SWR2 Wort zum Tag

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17MAI2022
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Meine kleine Enkelin hat ein neues Spiel entdeckt. Es funktioniert so: Sie strahlt Menschen an und winkt ihnen mit ihrem kleinen Händchen zu. Das sieht ein bisschen so aus wie bei der verstorbenen Queen Mum. Bei der bezaubernden alten Dame hat es seine Wirkung nicht verfehlt. So auch bei meiner Enkelin. Sie strahlt, und die Menschen strahlen zurück, meistens jedenfalls. So kann die Kleine problemlos ein ganzes Hotelfoyer oder ein Restaurant bespaßen. Sie ist dann selbst ganz verzückt von den Reaktionen, die sie auslöst. Neulich kamen wir beide an einer Bushaltestelle vorbei. Dort saß ein älterer Mann, mit dem es Leben sichtbar nicht gut gemeint hatte. Die Kleidung war abgenutzt, die Schuhe alt, seine Gesichtszüge wirkten müde und er hatte eine sehr schlecht vernähte Hasenscharte, die wahrscheinlich sein ganzes Leben lang Anlass zu verhohlenem Spott gewesen ist. Meine Enkelin aber hat ihn fröhlich angestrahlt und ihm zugewinkt. Ja, und so wurde ich zur Zeugin einer ganz wunderbaren Verwandlung. Der Mann hat das kleine Mädchen zunächst ungläubig angesehen. Dann leuchtete sein Gesicht auf, seine Gesichtszüge glätteten sich, erblühten förmlich, er fing selbst an zu strahlen und wurde richtig… schön! Es war sehr bewegend. Dann winkte er zurück, ganz vorsichtig, und meine Enkelin war begeistert über sein Winken und hat vor Freude gejauchzt. Ich habe mich gefragt, wann dieser Mann wohl das letzte Mal in seinem Leben so angestrahlt worden ist, wenn denn überhaupt jemals in seinem Leben. Ich bin mir sicher, dass er diesen Moment an der Bushaltestelle in seinem Herzen bewahren wird.

Ausgerechnet an diesem selben Tag haben wir ein altes Ehepaar überholt und meine Enkelin hat auch den beiden aus ihrem Kinderwagen heraus zugewinkt. Und anscheinend haben die beiden überhaupt nicht darauf reagiert oder sogar böse geschaut. Denn plötzlich erlosch das Lächeln im Gesicht des kleinen Mädchens. Es erfror richtig. „Wer weiß, was die beiden für einen Kummer haben,“ habe ich meine Enkelin getröstet, obwohl sie diese Worte noch nicht gar nicht verstehen kann. So wie es kaum zu verstehen ist, dass man einem kleinen lächelnden Kind nicht zurückwinken mag.

Das ist wohl auch der Schmerz, den Gott spürt, wenn Menschen seine Liebe nicht erwidern. Und es ist seine strahlende Freude, wenn es geschieht. An diesem Tag habe ich jedenfalls an der Bushaltestelle ahnen können, wie es wohl ist, wenn Gott uns Menschen anschaut. Und uns anlächelt. Und verwandelt. Zum Jauchzen schön.

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