lässt mit sich reden.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=37295Im ehemals deutschen Sudetenland, das jetzt zu Tschechien gehört, findet man die Reste eines alten deutschen Dorfes. Nur noch ein paar verwilderte Apfelbäume erinnern daran, dass hier einmal Menschen gelebt haben. Der Name des Dorfes war: „Stillstand“. Der Sturm der Geschichte ist einfach über diesen Flecken Land hinweg gezogen.
„ Stillstand können wir uns nicht leisten!" Das wissen auch viele Katholiken in Deutschland. Gemeinsam haben sie im so genannten Synodalen Weg Bewegung gefordert und Wege aus dem Stillstand gesucht. Vor 11 Tagen war die vorerst letzte Sitzung. Die Ergebnisse hätten in meinen Augen mehr Bewegung vertragen. Gut, dass jetzt die Segnung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften erlaubt wird. Schlecht, dass der Vatikan sich weiter gegen die Weihe von Frauen zu Priesterinnen stellt. Da ist mir noch zu viel Stillstand. Dazu sprudelt mir die unerschöpfliche Quelle Wikipedia noch folgendes Wissen zu:
„Als Stillstand wurde in der Schweiz ein Gremium der evangelisch-reformierten Landeskirche bezeichnet, das zusammen mit dem Pfarrer über anstehende kirchliche Geschäfte beriet und Entschlüsse fasste. Die Bezeichnung Stillstand rührt daher, dass seine Mitglieder jeweils am ersten Sonntag des Monats nach dem Gottesdienst beim Taufstein in der Kirche stehen und warten mussten, bis sie sich mit dem Pfarrer beraten konnten.“
Zitat Ende. Bleibt nur noch anzumerken, dass dieser „Stillstand“ bereits Mitte des 19. Jahrhunderts abgeschafft wurde. Und alle, die glauben, die göttlichen Wahrheiten stünden unumstößlich still, möchte ich an den Hl. Geist erinnern. Der “weht” bekanntlich wann und wo er will. Die Bibel sagt sogar, er weht mit einem Brausen. Und das hat mit Stillstand nun mal gar nichts zu tun.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=37329“Maß halten!” Dazu ermahnte heute vor 61 Jahren Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard die Deutschen. Denn das Bruttoeinkommen eines Arbeitnehmers hatte sich gegenüber dem Vorjahr um durchschnittlich 10,1 Prozent erhöht. Gleichzeitig aber war die Arbeitsproduktivität nur um rund fünf Prozent gestiegen. Da sah Erhard, der Ziehvater der sozialen Marktwirtschaft, die Gefahr: "Wir können nicht doppelt so viel verdienen, wie wir an Werten schaffen". Was würde er heute wohl sagen? Bei den Summen, die unser Staat zur Verfügung stellt, um "Schieflagen" zu kompensieren, die Bundeswehr aufzurüsten, noch mehr Straßen zu bauen und neue Heizungen zu subventionieren. Und das alles mit Geld, das gar nicht existiert. Mir wird da ehrlich gesagt manchmal ganz schwindelig. Und ratlos bin ich obendrein, denn ich weiß auch nicht, wie man es anders machen könnte.
Da habe ich in einer Wallfahrtskapelle in unserer Nähe so genannte “Kopfwehkronen” entdeckt. Die bestehen aus zwei Ringen und erzählen von einem ganz eigenartigen Brauch aus dem Mittelalter. Man setzte einem Kranken diese Ringe auf den Kopf und hat ihn damit vermessen. Stimmten die Maße von der Stirn zum ersten Halswirbel und vom Kinn zum Scheitel nicht überein, so hieß das, dass man das „rechte Maß verloren“ hatte und es gab eine Erklärung für die Krankheit.
Das macht natürlich heute niemand mehr, aber das Wortspiel finde ich interessant. Die Klimaerwärmung zwingt die ganze Menschheit dazu, über das „rechte Maß“ nachzudenken, darüber, wie „maßlos“ gerade wir mit Rohstoffen umgehen und die Umwelt belasten. Die Folgen von Corona und der Ukrainekrieg zeigen schmerzhaft, was es bedeutet, wenn etwas total aus dem Lot gerät, wenn die Maße nicht mehr stimmen. Dann ist nicht nur ein einzelner Mensch krank, dann krankt das ganze Gesellschaftssystem.
Ich sitze in der Kapelle und weiß auch, dass ich mit diesen Gedanken nicht die Welt retten kann. Aber es hilft, wenn ich mir mal eine halbe Stunde Zeit nehme und manches einfach auch in Gottes Hand legen kann. Denn dann merke ich, dass ich allein nicht das Maß aller Dinge sein muss.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=37328Ich werde mehr und mehr ein Gefühl nicht mehr los: Ich glaube, ich muss mir auf meinen alten Tage wieder die Haare lang wachsen lassen. Und wenn das nicht reicht, dann nehme ich eine Woche Urlaub, lege ich mich ins Bett und lade zu einer Pressekonferenz ein. Genau das haben Beatle John Lennon und seine Frau Yoko Ono gemacht, nach ihrer Hochzeit am 20. März 1969, heute vor 54 Jahren. Ihre Hochzeitsreise haben sie zu einem Happening für den Frieden gemacht. Auf dem Höhepunkt des Vietnamkrieges. Sie legten sich in der Präsidentensuite des Amsterdamer Hilton Hotels unter die Decke und hielten Hof für zahllose Journalisten. In seinem Lied "The Ballad of John and Yoko" hat Lennon diese Aktion in einigen Zeilen verewigt: "Haben eine Woche im Bett geredet, die Medienleute fragten: Hey, was macht Ihr da?" Ich sagte: “Wir wollen nur ein bisschen Frieden für uns schaffen." Oh Mann, was würden die beiden heute wohl machen? Ich weiß es nicht. Und ich bin mir noch nie so rat- und hilflos vorgekommen wie jetzt. Denn ich kann mir die Frage: “Was kann, was muss man tun, um Frieden in der Welt zu schaffen?” nicht befriedigend beantworten. Zu verstörend und bedrohlich ist für mich der Krieg Russlands gegen die Ukraine. Aber eins ist klar: Einsatz für Frieden ist keine , kuschelige und warme Angelegenheit, selbst wenn man sich für den Frieden ins Bett legt. John Lennon hat das in der Ballade von John und Yoko geahnt. Da singt er: „Christus, du weißt, das Leben ist nicht einfach, du weißt, wie hart es sein kann. So wie die Dinge laufen, werden sie mich kreuzigen“. Er hat Recht behalten. Im Dezember 1980 wurde John Lennon auf offener Straße erschossen . Grausam. Aber seine Botschaft bleibt lebendig. Hoffnung trotz aller Ratlosigkeit: „Give peace a chance. Gib dem Frieden eine Chance.“