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SWR Kultur Wort zum Tag

27JUN2022
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Jetzt werden die Tage nach der Sommersonnenwende und dem Johannistag am 24. Juni wieder kürzer. „Er muss wachsen, ich aber muss abnehmen,“ hat Johannes der Täufer über Jesus gesagt. Deshalb hat man ihm später einen Geburtstag zur Zeit der Sommersonnenwende zugewiesen. Das Johannesevangelium zeichnet das Bild eines demütigen Johannes, der mit dem eigenen Bedeutungsverlust wunderbar zurechtkommt und Jesus neidlos die größere Bedeutung zuerkennt. Wahrscheinlich hat die Realität anders ausgesehen, und es hat durchaus Konflikte zwischen den Jüngern des Johannes und den Jüngern Jesu gegeben.

In der Realität des Lebens fällt das vielen Menschen ebenso schwer. Einige Erben von Familienunternehmen können unendliche Geschichten davon erzählen, wie sich die Alten nur mühsam aus dem operativen Geschäft zurückziehen oder noch aus dem Ruhestand heraus die Firma kontrollieren wollen. Und auch viele Pfarrerinnen und Pfarrer im aktiven Dienst können ein Lied davon singen, wie schwierig es ist, wenn sich der Vorgänger oder die Vorgängerin weiterhin in das Gemeindeleben einmischt.

Natürlich bin ich in der Tiefe meines eitlen Herzens auch der Ansicht, dass ich die Weisheit mit Löffeln gefressen habe. Doch spätestens die Geburt meiner Enkelin hat mir klar gemacht, dass meine Sommersonnenwende gekommen ist. Meine Tage werden kürzer, und eine neue Generation wächst heran, die das Recht auf ihre eigene Sicht auf das Leben hat und sich nicht darüber freut, wenn Omi sich ständig einmischt. „Er muss wachsen, ich aber muss abnehmen.“ Der Satz könnte eine Hilfe sein: Entspannt damit umzugehen, dass jetzt andere in der ersten Reihe stehen.

Gut, den Kopf soll es mich nicht kosten, da ist Johannes kein schönes Vorbild. Aber einem gelassenen Umgang mit dem eigenen Bedeutungsverlust kann ich einiges abgewinnen. Es hat doch auch was, ein paar Schritte zurückzutreten und mit Neugier zu schauen, was denn die nächste Generation so für Ideen hat, um die Welt zu gestalten, auch meine Kirche. Schließlich war meine eigene Generation in der Bewältigung vieler Herausforderungen nicht unbedingt übermäßig erfolgreich und hat wichtige Fragen verschlafen. Gut, wenn es da ein paar neue Inspirationen gibt. Ich kann mir vorstellen, dass es sogar richtig spannend sein wird, aus der zweiten Reihe zuzuschauen. Und – warum nicht! - mir dabei auch die ein oder andere spöttische Bemerkung zu erlauben. Aber auch mit Anerkennung und Lob nicht zu sparen!

Und: wenn meine Enkelin tatsächlich einmal Fragen haben sollte, stehe ich ihr mit meiner unendlichen Weisheit natürlich gerne zur Verfügung.

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SWR Kultur Wort zum Tag

18MAI2022
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Meine kleine Enkelin ist ganz in ihrem Leib zuhause. Sie bewegt sich völlig selbstverständlich in und mit ihrem Körper. Klar, mit 14 Monaten ist man noch flexibler als mit 60 Jahren und ich bekomme meine Zehen nicht mehr so leicht in den Mund wie sie, wenn überhaupt. Aber der größte Unterschied ist doch, dass ich – leider – längst nicht mehr so selbstverständlich eins mit meinem Leib bin wie das kleine Wesen. Ich bewerte meinen Körper, ich schaue ihn von außen an, ich versuche, ihn zu trainieren, ich entdecke ihn nicht freudig, sondern ärgere mich über Speckrollen und Fältchen und entwerte ihn dadurch und letztlich mich selbst. Es ist so schade, dass wahrscheinlich eines Tages auch meiner Enkelin die selbstverständliche Freude an ihrer Leiblichkeit verdorben wird. Noch lebt die Kleine im Paradies leiblicher Selbstverständlichkeit. Doch spätestens in dem Moment, indem sie entdecken wird, dass es Schönheitsideale gibt, denen sie nicht entsprechen kann; oder an dem Tag, an dem sie merkt, dass andere ihr Aussehen bewerten, steht die Vertreibung aus diesem Paradies an. Sehr schade! Denn am Anfang der Schöpfung stand ein anderes Votum. Gott sah an alles, was er geschaffen hatte, und kommt zu dem Schluss: Es war sehr gut!

Angeblich geht der Trend ja nun in die Gegenrichtung. Selbst beim Format „Germanys next Topmodel“ wird Diversität großgeschrieben und auch Frauen meiner Altersklasse haben an der Sendung teilgenommen. Aber wetten, dass die Siegerin weder kurvig noch Ü60 sein wird? Ganz abgesehen davon, dass die Kandidatinnen Ü60 in dem Format alle superschlank sind und in ihrer Jugend als Models tätig waren. Für mich ist die angebliche Diversität in der Schönheitsindustrie daher mit einem großen Fragezeichen versehen, wenn nicht sogar verlogen. Die Angelegenheit wird auch nicht besser dadurch, dass schon die Menschen der Antike ihre Körper optimiert und sich an idealen Proportionen orientiert haben, das Phänomen also keine Erfindung der Moderne oder Postmoderne ist. 

Immerhin: Es gibt die Chance, das Paradies wiederzuentdecken. Z.B. mit einem Menschen, der mich liebevoll anschaut und mich gerade so mag und liebhat wie ich bin. Sogar im nackten und ungeschminkten Zustand. Ich finde, das ist ein himmlisches Geschenk, das mich daran erinnert, dass wir Menschen – jedenfalls in den Augen Gottes – keine Optimierung brauchen, sondern lediglich ganz viel Liebe.

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SWR Kultur Wort zum Tag

17MAI2022
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Meine kleine Enkelin hat ein neues Spiel entdeckt. Es funktioniert so: Sie strahlt Menschen an und winkt ihnen mit ihrem kleinen Händchen zu. Das sieht ein bisschen so aus wie bei der verstorbenen Queen Mum. Bei der bezaubernden alten Dame hat es seine Wirkung nicht verfehlt. So auch bei meiner Enkelin. Sie strahlt, und die Menschen strahlen zurück, meistens jedenfalls. So kann die Kleine problemlos ein ganzes Hotelfoyer oder ein Restaurant bespaßen. Sie ist dann selbst ganz verzückt von den Reaktionen, die sie auslöst. Neulich kamen wir beide an einer Bushaltestelle vorbei. Dort saß ein älterer Mann, mit dem es Leben sichtbar nicht gut gemeint hatte. Die Kleidung war abgenutzt, die Schuhe alt, seine Gesichtszüge wirkten müde und er hatte eine sehr schlecht vernähte Hasenscharte, die wahrscheinlich sein ganzes Leben lang Anlass zu verhohlenem Spott gewesen ist. Meine Enkelin aber hat ihn fröhlich angestrahlt und ihm zugewinkt. Ja, und so wurde ich zur Zeugin einer ganz wunderbaren Verwandlung. Der Mann hat das kleine Mädchen zunächst ungläubig angesehen. Dann leuchtete sein Gesicht auf, seine Gesichtszüge glätteten sich, erblühten förmlich, er fing selbst an zu strahlen und wurde richtig… schön! Es war sehr bewegend. Dann winkte er zurück, ganz vorsichtig, und meine Enkelin war begeistert über sein Winken und hat vor Freude gejauchzt. Ich habe mich gefragt, wann dieser Mann wohl das letzte Mal in seinem Leben so angestrahlt worden ist, wenn denn überhaupt jemals in seinem Leben. Ich bin mir sicher, dass er diesen Moment an der Bushaltestelle in seinem Herzen bewahren wird.

Ausgerechnet an diesem selben Tag haben wir ein altes Ehepaar überholt und meine Enkelin hat auch den beiden aus ihrem Kinderwagen heraus zugewinkt. Und anscheinend haben die beiden überhaupt nicht darauf reagiert oder sogar böse geschaut. Denn plötzlich erlosch das Lächeln im Gesicht des kleinen Mädchens. Es erfror richtig. „Wer weiß, was die beiden für einen Kummer haben,“ habe ich meine Enkelin getröstet, obwohl sie diese Worte noch nicht gar nicht verstehen kann. So wie es kaum zu verstehen ist, dass man einem kleinen lächelnden Kind nicht zurückwinken mag.

Das ist wohl auch der Schmerz, den Gott spürt, wenn Menschen seine Liebe nicht erwidern. Und es ist seine strahlende Freude, wenn es geschieht. An diesem Tag habe ich jedenfalls an der Bushaltestelle ahnen können, wie es wohl ist, wenn Gott uns Menschen anschaut. Und uns anlächelt. Und verwandelt. Zum Jauchzen schön.

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SWR Kultur Wort zum Tag

16MAI2022
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Für Alltagshelden werden in der Regel keine Denkmäler errichtet. Dabei hätten sie es mehr als verdient. Spontan denke ich an eine sehr sympathische Frau aus meinem Bekanntenkreis, die sich um ihre große Familie kümmert, jede Woche in der Tafel ihrer Heimatstadt mitarbeitet und ebenso regelmäßig eine inzwischen demenzkranke Freundin im Altersheim besucht, obgleich diese Besuche auch für sie eine große Herausforderung bedeuten. Die meisten Menschen scheuen vor der Begegnung mit Demenzkranken zurück, und so sind Menschen mit Demenz im Alter häufig einsam. Davor bewahrt meine Bekannte ihre alte Freundin. Sie kommt jede Woche treu im Heim vorbei, singt mit ihr, erzählt ihr Geschichten und opfert ihre Zeit. Für mich ist sie eine wahre Alltagsheldin.

Eine junge Frau hat mir jetzt von einem älteren Ehepaar erzählt, das sich spontan bereit erklärt hat, ihren Sohn stundenweise zu betreuen, damit sie eine wichtige Fortbildung absolvieren kann. Ohne das Engagement der beiden Leute wäre es eng geworden. Die junge Frau ist sehr dankbar. Was für ein Glück, dass es diese beiden Menschen gibt. Ich ernenne die beiden Senioren hiermit zu Alltagshelden.

Viele Alltagshelden erzählen, dass sie auch selbst etwas von ihrem Engagement haben. Die beiden älteren Leute freuen sich über den kleinen Mann, mit dem sie stundenweise spielen. Er hält sie jung. Meine Bekannte freut sich jedes Mal, wenn ihre demente Freundin bei einem Lied mitsingt und sie anlächelt. Sie weiß auch, wie wichtig ihr Engagement in der Tafel für bedürftige Mitbürgerinnen und Mitbürger ist. Alltagshelden geht es nicht um eine win-win-Situation. Sie tun mehr, als sie zurückbekommen. Ganz klar ist das gelebte Nächstenliebe und entspricht dem, was sich Jesus für das Miteinander der Menschen gewünscht hat. Das gilt auch, wenn die Alltagshelden gar keine Christen sind. Ich habe meine Bekannte noch nie gefragt, ob sie an Gott glaubt. Selbst wenn sie nicht gläubig sein sollte – sie handelt christlich. Und ich weiß, dass unsere Gesellschaft unbedingt auf Menschen angewiesen ist, die diese christliche Haltung haben. Nicht nur in den großen Katastrophen wie der Überschwemmung an der Ahr oder dem Krieg in der Ukraine zeigt sich, wie sehr wir auf menschliche Selbstlosigkeit angewiesen sind. Wir brauchen sie täglich. Dringend.

Einer trage des anderen Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen. Dieser Vers aus dem Galaterbrief ist die Losung de Herrnhuter Brüdergemeine für den heutigen Tag. Das klingt anspruchsvoll – und wird doch jeden Tag mit Leben erfüllt und gelebt. Von Alltagsheldinnen und -helden. Ihnen möchte ich heute herzlich Danke sagen.

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09APR2022
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Heute vor 77 Jahren starb Dietrich Bonhoeffer, NS-Gegner, Theologieprofessor, Dichter, hingerichtet knapp einen Monat vor dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Terrorregimes, ein letztes sinnloses Verbrechen eines verbrecherischen Staates. Bonhoeffers Gedanken, seine Theologie, seine Haltung aber konnte kein Galgen brechen oder zerstören. Bis heute schöpfen Menschen Trost und Hoffnung aus den Gedichtzeilen, die er aus dem Gefängnis an seine Verlobte geschrieben hat: Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost was kommen mag, Gott ist bei uns am Abend und am Morgen und ganz gewiss an jedem neuen Tag. Wie oft habe ich dieses Lied zum Jahreswechsel im Gottesdienst gesungen, und es hat mich und andere zuversichtlich ins neue Jahr blicken lassen, auch wenn große Aufgaben zu bewältigen waren. Und wie oft habe ich es am offenen Grab mit der Trauergemeinde gesungen. Auch in solchen schwierigen Situationen konnten die Worte Kraft und Trost entfalten. Eine Freundin, die eine lebensbedrohliche Krankheit überwinden musste, hat ebenso Halt in den Worten Dietrich Bonhoeffers gefunden wie ein junger Mann, den ich kenne, der sich durch die Gedanken Bonhoeffers für ein Theologiestudium begeistern ließ.

Dietrich Bonhoeffer ist nicht einmal 40 Jahre alt geworden. Doch dieses kurze Leben hat reiche Frucht getragen, es hat – in dunkelster Zeit zerstört – das Leben vieler Menschen erleuchtet, seine Gedanken inspirieren Menschen nach wie vor. Dem großen Theologen Dietrich Bonhoeffer war es ein Anliegen, theologische Gedanken stets aufregend und anschaulich zugleich zu formulieren. Er blieb nicht im wissenschaftlichen Elfenbeinturm, sondern entfaltete seine Gedanken so, dass Menschen sie verstehen konnten. Kein Wunder, dass er dann auch politisch nicht passiv, sondern aktiv geworden ist, dass er ein sicheres Asyl in den USA ausgeschlagen hat, um sich für Menschenwürde und Gerechtigkeit einzusetzen. Mir scheint, diese mutige und für sie gefährliche Haltung haben seine Richter und Henker sehr genau verstanden, und deshalb war es ihnen ein dringendes Anliegen, diesen Mann zum Schweigen zu bringen. Es ist ihnen nicht gelungen.

Gerade scheint es wieder, als ob unsere Welt in den Händen von Menschen liegt, die es böse meinen. Dass Unrecht und Gewalt obsiegen und die Schwachen hilflos leiden müssen. Das ist schrecklich und macht mir Angst. Bonhoeffers Gedicht erinnert mich tröstlich daran, dass unsere Welt in den Händen Gottes liegt, manchmal gegen jeden Augenschein. Und so passt sein Lied auch und gerade jetzt: Gott ist bei uns am Abend und am Morgen und ganz gewiss an jedem neuen Tag. Auch heute.

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SWR Kultur Wort zum Tag

08APR2022
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Es war während meines Studiums in Paris, eine Party im Wohnheim. Sie war auch da, obwohl sie keiner eingeladen hatte. Sie war dicklich, unbequem, unbeholfen und auch nicht die Klügste. Irgendwer hat ihr an diesem Abend seine Gitarre geliehen und sie fing an zu singen, ein Chanson: Ne me quitte pas – Verlass mich nicht. Aus dem unförmigen Körper erklang eine glockenreine Stimme, schmelzend, werbend, alle Abgründe der Liebe und des Liebesschmerzes umgreifend. Es war atemberaubend. Für fast fünf Minuten – so lange dauert das Chanson – verstummten alle Gespräche, sie hatte die volle Aufmerksamkeit. Dann verwandelte sie sich wieder in eine Randfigur. Der Abend ging weiter. Ich weiß nicht mehr ihren Namen, ich weiß nicht, was aus ihr geworden ist. Aber ich habe sie nicht vergessen.

Ne me quitte pas – dieses berührende Chanson hat Jacques Brel geschrieben und gesungen. Jaques Brel – heute ist sein Geburtstag. Der Sänger wurde am 8.April1929 in Belgien geboren. Bis heute faszinieren seine Chansons die Menschen, obgleich Jacques Brel schon seit fast einem halben Jahrhundert tot ist. Er war ein rastloser Mensch, unkonventionell, auf der Suche, auch narzisstisch. Und – das verbindet ihn mit der Sängerin an diesem Abend in Paris - er war keine Schönheit. Viele fanden ihn sogar hässlich. Einer hat ihm empfohlen, das Singen auf der Bühne lieber anderen zu überlassen und besser backstage zu bleiben. Sein Aussehen war ein Thema, und Aussehen ist ein Thema bis heute. Inzwischen wird zwar selbst bei Models mehr auf Diversität geachtet, doch ich glaube nicht wirklich, dass es die Menschen deshalb sehr viel leichter haben, die dem gängigen Schönheitsideal nicht entsprechen. Auf der anderen Seite: Vielleicht konnte Jacques Brel gerade deshalb diese faszinierenden Lieder schreiben, weil er anders war. Nicht schön. Sperrig. Schwierig. Irgendwann war er übrigens so berühmt, dass die Frauen sich von seinem Aussehen nicht mehr abschrecken ließen. Erfolg macht sexy. Ne me quitte pas hat er wahrscheinlich für seine Ehefrau geschrieben, die mit den Kindern in Belgien gelebt hat, während er in Paris mit wechselnden Freundinnen unterwegs war.

Zurück zu dem Abend in Paris und der Studentin, deren Namen ich vergessen habe. Ob ihr wohl ihre berührende Stimme irgendwann geholfen hat? Ob jemand sie liebgewinnen konnte? Ich jedenfalls habe an diesem Abend in Paris eine Ahnung davon gewonnen, wie wohl Gott uns Menschen anblickt. Unbeeindruckt von unserem Aussehen, unserer Klugheit, unserer Vergangenheit und unserer Schönheit. Ne me quitte pas. Im Grunde ist die Antwort darauf ein göttliches Versprechen. Ich verlasse dich nicht. Niemals.

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SWR Kultur Wort zum Tag

07APR2022
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Wir Menschen sind trostbedürftige Wesen. Jedes Lebewesen wird, von klein auf, damit konfrontiert, dass im Leben nicht nur die Sonne scheint. Düstere Tage gehören zu jedem Leben dazu. Merkwürdig daher, dass uns Menschen das Trösten meistens so schwerfällt. Wir müssten es doch im Lauf der Menschheitsgeschichte gelernt haben! Doch wir sind über die Jahrtausende eher zu Meisterinnen und Meistern des Vertröstens als des Trostes geworden. Schon in der Antike gab es eine reichhaltige Ratgeberliteratur zum Thema. Die antiken Tipps ähneln dem, was heute auch gerne gesagt wird, wenn jemand traurig ist: Kopf hoch, wird schon, auf jeden Abend folgt ein neuer Morgen oder – diesen Ratschlag finde ich besonders schlimm: Es wird schon irgendein tieferer Sinn dahinterstecken. Schlimm, weil ich bei manchem Kummer nun wirklich nicht erkennen kann, welcher Sinn das sein sollte. Und selbst wenn bleiben die Traurigen trostbedürftig. Und zwar bedürftig nach echtem Trost.

Menschen spüren meist sehr genau, ob sie vertröstet werden sollen oder ob man sie in ihrer Not ernst nimmt. Das ist schon bei kleinen Kindern so. Meine Mutter hat immer gesagt: Ein Kinderkummer ist auch ein Kummer. Das gilt selbst dann, wenn die Erwachsenen das aus ihrer Perspektive ganz anders sehen. Bei Kummer, so fand meine Mutter, ist Trösten angesagt. Und das bedeutet: Ernst nehmen, in den Arm nehmen, das Leid gemeinsam aushalten, auch mal gemeinsam schweigen und weinen. Erst danach mag man den Blick in die Zukunft richten und überlegen, wie es denn weitergehen könnte. Ob man die kaputte Puppe eventuell reparieren kann. Oder wie es nach der vergeigten Mathearbeit weitergeht mit dem Lernen. Oder, bei Erwachsenen: was für Perspektiven es geben kann, wenn ein wichtiger Plan in die Brüche gegangen ist. Oder wenn ich Angst um geliebte Menschen habe.

Christen glauben an einen Gott, der selbst gelitten hat und trostbedürftig war. Die Passionszeit, in der wir gerade leben, erinnert jedes Jahr daran. Doch selbstverständlich ist die Botschaft nicht, dass Gott selbst verletzbar ist. Schon der Apostel Paulus hat konstatiert, dass das vielen Menschen lächerlich vorkommt oder ärgerlich aufstößt. Tatsächlich haben aber über Jahrtausende Menschen erlebt, dass sie gerade das getröstet hat. Sie haben sich in ihrer Traurigkeit nicht gottverlassen gefühlt, sondern im Gegenteil Gott ganz nahe. Mag sein, dass die Umgebung nicht trösten kann oder will, dieser Gott kennt das Leid. Und versteht die Leidenden. Daran erinnert das Kreuz, und deshalb ist sehr vielen Menschen dieses Symbol ganz wichtig. Jeder trostbedürftige Mensch hat es verdient, getröstet zu werden. Und ist in seinem und ihrem Leid Gott nicht fern, sondern besonders nah.

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29JAN2022
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Wie duftet die Welt? Meine kleine Enkelin entdeckt das gerade. Es ist eine spannende Entdeckungsreise in die geheimnisvolle Welt der Aromen. Zugleich erschnuppert das kleine Wesen genau, was der Duft von Heimat ist und zu wem und wohin sie gehört. Wenn sie weint, dann nehmen sie Papa oder Mama in den Arm und sie schnüffelt den beruhigenden Hautgeruch ihrer Eltern. Noch bevor sie bewusst darüber nachdenken wird, lernt sie so genau, wie Heimat riecht. Das prägt sich ein. Und das bleibt, selbst wenn es dieses Zuhause gar nicht mehr gibt. Wenn es eine Möglichkeit gegeben hätte, den Geruch meines Elternhauses zu konservieren – ich würde ihn heute noch unter tausenden herausfinden können. Gleiches gilt für die Nachtcreme meiner Mutter. Und bis heute habe ich den typischen Geruch von Bohnerwachs in der Nase, wenn ich an meine Kindergartenfreundin denke – so roch es bei ihr im Treppenhaus.

Unsere Sprache weiß um die Relevanz des Geruchssinns für Beziehungen. Wenn ich jemanden unsympathisch finde, dann kann ich ihn nicht riechen. Ich rümpfe die Nase; wenn ich etwas nicht gut finde, dann stinkt es mir. Umgekehrt kann man vom Duft des oder der Liebsten gar nicht genug bekommen. Im Hohelied, einem wunderschönen Teil der Bibel, schwärmt die Liebende von ihrem Freund: seine Wangen sind wie Balsambeete, auf denen Gewürzkräuter wachsen, sein Mund ist voll Süße. Sogar Gott riecht – das meint jedenfalls die Bibel. Er kann es gar nicht riechen, wenn Menschen ungerecht und unsozial handeln. Das Jesuskind bekommt von den drei Weisen duftende Geschenke. Kein Wunder also, dass das Wort für den Heiligen Geist ganz eng verwandt ist mit dem Wort für Duft und Geruch. Viele Menschen, auch solche, die gar nicht an Gott glauben, spüren in manchen Kirchen eine besondere Atmosphäre – ich meine, das hängt damit zusammen. Es klingt vielleicht etwas ungewöhnlich – aber ich meine schon, dass man in vielen Kirchen Gott erschnuppern kann.

Zurück zu meiner kleinen Enkelin: Sie erobert sich riechend ihre Heimat, zugleich eröffnet sich ihr gerade im Kindergarten eine neue Perspektive. Sie wird dabei, hoffentlich, lernen, dass nicht alles nach ihrer hübschen kleinen Nase geht. Sie wird auf kleine und große Menschen treffen, die anders riechen als sie es gewohnt ist, möglicherweise erst einmal sehr fremd. Doch: Menschen dürfen unterschiedlich riechen, und es ist gut so! Gerade die Vielfalt erhält uns lebendig. Wenn es gut geht, lernt meine Enkelin Toleranz und bleibt neugierig auf den Duft der großen weiten Welt. Denn sonst kann schnell aus dem Aroma der Heimat eine dumpfe Stube werden, in der es abgestanden müffelt.

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SWR Kultur Wort zum Tag

28JAN2022
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Wie schmeckt die Welt? Meine kleine Enkelin ist gerade dabei, das herauszufinden. Ich finde es faszinierend, sie dabei zu beobachten. Sie greift nach den Gegenständen, die ihr ins Auge fallen und steckt sie dann mit Bedacht, regelrecht sorgfältig, in den Mund oder leckt sie ab. Unermüdlich ist sie dabei, mit ihren Geschmacksknospen die Welt zu entdecken. Einmal ist das Objekt ihrer Neugierde mein Unterarm gewesen. Was sie wohl in ihrem kleinen Hirn als Ergebnis gespeichert hat? Meine Omi schmeckt leicht salzig?

Unsere Sprache weiß um die Relevanz des Schmeckens. Man bekommt Geschmack an einer Sache oder einer Tätigkeit, man kostet eine Begegnung oder einen Augenblick aus. Wenn jemand Stilgefühl besitzt, dann ist sein Heim geschmackvoll eingerichtet. Sogar an Gott kann man Geschmack finden: Schmecket und sehet, wie freundlich der Herr ist – so lautet klassisch die Einladung zum Abendmahl. Auch wenn der tatsächliche Geschmack einer Hostie aus kulinarischer Perspektive sicher nicht überwältigend ist – mir und Milliarden von Menschen bedeutet das Abendmahl trotzdem sehr viel. Weil sich Geschmack auch mit Erfahrung verbindet und ausbildet, in diesem Fall durch die sinnliche, mit Geschmacksknospen erlebbare Gemeinschaft mit anderen Menschen und mit Gott. Es war für mich und für viele andere daher ein schwerer Verlust, dass in der ersten Phase der Corona-Krise kein Abendmahl gefeiert werden konnte. Tatsächlich habe ich dann zum ersten Mal in meinem Leben ein digitales Abendmahl mitgefeiert. Das hat letztlich funktioniert, weil sich die Erfahrung analoger Gemeinschaft im Leibgedächtnis abgespeichert hat und so die Kachelgesichter ein leibhaftiges, vertrautes gemeinschaftliches Gefühl erzeugen konnten – auch wenn jede und jeder nur zu Hause am Küchentisch mit einem Stück Brot und einem Glas Wein saß.

Zurück zu meiner Enkelin: Sie kostet mit ihrer Zunge aus, wie die Welt schmeckt – und sie macht die Erfahrung, dass die Erwachsenen sie daran hindern, nun tatsächlich alles in den Mund zu nehmen. Waschpulver und Hundefutter gehören nicht in die kleine Schnute. Umgekehrt entdeckt sie viel durch das, was ihre Eltern ihr anbieten und was sie vielleicht nicht von sich aus probiert hätte: Ein Stück Karotte, einen Apfel. Ich war dabei, als sie zum ersten Mal eine Himbeere gekostet hat. Dieses Minenspiel, von Neugierde, leichter Skepsis bis hin zur letztlichen Begeisterung war sehenswert.

Ob sie auch einmal Geschmack am christlichen Glauben gewinnen wird? Das wird auch an den Erfahrungen liegen, die sie mit anderen Christenmenschen haben wird. Zum Erwachsenwerden gehört, schließlich selbständig herauszufinden, was einem schmeckt und was nicht. Was ich ihr und uns allen wünsche: Dass wir nie die Lust verlieren, das Leben zu kosten und auszukosten.

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27JAN2022
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Vor kurzem habe ich einen verstorbenen Bekannten gegoogelt. Er wohnte in unserer Nachbarschaft, als Kind bin ich ihm fast täglich über den Weg gelaufen. Neugierig habe ich in einem Wikipedia-Artikel über sein Leben gelesen und war schockiert und erschüttert. Einiges spricht dafür, dass er als Wissenschaftler über unmenschliche Versuche in Konzentrationslagern, z.B. in Auschwitz, informiert war und während des Dritten Reichs aktiv Informationen über solche Versuche erfragt hat, um seine eigene Forschung weiterzutreiben. Plötzlich rückte an einem kalten Wintertag das Grauen dieser Zeit leibhaftig und sehr unangenehm nahe. Ich bin immer noch etwas fassungslos: War der Professor ein aktiver Nazi gewesen? Ich habe ihn als stets freundlichen Mann in Erinnerung. Doch: Die Gesinnung eines Menschen ist nicht an einem Lächeln abzulesen oder daran, ob er freundlich mit Kindern umgehen kann. Wenn es stimmt, was im Netz über ihn vermutet wird: Wie lebt man mit so einer Schuld? Oder hat der Mann seine Vergangenheit nach dem Zusammenbruch des dritten Reichs in die Schublade des Vergessens gelegt? So wie viele andere Menschen auch? Tatsache ist, dass sehr viele Täter nach dem Krieg unbehelligt geblieben sind, am Ende noch hochdekoriert. So wie unser Bekannter. Er ist hochaltrig gestorben, geehrt mit dem Bundesverdienstkreuz.

Weil es solche Geschichten wie die meines verstorbenen Bekannten gibt, finde ich es so wichtig, dass wir in Deutschland eine Erinnerungskultur pflegen. Heute, am 27. Januar, denken wir an die Befreiung von Auschwitz 1945. Dort sind mehr als zwei Millionen Juden vergast worden. In Auschwitz wurden auch entsetzliche Versuche an Menschen durchgeführt. Ich finde, die Opfer haben es verdient, dass wir sie und ihre furchtbaren Leiden nicht vergessen. Und was die Täter betrifft: Vergessen oder Verdrängen macht ihre Verbrechen nicht ungeschehen, im Gegenteil. Ungesühnte Schuld kann weiter unheilvoll wirken, das wissen wir heute dank der psychologischen Forschung. Über Generationen hinweg konnten die Traumata des Nationalsozialismus und des Krieges verhängnisvoll weiterwirken, weil über die Schrecken nicht gesprochen wurde.

Viele Täter wurden nie vor einem Gericht zur Verantwortung gezogen. Deshalb ist mir das biblische Bild vom Weltgericht ein echter Trost. Nach christlicher Vorstellung müssen alle Menschen für ihr Leben vor Gott geradestehen. Darin steckt eine große Hoffnung! Es geht beim Weltgericht nicht um Gewaltphantasien in Form von Höllenstrafen, sondern darum, Verantwortung übernehmen zu müssen. Ich finde es tröstlich, dass kein Täter einfach so davonkommen wird, dass jede und jeder sich einmal vor Gott rechtfertigen muss – gerade auch wenn ihn oder sie die weltliche Gerechtigkeit nicht zur Rechenschaft gezogen hat. Es wäre – so finde ich – unerträglich, wenn die Opfer mit ihrem Leid und ihrer Geschichte alleine bleiben würden. Ich jedenfalls glaube daran, dass sie nicht ungesühnt bleiben. Nur so kann es Hoffnung und Zukunft geben.

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