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SWR2 Wort zum Tag

04APR2024
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Vor einhundert Jahren ist der Schriftsteller Franz Kafka im Alter von vierzig Jahren gestorben. Eine seiner Geschichten ist mir besonders in Erinnerung geblieben. Da erzählt einer von einer langen Reise, zu der er aufbricht:

Ich befahl, mein Pferd aus dem Stall zu holen. In der Ferne hörte ich eine Trompete blasen, ich fragte den Diener, was das bedeutete. Er wusste nichts und hatte nichts gehört.
Beim Tor hielt er mich auf und fragte: „Wohin reitet der Herr?“ „Ich weiß es nicht“, sagte ich, „nur weg von hier. Immerfort weg von hier, nur so kann ich mein Ziel erreichen.“
„Du hast keinen Essvorrat mit“, sagte er. „Ich brauche keinen“, sagte ich, „die Reise ist so lang, dass ich verhungern muss, wenn ich auf dem Weg nichts bekomme.“

Der Erzähler, das wird sofort klar, bricht nicht zu einer Urlaubsreise auf. Es geht um die ungeheure Reise eines ganzen Lebens. Als Jude sind Kafka die Geschichten der hebräischen Bibel vertraut. Da gibt es auch diesen ungeheuren Aufbruch des Volkes Israel aus der Sklaverei in Ägypten. Endlose Wege durch die Wüste. Da hilft kein Proviant, den man mitgebracht hat. Also muss ich unterwegs etwas Nahrhaftes finden.

Weil der Weg endlos erschienen ist, begann das Volk an Gott zu zweifeln. Da ließ Gott, so erzählt die Bibel, Manna vom Himmel fallen. Manna war eine besondere Speise. Man konnte sie nicht aufheben. Sie reichte immer nur für einen einzigen Tag.

Auch in Kafkas Geschichte sagt der Erzähler: Ich muss verhungern, wenn ich auf dem Weg nichts bekomme. Ich kenne das auch. Dass ich täglich neu finden muss, was ich brauche - an Motivation, an Kraft und an Energie.

Jeden Tag bin ich angewiesen darauf, dass jemand mit mir teilt, was er hat. An Wissen, an Erfahrung, auch an Wasser und Brot. Und umgekehrt: dass andere schätzen, was ich beisteuern kann.

Dann kann ich los gehen. Ins Ungewisse, aber voller Vertrauen, dass Gott mich finden lässt, was ich für diesen Tag brauche.

Vielleicht mit so einem Gebet: „Ich bitte dich, Herr, um die große Kraft, diesen kleinen Tag zu bestehen. Um auf dem großen Wege zu dir, einen kleinen Schritt weiterzugehen.“

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SWR2 Wort zum Tag

Vor fast genau 125 Jahren, im Juli des Jahres 1883, wurde er in Prag geboren: Franz Kafka. Eine seiner kürzesten Geschichten ist mir seit meiner Schulzeit in Erinnerung geblieben.

Sie heißt „Der Aufbruch“:
„Ich befahl mein Pferd aus dem Stall zu holen. Der Diener verstand mich nicht. Ich ging selbst in den Stall, sattelte mein Pferd und bestieg es. In der Ferne hörte ich eine Trompete blasen, ich frag-te ihn, was das bedeute. Er wusste nichts und hatte nichts gehört.“
Beim Tore hielt er mich auf und fragte: „Wohin reitest du, Herr?“ „Ich weiß es nicht“, sagte ich, „nur weg von hier. Immerfort weg von hier, nur so kann ich mein Ziel erreichen“.
„Du hast keinen Eßvorrat mit“, sagte er. „Ich brauche keinen“, sagte ich, „die Reise ist so lang, dass ich verhungern muss, wenn ich auf dem Weg nichts bekomme. Kein Eßvorrat kann mich retten. Es ist ja zum Glück eine wahrhaft ungeheure Reise.“

Das ist kein Aufbruch zu einer Ferienreise. Hier geht es um die ungeheure Reise eines ganzen Lebens. Kafka war Jude. Als Jude kannte er die unge-heure Reise, mit der sich das Volk
Israel aufmachte auf den Weg aus der Sklaverei ins gelobte Land.
Der Weg aber führte durch die Wüste. Was man von den Fleischtöpfen Ägyptens an Proviant mitgebracht hatte, war irgendwann aufgezehrt. Auch die Lebensweisheiten, die man in gesicherter Umgebung erworben hatte, halfen nicht weiter.
Das Volk begann zu zweifeln und zu rebellieren. Hatte man sich nicht für den falschen Weg entschieden? Da ließ Gott seinem Volk Manna vom Himmel fallen. Es war eine Speise, die die Israeliten in der Wüste fanden. Das Besondere daran: man konnte sie nicht aufheben. Es gab nur soviel, dass es für einen Tag reichte.

„Die Reise ist so lang, dass ich verhungern muss, wenn ich auf dem Weg nichts bekomme“, heißt es in Kafkas Geschichte. Das ist wahr. Ich bin an-gewiesen auf Menschen, die mir unterwegs begegnen. Auf das freundliche Wort genauso wie die hilfreiche Auskunft, wo es weitergeht. Ich bin an-gewiesen darauf, dass jemand mir mitteilt, was er hat, an Wissen, an Weis-heit, auch an Wasser und Brot. Ich bin angewiesen darauf, dass ein Engel am Weg steht, immer wieder einmal, der mich, wenn es eng wird, geleitet.
Dann kann ich losgehen. Ins Ungewisse, aber voller Vertrauen darauf, dass Gott mich finden lässt, was ich für diesen Tag brauche.
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SWR1 Anstöße sonn- und feiertags

14MAI2023
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Franz Kafka ist ein berühmter Schriftsteller. Seine Werke zählen zur Weltliteratur. Zu Lebzeiten aber war Kafka ein unglücklicher Mensch. Sein Beruf als Angestellter bei einer Versicherung war eine Qual für ihn. Noch als Erwachsener hat er mit seinen Eltern und Geschwistern zusammengewohnt, sich gleichzeitig aber schrecklich unwohl dabei gefühlt. Vor allem mit dem Vater gab’s ständig Streit. Wie gern hätte er geheiratet. Aber im nächsten Augenblick hielt er sich für ungeeignet für eine Ehe. Freundschaften sind wieder zerbrochen, Verlobungen aufgelöst worden. Erfüllung fand er am ehesten noch beim Schreiben. Aber auch das war ein ständiger Kampf. In seinen Tagebüchern kann man das gut nachlesen. Was er da schreibt, scheint zu bestätigen: Der Mann war unglücklich. Und das wundert mich auch nicht. Seine Probleme kennen viele.

Kafka hat versucht zu verstehen, weshalb das bei ihm so ist. Er kam zur Überzeugung, dass über allem ein unbeugsames Gesetz steht, das ihn wie ein Fallbeil bedroht. Ein Gesetz, das auf keinem Papier steht, sondern in ihm lebt. Eine schreckliche Vorstellung! Dass ich meinem Schicksal nicht entkommen kann. Dass es keine Lösung gibt. Nach diesem Gesetz muss ich dauernd versagen, und am Ende als Mensch scheitern. Wenn ich einen Fehler mache, werde ich in die Pfanne gehauen. Wo ich mir etwas zu Schulden kommen lasse, muss ich dafür büßen. Und ernte am Ende noch Spott und Häme. So schreibt es dieses ungeschriebene Gesetz vor. Wie oft haben mir Menschen ihr Herz ausgeschüttet, weil sie darunter zu leiden hatten. Ja, sie hatten einen Fehler gemacht. Das sahen sie ein. Etliche haben versucht, sich zu entschuldigen. Und sind dann gegen eine Wand gelaufen, die kalt und abweisend war. Sie hatten so sehr darauf gehofft, dass ihnen vergeben wird. Und dann…?

Franz Kafka beschreibt in seinen Büchern diesen Mechanismus. Und drückt damit auch aus, was fehlt. Es sollte kein Gesetz geben, das Menschen wie austauschbare Nummern behandelt. Keiner sollte sich über den anderen erheben. Jeder sollte immer eine zweite Chance bekommen. Wer in diesem Gesetz gefangen ist, muss unglücklich werden. Um leben zu können, braucht der Mensch mehr: Vergebung, Barmherzigkeit, Liebe – so heißen wohl die Begriffe dazu. Im Christentum gibt es die. Und es ist höchste Zeit, dass auch die Kirche sich mehr um sie kümmert – als um jenes unerbittliche Gesetz.

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Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

14FEB2020
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„Alles, was du liebst, geht sehr wahrscheinlich verloren.“ Das sagt Franz Kafka.

Ein harter Satz. Noch dazu heute am Valentinstag, dem Tag für Verliebte und Liebende.

Ich will den Tag niemandem vermiesen, aber ich weiß, dass er für manche schwer ist. Für die, die sich gerade getrennt haben. Oder für die, die sogar den Tod eines geliebten Menschen verkraften müssen. Dann weiß man nur zu gut, wie es sich anfühlt, das verloren zu haben, was man liebt.

„Alles, was du liebst, geht sehr wahrscheinlich verloren.“

Ich bin keine Kafka-Expertin. Aber wenn jemand so einen Satz schreibt, vermute ich, dass derjenige weiß, was es bedeutet, etwas Liebgewonnenes zu verlieren. Wie weh das tun kann.

In einer Geschichte, in der Kafka selbst die Hauptperson ist, entdecke ich aber noch etwas Anderes. Darin wird deutlich, dass die Liebe sich mit dem Leben verändert. Und dass sie Wege findet, mit denen ich nicht gerechnet habe.

Und so geht diese Geschichte:

Kafka trifft im Park ein Mädchen, das herzzerreißend weint, weil es seine Puppe verloren hat. Und weil das Mädchen allein unterwegs ist, bietet er an, bei der Suche nach der Puppe zu helfen. Die beiden suchen und suchen, können die Puppe aber nicht finden. Um das Mädchen zu trösten, schreibt er im Namen der Puppe einen Brief. Darin steht: „Bitte weine nicht, ich bin auf eine Reise gegangen, um die Welt zu sehen. Ich werde dir von meinen Abenteuern schreiben …“.

Das ist der Anfang vieler Briefe.

Immer wieder treffen sich Kafka und das Mädchen und jedes Mal liest er ihr einen Brief vor, in dem die geliebte Puppe von ihren Abenteuern berichtet. Als die Treffen irgendwann zu Ende gehen, schenkt er dem Mädchen zum Abschied eine neue Puppe. Doch anstatt sich zu freuen, ist die Kleine enttäuscht und sagt: "Die sieht meiner Puppe überhaupt nicht ähnlich“. Kafka ist darauf vorbereitet und übergibt ihr einen weiteren Brief, in dem die Puppe erklärt: „Meine Reisen – sie haben mich verändert … “

Viele Jahre später findet das inzwischen erwachsene Mädchen einen Brief in einem vorher unbemerkten Riss im Handgelenk der Puppe. In diesem winzigen Brief steht: „Alles, was du liebst, geht sehr wahrscheinlich verloren, aber am Ende wird die Liebe auf andere Weise zurückkehren.“

Besser hätte ich meine Hoffnung auf Gottes Liebe in meinem Leben und darüber hinaus auch nicht ausdrücken können.

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Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

Der Dichter Franz Kafka hat gesagt: „Wege entstehen dadurch, dass man sie geht.“ Wenn ich an den modernen Straßenbau denke, passt der Satz überhaupt nicht. Es gibt in Deutschland einen genauen und komplizierten Verkehrswegeplan. Der legt fest, wann und wo eine Straße gebaut wird. Da kann keiner kommen und einfach einen Weg entstehen lassen.

Kafka konnte natürlich keine Ahnung davon haben, wie man heute beim Straßenbau plant. Aber von den Wegen, die das Leben so nimmt, davon hat er etwas verstanden. Weil er selbst mehr als genug Erfahrungen dazu gesammelt und sie anschließend als Schriftsteller in seinen Werken verarbeitet hat. Das fängt mit dem Broterwerb an. Von der Schriftstellerei konnte er nicht leben. Sein Geld hat er als eine Art Rechtsanwaltsgehilfe verdient. Eine Arbeit, die ihm regelrecht verhasst war. Auch in der Liebe ist er nicht recht glücklich geworden. Seine Beziehungen zu Frauen waren kompliziert und zu einer Ehe ist es nie gekommen. Und: Sein jüdischer Glaube hat ihm auch nicht geholfen. Gott hat er eher als Last denn als Hilfe erfahren.

Wege entstehen dadurch, dass man sie geht. Für Kafka ist das ein typischer Satz. Auf den breiten Straßen des bekannten und „normalen“ Lebens hat er sich nicht wohl gefühlt. Kein Wunder, dass er neue Wege gehen musste. Und wie findet man die? Mit seinem Spruch gibt Kafka den Rat, es einfach auszuprobieren. Nicht zu warten, bis uns einer den roten Teppich ausrollt, sondern den ersten Schritt selbst zu wagen - auch in neue und unbekannte Gegenden hinein.

Ein junger Mann aus meinem Bekanntenkreis war nach seinem Abitur ein Jahr lang in Lateinamerika. Seine Eltern hatten große Sorgen, ob das alles gut geht, allein und in der Fremde. Und er selbst hatte anfangs auch ein mulmiges Gefühl. Jetzt, da er wieder zurück ist, ist er ein anderer Mensch: selbstbewusst und aufgeweckt und manchmal ein bisschen frech - so wie ich es mir schon früher von ihm gewünscht hätte. Der neue Weg, fernab der bekannten und ausgetreten Pfade, hat ihm gut getan.

Die nächsten Schritte folgen von alleine. Kafka weiß, dass man sich im unwegsamen Gelände schwer tut und hin und wieder umkehren muss, weil es nicht weiter geht. Das gehört dazu, wenn man seinen Weg finden will. Seinen ganz persönlichen, den kein anderer so gehen kann.

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SWR2 Wort zum Tag

29OKT2019
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Es gibt bekanntlich immer mehr Menschen, die sich nicht religiös verstehen und trotzdem putzmunter sind, Gottseidank. Sie haben mit Kirche nichts am Hut und mit christlichem Glauben auch nicht. Das galt auch für Franz Kafka, der seine jüdische Religion hinter sich gelassen hatte. Umso erstaunlicher ist folgende Notiz von ihm: „Dass es uns an Glauben fehle, kann man nicht sagen. Allein die einfache Tatsache unseres Lebens ist in ihrem Glaubenswert gar nicht auszuschöpfen.“ Und als wollte er sich selbst gleich den Einwand mitliefern, fügt er hinzu: „Hier wäre ein Glaubenswert? Man kann doch nicht nicht-leben.“ Eine erstaunliche Auskunft. Kafka meint ja nicht nur die simple Tatsache der Evolution, dass alles Lebendige am Leben hängt und um das Überleben kämpft. Nein, so etwas wie Urvertrauen ist in jedem Leben im Spiel, eine Zustimmung zum Dasein ganz ursprünglich. So wie es Eltern ausdrücken, die ihr gestürztes Kind tröstend in die Arme schließen. Wie selbstverständlich sagen sie dabei: „es wird doch alles wieder gut“. Was für ein elementares Vertrauen, was für ein Lebensglaube. „Man kann doch nicht nicht-leben.“ Schon diese Tatsache hat Glaubenswert.

Kafka hat solch nachdenkliche Notizen mitten im Umbruch seines Lebens aufgeschrieben, das gibt ihnen noch mehr Gewicht. Nach dem Ausbruch seiner schließlich tödlichen Krankheit – Tbc war damals das, was heute Krebs ist – macht er sich Gedanken über Leben und Tod. Neu und tiefer kommt er zur Überzeugung, dass es in jedem Menschen etwas Unzerstörbares gibt. Und eben davon spricht der Lebensglaube - auch bei denen, die sich nicht religiös verstehen. Deshalb sagt man, die Hoffnung sterbe zuletzt, wenn sie überhaupt stirbt. Da ist dieser basale Lebensglaube. Man könnte paradox sagen: auch wer nicht glaubt, glaubt an etwas, sonst könnte er nicht leben. Und dieses Etwas kann nicht schlecht sein.

Nochmal Kafka: „Der Mensch kann nicht leben ohne ein dauerndes Vertrauen zu etwas Unzerstörbarem in sich, wobei sowohl das Unzerstörbare als auch das Vertrauen ihm dauernd verborgen bleiben können. Eine der Ausdrucksmöglichkeiten dieses Verborgen-Bleibens ist der Glaube an einen persönlichen Gott.“

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SWR2 Wort zum Tag

30OKT2019
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Reformationstag, Allerheiligen, Allerseelen – diese Gedenktage am Ende der Woche werfen ihre Schatten voraus, nicht nur im Terminkalender. Im Blick auf die Toten stellen sich ernste und vielleicht letzte Fragen. Da mag folgende Notiz von Franz Kafka, dem großen Dichter, zu denken geben. Er sah sich selbst ja am Ende von Judentum und Christentum und wurde ein hellsichtiger Diagnostiker der Gegenwart. Nach Ausbruch seiner tödlichen Krankheit notierte er, und nur auf den ersten Blick wirkt das wie schwarzer Humor: „Ein erstes Zeichen beginnender Erkenntnis ist der Wunsch zu sterben. Dieses Leben scheint unerträglich, ein anderes unerreichbar. Man schämt sich nicht mehr, sterben zu wollen; man bittet, aus der alten Zelle, die man hasst, in eine neue gebracht zu werden, die man erst hassen lernen wird. Ein Rest von Glauben wirkt dabei mit, während des Transportes werde zufällig der Herr durch den Gang kommen, den Gefangenen ansehen und sagen: `Diesen sollt ihr nicht wieder einsperren. Er kommt zu mir.“

Natürlich widerspricht solch ein Text dem normalen Lebensgefühl. Da soll es fröhlich zu gehen und positiv, und die Sache mit Sterben und Tod ist weit weg. Solch ein Thema am frühen Morgen anzuschneiden, wirkt fast ungehörig. Und die Welt als ein einziges Gefängnis zu betrachten, klingt auch ziemlich düster. Aber Hand aufs Herz. Gibt es nicht unleugbar Situationen, wo das Leben schier unerträglich wird, nicht nur in Krisen oder Depression? Die Welt erscheint tatsächlich wie ein Irrsinn, in den wir eingesperrt sind, ausweglos und nicht zu retten. Absurd das Ganze, und ein elendes Hamsterrad der Langeweile, und schon das Aufstehen ist mühsam. Da kann schon der Wunsch auftauchen, dass endlich Schluss ist. Warum verdrängen, dass ich womöglich lebensmüde bin und einfach keine Lust mehr habe. Kafka jedenfalls schrieb offenkundig aus eigener Erfahrung. Umso erstaunlicher ist bei seinem Bild vom Gefangenentransport von einer Zelle in eine andere dieser Rest von Glauben! Mitten im ausweglosen Leben doch die verrückte Hoffnung, dass es Rettung gibt. Dass da einer auftaucht - ist es der Chef, ist es jemand von außerhalb? Dass er sagt: „der kommt zu mir“, der bleibt bei mir. Kafka nimmt ein uraltes Hoffnungsbild auf, er – der Nachjude und Nichtchrist - spricht vom „Herrn“. Der hat für Christen einen Namen und ein Gesicht, und deshalb ist dann von Gefängnis keine Spur mehr. Jesu Weg führt ins Freie – und schon jetzt ist sein Wort zu hören: „den sollt ihr nicht wieder einsperren, du kommst zu mir“.

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SWR4 Abendgedanken

„Jeder, der sich die Fähigkeit erhält, Schönes zu erkennen, wird nie alt werden“ – schön hat er das gesagt, der Schriftsteller Franz Kafka (1883-1924). Ich vermute, „nie alt werden“, damit meint Kafka wohl: der bleibt innerlich jung und aufmerksam. 

Dieser Gedanke passt auch zum Monat Mai. Die Natur grünt und blüht und ist voller Leben. Das scheint sich auch auf uns Menschen zu übertragen. Der Mai – auch „Wonnemonat“ genannt – ist noch immer der Monat, in dem viele heiraten. So steht der Mai seit jeher für die Schönheit des Lebens – auch wenn es bei weitem nicht nur Schönes gibt. 

Interessant ist ein Blick in die Heilige Schrift. Das Neue Testament geht sehr spärlich mit dem Wort schön um. Es benennt einige Dinge als schön: Blumen und Steine, Perlen und Gestirne, auch Reden. Ganz anders das Alte Testament. Einige Schriftsteller schwelgen geradezu in der Schönheit. Da ist von vielen schönen Dingen die Rede, von Schönem in der Natur, aber auch von schönen Menschen. 

Da kann man lesen: Ester war von schöner Gestalt und großer Anmut.  David hatte schöne Augen. Saul soll jung und schön gewesen sei, so schön, wie kein anderer in ganz Israel. Mit Schönheitsidolen standen uns die alten Israeliten nicht nach. Schöner geht es kaum. 

Bei schön denken wir oft nur an das Äußere. Aber Schönheit hat auch eine Innenseite: charmant und liebenswürdig, harmonisch und ganz - das alles hat mit Schönheit zu tun. Der Dichter und Menschenkenner Goethe (1749-1832) spricht von der „inneren Schönheit“ des Menschen. Die kann durchaus der äußeren schönen Gestalt entsprechen, muss es aber nicht. Es gibt auch den äußeren Schein, der trügt und allemal vergänglich ist. 

Innere Schönheit hat mit Würde zu tun. Jeder Mensch ist einmalig und unverwechselbar. Die Schönheit des Lebens bewundern, uns die Fähigkeit erhalten, Schönes zu erkennen – das heißt auch: über dem äußeren Reiz die innere Würde nicht vergessen. 

Dann verwundert es auch nicht, wenn die Beter der Psalmen im Alten Testament davon singen, wie herrlich und schön Gott ist. Und dass es schön ist, ihn zu loben.

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SWR2 Wort zum Tag

Seid allezeit fröhlich – dazu fordert Paulus eine Gemeinde auf, die sich mit allerlei Fragen und Problemen herumgeschlagen hat. Ich gestehe: In mir regt sich Widerstand gegen diese Aufforderung. Dass es im Leben viele Gründe zur Freude gibt, kann ja nicht geleugnet werden. Aber sich zu jeder Zeit freuen, das kann doch niemand! Und eine ewig lächelnde Frömmigkeit geht einem eher auf die Nerven. - Was könnte Paulus, der selbst viel gelitten hat, mit seiner Aufforderung meinen?

Meine Vermutung ist: Paulus meint mit seinen Worten, die so übertrieben klingen, eine Einstellung zum Leben, eine Sicht, in der man die Gründe zur Freude nicht aus den Augen verliert, auch wenn man das Belastende im Leben nicht übersieht. Eine ganz andere Sicht kann man bei Franz Kafka finden, an dessen 125. Geburtstag wir in diesem Jahr denken. Er beschreibt sie in einem bedrückenden Bild: Wir sind, mit dem irdisch befleckten Auge gesehen, in der Situation von Eisenbahnreisenden, die in einem langen Tunnel verunglückt sind, und zwar an einer Stelle, wo man das Licht des Anfangs nicht mehr sieht, das Licht des Endes aber nur so winzig, dass der Blick es immerfort suchen muss und immerfort verliert, wobei Anfang und Ende nicht einmal sicher sind. Er fügt dann hinzu: Was soll ich tun? Oder: Wozu soll ich es tun? sind keine Fragen dieser Gegenden. Und Freude ist hier schon gar nicht am Platz! Eine verzweifelte Sicht des Lebens! Aber gibt es einen Menschen, der sie nicht auch kennt, der sein eigenes Leben nicht auch schon so gesehen hat?

Kafka meint, man sehe das Leben so mit dem irdisch befleckten Auge. Meint er, dass eine solche Sicht des Lebens mit unserem „befleckten“ Menschsein, mit unseren Grenzen und unserem Scheitern zusammenhängt? – Nicht von ungefähr verbindet Paulus seine Aufforderung, allezeit fröhlich zu sein, mit zwei weiteren: Betet ohne Unterlass! Seid dankbar in allen Dingen! Wer betet, kann alles vor Gott bringen, auch Leid, Schmerzen, sein Scheitern - und kann die damit verbundene Verzweiflung bei ihm abladen. Wer Gottes Liebe glaubt, kann danken – vor allem für sie, aber dann auch für alles Gute im Leben. Durch Danken übersieht man nicht das Gute neben allem Schweren und manchmal entdeckt man es sogar in ihm. Das alles bedeutet nicht, dass nicht auch Christen das Lachen vergehen kann, dass sie im Leid klagen und schreien. Aber durch Beten, durch Danken - und durch das Vertrauen auf Gott und seine Güte wird es letztlich bei einer Sicht des Lebens bleiben, die dann möglich macht zu singen: In dir ist Freude in allem Leide, allezeit! https://www.kirche-im-swr.de/?m=4207
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SWR4 Feiertagsgedanken

08JUN2023
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Die letzte Erzählung, die Franz Kafka zu seinen Lebzeiten veröffentlicht hat, heißt „Ein Hungerkünstler“. Am heutigen Fronleichnamstag kommt mir diese Erzählung in den Sinn. Weil sie uns etwas über den Hunger der Menschen auf das Leben erzählt. Und der spielt an Fronleichnam eine große Rolle. Dieser Hungerkünstler ist eine seltsame Gestalt. Auf Jahrmärkten hat er große Auftritte gehabt und große Zeiten erlebt. Die sind jetzt vorbei. Mit dem Hunger leben zu können, ist uninteressant geworden. Der Wohlstand ist ausgebrochen, die Massen rennen im Zirkus achtlos am Hungerkünstler vorbei. Der Mann mit seiner Kunst, den Hunger wachzuhalten, wird vergessen. Man entdeckt ihn eines Tages zufällig beim Aufräumen in seinem Hungerkäfig. Er hungert noch immer – und die Leute denken, er will sich nur interessant machen. Erst im Gespräch mit dem Aufseher kommt heraus, was hinter seiner eigentümlichen Kunst zu verzichten steckt: Nichts von Geltungssucht, nichts von Wichtigtuerei! Er hat gar keine andere Wahl: “Ich kann nicht anders!”, sagt der Hungerkünstler, „weil ich nicht die Speise finden konnte, die mir schmeckt. Hätte ich sie gefunden, glaube mir, ich hätte kein Aufsehen gemacht und mich vollgegessen wie Du und alle.“

Die Geschichte endet mit einem offenen Schluss. Es wird nicht gesagt, nach welcher Speise dieser Mensch hungert. Offensichtlich konnte er nicht finden, was er die ganze Zeit gesucht hatte. Sicher ging es ihm nicht nur um dieses oder jenes Brot oder nur um leibliche Nahrung. Sein Hunger scheint grundsätzlicher zu sein. Er bräuchte nicht nur etwas zwischen die Zähne und für den Magen. Er bräuchte Nahrung für seine Seele.

Wie alle übrigen Menschen lebt auch er nicht vom Brot allein. Er will anerkannt werden, respektiert sein und in dem, was er ist, wertgeschätzt werden. Ich glaube dieses Verlangen, dieser Hunger lebt in jedem Menschen. Jeder von uns kennt ihn.

“Hunger auf Leben“ habe ich einmal auf einem geschickten Werbeplakat einer Bäckerei gelesen. Hunger auf Leben ist mehr als Hunger auf Brot. Ich frage mich: In welcher Bäckerei sollte ich diesen Hunger auf Leben stillen können?

Es geht heute um ein kleines Stück Brot, das für die katholischen Gemeinden im Mittelpunkt steht. Sie glauben, dass in der Hostie, in diesem kleinen Brot, Jesus Christus bei ihnen da ist. Sie feiern deswegen ein buntes und fröhliches Fest. Gottesdienste und feierliche Prozessionen finden im Freien, in aller Öffentlichkeit statt. Menschen gehen buchstäblich auf die Straße, um vor aller Welt zu zeigen, was für sie das Wichtigste ihres Glaubens ist: Ein kleines Stück Brot. Sie nennen es Brot des Lebens und schauen ehrfürchtig auf die Monstranz, in deren Mitte das Brot aufbewahrt wird und für die Menschen sichtbar bleibt.

Fronleichnam ist ein traditionsreiches Fest. Die Augen bekommen viel zu sehen und manch einer mag fasziniert sein, andere wieder abgestoßen von einem scheinbar fremden Spektakel. Aber mit den Augen sieht man eben das Entscheidende nicht. Das kleine Brot hinter der Scheibe ist nicht alles. Viel wichtiger und zentraler ist, was dieses Brot beinhaltet und was es bedeutet. Es erinnert an das Abschiedsmahl Jesu vor seinem Tod. Damals nahm er Brot in seine Hände, segnete es, brach es, gab es seinen Jüngern mit den Worten: nehmt und esst das ist mein Leib. Damit hat er den Jüngern gezeigt, wie er sein Leben verstanden hat: Das bin ich für euch: ein Mensch, der sich für andere austeilt wie Brot, einer der sogar sein Leben für andere hingibt.

Jesus verteilt mehr als einen Bissen Brot. Er teilt mit den anderen sein Vertrauen in Gott, seine Liebe zu jedem, ohne Wenn und Aber, und er teilt mit ihnen seine große Hoffnung. Seine Hoffnung, dass teilen nicht ärmer macht, sondern unsere Welt zum Besseren verändert.

Das alles steckt in dem kleinen Brot in der Monstranz. Hier verkörpert sich das ganze Leben Jesu. Er hält den Hunger nach einem guten und gerechten Leben wach und setzt sein eigenes Leben ein und weiß wie kein anderer, was die Menschen brauchen: Natürlich das tägliche Brot aber auch die Nahrung für ihre Seele. Den Abgeschriebenen und Ausgestoßenen sagt er, dass sie bei Gott dazugehören. Den Ungeliebten und Unerwünschten zeigt er, wie willkommen sie sind und die Gescheiterten spüren, dass sie keine hoffnungslosen Fälle sind. Er kennt den vielfachen Hunger auf Leben und gibt jedem Menschen das richtige Brot. Wer nach einem erfüllten und guten Leben hungert, ist bei ihm an der richtigen Adresse.

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