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SWR2 Wort zum Tag

08JAN2021
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Einfach mal für ein paar Stunden rauskommen. Den Alltag hinter mir lassen, um wieder klarer sehen zu können. Das war mein Plan gewesen. Ich hatte mir den Tag extra frei genommen, obwohl oder gerade weil ich zu dieser Zeit mehr als genug zu tun hatte. Meine Idee war es, ein bisschen Wandern zu gehen und dabei für mich klarer zu kriegen, was eigentlich gerade wichtig ist. Ich wollte dazu in den Schwarzwald fahren, weil ich die Landschaft dort liebe. Und so hatte ich es mir vorgestellt: Dort oben auf der Höhe blicke ich über die Wiesen und Wälder und genieße die freie Sicht bis hinunter in die Rheinebene. Und während ich das tue, habe ich Zeit nachzudenken, kann durchatmen und bekomme mehr Überblick für mein eigenes Leben. Und dann das: Nebel. Je höher ich mit dem Zug fahre, umso dichter wird der graue Schleier.

Ich entscheide mich in Hinterzarten auszusteigen und loszugehen. Wenn ich auf einem der Wanderweg bleibe, dann werde ich mich trotz Nebel schon nicht verlaufen. Während ich laufe reicht die Sicht nie weiter als 20, 30 Meter. Eine Kurve oder Abzweigung sehe ich erst kurz bevor ich sie erreiche. Wegweiser tauchen erst aus der grauen Brühe auf, wenn ich fast vor ihnen stehe.

Während ich so laufe, denke ich: das ist ein gutes Bild für meinen Alltag. Eigentlich wollte ich ihn ja für ein paar Stunden hinter mir lassen. Aber anstatt, dass sich hier oben alles weitet und mir einiges klarer wird, spiegelt mir die Natur nur meine aktuelle Situation wieder: es fehlt gerade die große Perspektive. Ich hangle mich so von Tag zu Tag, versuche einigermaßen auf Kurs zu bleiben und entscheide das, was gerade entschieden werden muss. Für mehr reicht es momentan nicht. So ist das wohl gerade. Vermutlich muss ich das akzeptieren und nicht mehr wollen, als zurzeit eben möglich ist. Kleine Etappen angehen und darauf vertrauen, dass wenn ich sie bewältigt habe, sich wieder ein neuer Weg auftut.

Nach etwa zweieinhalb Stunden erreiche ich den Titisee. Gerne würde ich jetzt erzählen, dass dort auf einmal die Sonne durch den Nebel gebrochen ist, und dass ich das gegenüberliegende Ufer sehen konnte. So war es aber nicht.

Im weiterhin dichten Nebel steige ich in den Zug und fahre zurück nach Hause. Mein Wunsch die Dinge etwas klarer zu sehen, hat sich trotzdem erfüllt. Wenn auch ganz anders als ich gedacht habe. Ich werde weitergehen und darauf vertrauen, dass der Weg sich beim Gehen zeigt. Und dabei werde ich nicht aufhören zu hoffen, dass sich der Nebel irgendwann lichtet.

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SWR2 Wort zum Tag

25NOV2020
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Jesus muss man eigentlich nicht verbessern, aber ich habe es trotzdem mal versucht: Seinen berühmten Satz „Liebe deinen Nächsten, wie dich selbst“ habe ich umgedreht, und dann heißt er: „Liebe dich selbst, wie deinen Nächsten“.

Eigentlich ändert es nicht viel am Sinn des Satzes. Es verschiebt sich nur etwas der Akzent.

Den ursprünglichen Satz „Liebe deinen Nächsten, wie dich selbst“ verstehe ich so: Was ich für mich selbst wünsche, das soll ich auch anderen zugestehen. Ich soll sie so behandeln, wie ich auch mit mir selbst umgehen würde: Mich nicht nur darum kümmern, dass es mir gut geht, sondern auch dafür sorgen, dass sie es guthaben.

Zugegeben, das gelingt mir nicht immer. Aber ich habe den Eindruck, andersrum gelingt es mir noch seltener. Tatsächlich glaube ich, dass ich mit anderen Menschen oft liebvoller umgehe als mit mir selbst.

Wenn ein Kollege bei der Arbeit einen Fehler macht und sich dann maßlos über sich selbst ärgert, versuche ich ihn zu beruhigen: Jeder macht mal einen Fehler, und die Folgen sind weniger dramatisch als du meinst. Für einen guten Freund bin ich gerne da, wenn es ihm schlecht geht. Ich versuche ihn zu verstehen und ihm Mut zu machen. Von meinen Kindern erwarte ich, dass sie ihre Hausaufgaben ordentlich machen, für Tests lernen und regelmäßig ihr Instrument üben. Zugleich aber möchte ich sie vor zu viel Druck beschützen. Sie sollen spüren, ihr seid gut so wie ihr seid, auch wenn mal was daneben geht.

Und wie gehe ich mit mir selbst in vergleichbaren Situationen um? Bei eigenen Fehlern bin ich weniger gnädig. Wenn es mir schlecht geht, denke ich oft: Hab dich nicht so oder: selbst schuld. Und manchmal erwarte ich zu viel von mir. Und wehe, wenn ich dann dabei scheitere.

Wenn ich jetzt den Satz von Jesus umdrehe, hilft mir das weiter. „Liebe dich selbst, wie deinen Nächsten“ bedeutet dann, dass ich mich frage: Was würde ich tun, wenn nicht ich, sondern ein anderer in meiner Situation wäre? Wie würde ich mich in einem solchen Fall zu einem Menschen verhalten, den ich liebe? Wenn ich mir das überlege, gelingt es mir besser, freundlich mit mir selbst umzugehen. Ich lerne mich selbst ein bisschen mehr zu lieben.

Von dieser Strategie profitiere aber nicht alleine ich, davon bin ich überzeugt. Wenn ich mich auf diese Weise selbst mehr liebe, spüren das auch alle anderen, weil ich auf einmal auch für sie mehr Verständnis habe.

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SWR2 Wort zum Tag

24NOV2020
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Nach meinem Studium habe ich für achteinhalb Monate in Syrien gelebt. Einmal ist es vorgekommen, dass ich tagsüber vor einem verschlossenen Geschäft stand. Durch die Glasscheibe der Tür konnte ich dann sehen, wie der Inhaber vor der Ladentheke auf seinem ausgerollten Gebetsteppich gebetet hat. Dieser Anblick hat mich sehr berührt.

Ähnlich ist es mir ergangen, als ich eine Moschee besichtigt habe. Wenn gerade kein allgemeines Gebet ist, geht es in größeren Moscheen oft recht lebhaft zu. In einer Ecke sitzen einige Männer im Kreis und üben, den Koran richtig zu rezitieren. An verschiedenen Orten stehen oder sitzen ein paar Leute zusammen und unterhalten sich, während Kinder umherrennen und Fangen spielen.

Und irgendwo mittendrin steht ein höchstens zwölf Jahre alter Junge und betet. Andächtig und in sich gekehrt führt er seine nach vorne geöffneten Hände auf Höhe seiner Ohren, so ähnlich als würde er lauschen, dann legt er die rechte Hand über die linke vor dem Körper auf seinen Bauch. Mit dieser Geste bricht der Betende die Verbindung zur Außenwelt ab und konzentriert sich ganz auf Gott. Der Junge betet still für sich, so dass ich nur seine Bewegungen sehen kann. Nach einer kurzen Weile neigt er seinen Oberkörper waagerecht nach vorne und legt seine Hände auf die Knie. In dieser Haltung verharrt er für einen Moment, bevor er sich wiederaufrichtet. Dann sinkt er auf die Knie, beugt sich nach vorne und berührt mit Stirn, Nase und Händen den Boden. Anschließend setzt er sich auf, bevor er sich noch einmal niederwirft.

Natürlich weiß ich nicht, was tatsächlich in dem Jungen vorgeht, aber der Ernst und die Ruhe, die er ausstrahlt, beeindrucken mich.

Milad, mein muslimischer Studienfreund, hat mir einmal erzählt, wie erhebend es für ihn ist, morgens nach dem Aufstehen so vor seinen Schöpfer zu treten. Mehrfach haben Muslime mir gesagt, wie wichtig es ihnen ist, dass sie beim Gebet aufrecht vor Gott stehen. Nur wer aufrecht steht, kann sich niederwerfen. Und wer sich niederwirft, vertraut darauf, von Gott wieder aufgerichtet zu werden.

Diese Gedanken finde ich schön. Ja, manchmal beneide ich die Muslime um ihr Gebet. Ich muss kein Muslim werden, um diese verschiedenen Aspekte auch in mein Gebet integrieren zu können. Aber ich muss dafür eine Form finden, die ihnen schon vorgegeben ist. Muslime beten zu sehen und von ihnen zu erfahren, was sie beim Beten empfinden, inspiriert mich. Es lässt mich neu nachdenken: Mit welcher äußeren und auch inneren Haltung betest du?

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SWR2 Wort zum Tag

23NOV2020
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Herr Tur Tur ist ein Scheinriese. Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer begegnen ihm auf ihrer Abenteuerreise in der Wüste. Das Besondere an Herrn Tur Tur ist: je weiter er entfernt ist, desto größer sieht er aus. Und je näher man ihm kommt, desto mehr schrumpft sein Erscheinungsbild. Steht man direkt vor ihm, dann ist er nicht größer ist als ein ganz normaler Mensch.

Lange Zeit habe ich gedacht, einen solchen Scheinriesen gibt es nur im Roman von Michael Ende, bis ich entdeckt habe, Scheinriesen gibt es öfters auch mal in meinem eigenen Leben.

Immer wieder ertappe ich mich dabei, dass anstehende Aufgaben mir größer erscheinen als sie tatsächlich sind. Vor allem dann, wenn sie vermeintlich unbequem sind. Zum Beispiel, wenn ich jemandem absagen muss, der gehofft hat, dass ich ihn unterstützen kann. Ähnlich geht es mir, wenn ich etwas Wichtiges entscheiden muss, mir aber unsicher bin, was ich wirklich will, oder wenn ich eine Veranstaltung planen soll, ohne dafür eine zündende Idee zu haben.

Ich neige dann dazu, diese Dinge vor mir herzuschieben. Aber je weiter ich sie wegschiebe, umso größer werden sie in meinem Kopf. Und so lange sie unerledigt sind, beschäftigen sie mich immer wieder, lassen mich schlecht schlafen und machen mir Druck.

Irgendwann ist dann doch der Zeitpunkt gekommen. Ob ich will oder nicht, die Aufgabe lässt sich nicht mehr weiter hinauszögern und ich packe sie an. Dann zeigt sich oft dieses sonderbare Phänomen. Sobald ich damit beginne verliert die Aufgabe Schritt für Schritt ihren Schrecken. Ist sie erledigt, dann wundere ich mich im Nachhinein, warum sie mir zuvor so groß vorgekommen ist.

In der Geschichte von Michael Ende fasst sich Lukas der Lokomotivführer kurzerhand ein Herz. Er sagt ganz ruhig zu Jim Knopf: „Nun ja, bloß weil er so groß ist, braucht er doch noch lange kein Ungeheuer sein“, und dann geht er auf Herrn Tur Tur zu. Das erweist sich dann als ihre Rettung.

Herr Tur Tur gibt ihnen neuen Proviant und zeigt ihnen den Weg aus der Wüste. Dank seiner Hilfe können sie ihren Weg fortsetzen.

So ähnlich geht es mir auch. Wenn ich eine dieser scheinbar übergroßen Aufgaben geschafft habe, dann geht es auch mit allem anderen wieder besser weiter. Ich fühle mich befreit und gestärkt. Deshalb habe ich mir fest vorgenommen: Wenn demnächst mal wieder so ein Scheinriese in meinem Leben auftaucht, dann sage ich zu mir selbst den Satz von Lukas dem Lokomotivführer: „Nun ja, bloß weil er so groß ist, braucht er doch noch lange kein Ungeheuer sein.“

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SWR2 Wort zum Tag

08AUG2020
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Wenige Monate nach der Geburt unseres ersten Kindes hat mich mein Kollege und Freund Tobias gefragt: „Hat sich dein Gottesbild eigentlich verändert seit du Vater bist?“ Ich habe erstmal gestutzt, bis mir klar war, worauf er hinauswollte. Jesus spricht von Gott als Vater. Ändert sich an dieser Vorstellung etwas, wenn ich selbst Vater werde?

Damals habe ich Tobias geantwortet: „Nein, zumindest nicht, dass ich etwas bemerkt hätte.“ Aber seitdem denke ich immer mal wieder darüber nach. Und tatsächlich, manche Aussagen über Gott, werden für mich plastischer, wenn ich sie damit vergleiche, wie ich mich selbst als Vater erlebe.

Als Vater liebe ich meine Kinder bedingungslos. Ich kann gar nicht anders. Es ist so. Ich erlebe diese Liebe noch größer als ich davor gedacht habe und tatsächlich glaube ich auch, sie ist größer als meine Kinder sich das vorstellen können.

Und trotzdem oder gerade deswegen ist mir nicht egal, was sie tun. Manchmal bin ich richtig ärgerlich auf sie, z.B. wenn sie grundlos zu streiten anfangen oder beim Essen nur an sich denken, anstatt gemeinsam mitzuhelfen, den Tisch zu decken. Aber egal wie wütend ich manchmal auch bin, nie stellt das meine Liebe zu ihnen in Frage.

Klar habe ich Wünsche und Hoffnungen für die Zukunft meiner Kinder, und doch möchte ich, dass sie sich frei entwickeln können. Sie sollen nicht exakt so werden, wie ich mir das vorstelle. Aber es gibt Dinge, die mir wichtig sind. Ich fordere von ihnen ein, dass sie sich an bestimmte Regeln halten. Aber nicht, um ihnen meine Macht zu demonstrieren, sondern weil ich überzeugt bin, dass sie gut für sie sind. Das sehen sie allerdings manchmal anders.

Inzwischen sind unsere Kinder im Grundschulalter. Sie werden immer selbstständiger und unsere Beziehung verändert sich dadurch. Aber ich wünsche mir, dass meine Kinder wissen, dass sie immer zu mir kommen können, vor allem mit ihren Sorgen und Nöten. Aber genauso freue ich mich, wenn sie mir mit leuchtenden Augen erzählen, was ihnen Spaß gemacht hat. Mir ist wichtig zu wissen, wie es ihnen geht.

Wenn ich all das auf Gott übertrage, bin ich mir natürlich bewusst, dass er immer nochmal ganz anders ist. Trotzdem hilft es mir, tiefer zu verstehen, wie Gott mich bedingungslos lieben kann, ohne dass ihm deshalb egal ist, was ich tue oder lasse. Er gibt mir die Freiheit, mein eigenes Leben zu gestalten. Aber er fordert mich auch heraus, mich zu fragen, ob es gut so ist. Für mich und für andere. Nicht immer kann ich ihn verstehen, manchmal ist er mir auch fremd. Unsere Beziehung verändert sich ständig, was auch anstrengend ist. Aber ich glaube unser größter Wunsch ist, in Verbindung zu bleiben.

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SWR2 Wort zum Tag

07AUG2020
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Nahed Al Essa ist aus Syrien geflohen. Sie lebt seit einigen Jahren in Deutschland und sie schreibt. Sie schreibt von Damaskus, ihrer Heimatstadt, an der immer noch ihr Herz hängt.

Ich habe sie sonntagmorgens im Radio gehört. In einem ihrer Texte hat sie erzählt, wie sie jede Nacht nach Damaskus umzieht. Sie spricht von der Stadt wie von einer Freundin. Die Autorin setzt sich zu ihr und die Stadt schenkt ihr einen Kaffee ein. Dabei weint Damaskus und erzählt ihr:

Die Gesichter in der Stadt haben ihr Lächeln verloren.
Das Glück wurde zerbombt. Straßen brechen auseinander.
Die Menschen, die ich kannte, sind geflohen, oder sie wurden getötet.
Oder träumen von der Sonne.
Wie mein Auge hat die Zukunft ihr Licht verloren, sie wurde verletzt.
Was sicher war, ist nur noch eine Erinnerung.
Den Frieden sehe ich nicht.
Dann schweigt Damaskus.
[1]

Während ich diese Zeilen höre, kommen mir die Tränen. Ich habe immer wieder für längere Zeit in Damaskus gelebt. Ich habe mich dort sehr wohlgefühlt und die Stadt ist mir ans Herz gewachsen. Trotzdem überrascht es mich, dass ich auf einmal so emotional reagiere. Immer wieder werde ich von Bekannten auf Syrien angesprochen. Ich sage ihnen dann, dass es sehr weh tut, zu sehen, wie dieses Land zugrunde gerichtet wurde. Aber ich kann mich nicht erinnern, dass ich diesen Schmerz so unmittelbar empfunden habe, wie an diesem Sonntagmorgen.

Habe ich mich etwa mit der Situation in Syrien längst abgefunden? Der Konflikt dauert nun schon so lange und letztlich ist er auch für mich sehr weit weg. Anders als Nahed Al Essa habe ich nicht meine Heimat verloren. Seit ich Ende 2010 das letzte Mal in Damaskus gewesen bin, habe ich geheiratet, zwei Kinder bekommen und ein Haus gebaut.

Im gleichen Zeitraum haben in Syrien viele Menschen ihre Häuser verloren. Kinder, die so alt sind wie meine eigenen, sind im Krieg oder auf der Flucht geboren und aufgewachsen. Viele von ihnen sind auch gestorben. Der Konflikt hat Familien auseinandergerissen.

Ich möchte nicht gleichgültig werden gegenüber diesen vielen Schicksalen. Deshalb bin ich Nahed Al Essa dankbar für ihre Worte. Sie erreichen mich auf einer anderen Ebene als die Nachrichtensendungen, deren Interesse am Syrienkonflikt schon lange nachgelassen hat.

Nahed Al Essa lebt jetzt hier. Trotz ihrer Sehnsucht nach Damaskus bemüht sie sich, in Deutschland Fuß zu fassen. Dazu hat sie möglichst schnell Deutsch gelernt - nicht nur um hier zu leben und zu arbeiten, sondern auch um zu schreiben. Ende August erscheinen ihre Texte als Hörbuch auf Deutsch. Ich glaube, unsere Gesellschaft braucht Stimmen wie ihre. Sie bewahren uns davor zu verdrängen und erinnern uns daran, was uns alle angeht.

[1] Nahed Al Essa, Jede Nacht (2017), aus: Nahed Al Essa, 4222 Kilometer, Gedichte und Geschichten. Veröffentlichung geplant. Weitere Informationen zu Nahed Al Essa auf nahed-alessa.com.

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SWR2 Wort zum Tag

13JUN2020
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„Alles wird gut.“ Das lese ich jetzt gerade immer wieder. Der Satz steht auf großen Fahnen, die aus Fenstern baumeln, Kinder haben ihn auf Bilder mit Regenbögen geschrieben, im Schaufenster entdecke ich ihn auf einem Plakat neben Kaffeetassen und Küchenmaschinen. Der Satz soll Hoffnung schenken. Er soll das Vertrauen stärken, dass alles gut wird, egal wie anstrengend, nervend oder bedrohlich die aktuelle Situation gerade ist. Menschen wollen sich und anderen in dieser schwierigen Zeit Mut machen. Das finde ich schön, das will ich auch. Aber mal ehrlich, der Satz verspricht zu viel. Er stimmt einfach nicht. Es wird nicht für alle alles gut werden.

Ich denke dabei an diejenigen, die eine geliebten Menschen verloren haben und sich vielleicht noch nicht einmal richtig verabschieden konnten. Oder an Menschen, deren berufliche Existenz durch diese Krise zerstört wird. Denen plötzlich das genommen wird, was sie sich über Jahre mühevoll aufgebaut haben.

Ich wollte diesen Satz an ihrer Stelle nicht hören: „Alles wird gut.“ So nett er gemeint sein mag, wenn es mir richtig dreckig geht, dann nervt er mich, weil ich mich dann nicht ernst genommen fühle. Mir hilft es mehr, wenn andere verstehen, dass für mich eben nicht alles gut ist und auch nicht alles wieder gut wird. Nach und nach erschließen sich dann hoffentlich neue Perspektiven, auch wenn ich verkraften muss, dass jemand oder etwas Wichtiges fehlt.

Vom ehemaligen tschechischen Präsidenten und Dichter Vaclav Havel stammt der Satz „Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn macht, egal wie es ausgeht.“ Ein ganz schön anspruchsvoller Satz. Vor allem, wenn ich jemanden verloren habe oder etwas wofür und wovon ich gelebt habe, so nicht weitergeht.

Ich verstehe den Satz so: Es gibt vieles, was wir tun können, was Sinn ergibt und Hoffnung schenkt, unabhängig davon, ob am Ende alles gut wird. Wenn ich Menschen in ihrer Trauer nicht alleine lasse, kann es ihnen Zuversicht geben, auch wenn der Verlust dadurch nicht weniger weh tut. Wenn ich erlebe, dass andere mich in einer schwierigen Lage unterstützen, gemeinsam mit mir nach Lösungen und Wegen suchen, dann ist das wertvoll, auch wenn ich am Ende vielleicht trotzdem scheitere.

Ich weiß, dass in dieser Welt nicht alles gut wird. Aber ich hoffe, dass trotzdem ganz am Ende jedes Leben sinnvoll war, egal, was darin passiert oder eben auch nicht passiert ist, egal wie es geendet hat. Ich will es hoffen, auch wenn manchmal vieles scheinbar dagegen spricht.

Immer wieder ringe ich um diese Hoffnung. Sie soll mich nicht billig trösten und vor allem nicht davon abhalten, jetzt und hier, das zu tun, was Sinn macht, egal wie es ausgeht.

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SWR2 Wort zum Tag

12JUN2020
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Es ist Winter. Irgendwo in Schweden liegt mitten im Wald ein tiefverschneiter Hof. Es ist bitterkalt. Nachts träumen die Tiere in den Ställen vom Sommer. Die Kühe freuen sich auf ihre Weide, die Pferde träumen davon über die Wiesen zu traben. Da schlüpft ein Wichtel zu ihnen in den Stall Tomte Tummetot ist sein Name. Er geht zu den Tieren und spricht zu ihnen. „Geduld nur Geduld, der Frühling ist nah.“

Bei uns ist der Frühling schon lange da und trotzdem geht es mir wie den Tieren in diesem Kinderbuch von Astrid Lindgren. Ich träume von einer anderen Zeit. Viele Corona-Beschränkungen sind inzwischen wieder gelockert worden. Aber trotzdem, je länger es geht, umso ungeduldiger werde ich. Ich sehne mich danach, viele alltägliche Dinge wieder unbeschwerter zu tun. Ich möchte Menschen wieder begegnen ohne ständig auf Abstandsregeln und Hygienevorschriften achten zu müssen. Das ist der Frühling, auf den ich warte.

Es wird wohl noch eine ganze Weile dauern bis er kommt. Aber dass er kommt, darauf vertraue ich. Und dafür gibt es gute Gründe. In der Geschichte erinnert der Wichtel die Tiere Nacht für Nacht daran, dass der Frühling kommt. Er verspricht ihnen: Das, worauf ihr wartet, wird kommen. Das soll ihnen helfen, geduldig zu sein. Ich brauche auch immer wieder die Perspektive, dass es nicht ewig so bleiben wird. Auch wenn ich nicht genau weiß, wann es soweit sein wird.

Aber der Wichtel macht noch etwas anderes. Er weist die Tiere darauf hin, was sie haben, obwohl ihnen die Freiheit, das Licht und die Sonne des Sommers fehlen. Er sagt ihnen: Ihr steht in einem warmen Stall und habt genug zu essen. Freut euch darüber. Er will ihnen damit nicht die Sehnsucht nach dem Frühling oder dem Sommer nehmen. Aber sie sollen auch nicht vergessen, dass es ihnen trotz allem gut geht. Ich muss mir das ab und zu wieder klar machen.

Auf dem Bauernhof gibt es natürlich auch Menschen. Auch sie besucht der Wichtel bei Nacht. Keiner von ihnen hat ihn je gesehen. Die Kinder wünschen es sich sehr. Aber er kommt erst wenn sie schlafen und wenn sie am Morgen aufwachen, sehen sie nur noch seine Spuren im Schnee. Das Bild gefällt mir und ganz besonders gefällt mir auch, was im Buch noch über die Menschen steht. „In dieser Zeit geben die Menschen Acht, dass das Feuer im Herd nicht ausgeht.“

Im übertragenen Sinn nehme ich mir genau das zu Herzen. Ich werde achtgeben, dass die Beziehungen zu meinen Mitmenschen nicht erlöschen, auch wenn noch eine Weile Abstand geboten ist. Ich halte die Sehnsucht nach Nähe wach und sage mir immer wieder selbst: „Geduld nur Geduld, es kommen wieder andere Zeiten.“

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SWR2 Wort zum Tag

04MRZ2020
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„Vielen Dank“, ruft meine Tochter auf dem Fahrrad. Gerade hat ihr eine ältere Dame auf dem Gehweg Platz gemacht, damit sie sie überholen konnte. Ich sehe wie überrascht die Dame ist und wie sehr sie sich freut. Mit einem so freundlichen Dankeschön hat sie wohl nicht gerechnet. Als Vater freue ich mich, dass sich meine Tochter so höflich bedankt hat. Ich habe es ihr ja auch oft genug gesagt. Gut zu wissen, dass das nicht umsonst war. Aber noch mehr freue ich mich, über die Freude der älteren Dame. Ich stelle mir vor, dass sie etwas glücklicher und zufriedener weitergeht als zuvor. Mir geht das jedenfalls so, wenn Menschen freundlich zu mir sind und mich damit vielleicht sogar überraschen.

Der Soziologe Harald Welzer behauptet: „Es gibt eine Welt, in der die Menschen freundlich miteinander umgehen.“ Der Satz stammt aus seinem Buch „Alles könnte anders sein.“ Darin macht er sich Gedanken, wie eine gute Zukunft aussehen kann. Er hält diese gute Zukunft für durchaus realistisch, trotz der vielen Herausforderungen, vor denen wir gegenwärtig stehen. Er ist davon überzeugt, dass wir Menschen eigentlich über alle Bausteine verfügen. Es liegt an uns, sie richtig zusammenzusetzen.

Einer dieser Bausteine ist, freundlich miteinander umzugehen. Das überrascht vielleicht, weil es erstmal so unbedeutend klingt. Aber ich glaube, er hat Recht. Ich kann mir keine gute Zukunft vorstellen, in der Menschen ständig unfreundlich zueinander sind.

Deshalb beunruhigt mich auch, was ich gegenwärtig wahrnehme. Hass-Kommentare in den Sozialen Medien scheinen normal zu sein, Rettungskräfte werden beschimpft, wenn sie anderen Menschen helfen, mit diskriminierenden Parolen wird erfolgreich Wahlkampf gemacht.

Darüber kann ich lamentieren, weil ich mich machtlos fühle. Dabei kann ich all dem etwas entgegensetzen. Meiner kleinen Tochter ist es auf ihrem Fahrrad gelungen, ein kleines Stück Welt zu erschaffen, in der Menschen freundlich miteinander umgehen. Das kann jede und jeder andere auch.

Wie groß diese freundliche und menschliche Welt heute ist und in Zukunft sein wird, kann ich jeden Tag, in jeder Situation ein kleines bisschen mitentscheiden.

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SWR2 Wort zum Tag

03MRZ2020
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Mit meinem Daumen zeichne ich ein Kreuz auf die Unterseite des frischen Brotes. Das mache ich immer, wenn ich einen neuen Laib anschneide. Ich habe dieses Ritual von meiner Mutter übernommen. Sie hat es von ihrer Mutter und meine Oma vermutlich von ihrer und so weiter.

Es ist nur eine kleine Geste, aber sie lässt mich jedes Mal kurz innehalten.

Das Kreuz als Segenszeichen. Es macht mir bewusst, was ich da in den Händen halte. Brot, das mich und meine Familie ernährt. Das würde es natürlich auch tun, wenn ich das Kreuzzeichen weglasse. Es würde genauso gut schmecken und ebenso satt machen wie ohne diesen kleinen Segen. Aber mir würde etwas fehlen.

Zum einen denke ich in diesem Moment kurz an meine Mutter. Sie ist vor einigen Jahren an Krebs gestorben. In diesem Augenblick erinnere ich mich an ihre Liebe für unsere Familie. Die vielen Brote, die sie für uns geschnitten und geschmiert hat, stehen symbolisch für all das, was sie uns Kindern für unser Leben mitgegeben hat. Ich weiß, dass ich ohne sie nicht der Mensch wäre, der ich bin.

Aber es ist nicht nur die Erinnerung. Das Brot bekommt dadurch einen anderen Wert. Vielleicht verändert der Segen nicht so sehr das Brot, sondern eher mich. Ich bitte um den Segen für das Brot, aber denke dabei an die Menschen, mit denen ich es teile. Meistens ist das meine Familie, manchmal sind es auch Gäste. Immer sind es Menschen, die mir am Herzen liegen. Ich möchte, dass es ihnen gut geht und tue dafür, was ich kann. Aber ich weiß auch, dass vieles nicht in meinen Händen liegt. Wenn ich Gott um seinen Segen bitte, dann geht es darum, mir das bewusst zu machen. Es macht mich bescheidener und demütig.

Und es gibt noch einen weiteren Aspekt. Ich bin in der glücklichen Lage, dass ich mir jederzeit ein Brot leisten kann. Trotzdem möchte ich es wertschätzen; mir klar machen, dass es nicht selbstverständlich ist, genug zum Essen zu haben. Dieser kurze Moment hilft mir, dankbar dafür zu sein.

Nach dem Kreuz, schneide ich die ersten Scheiben ab. Ich atme den Duft des frischgeschnitten Brots ein und freu mich auf eine leckere Mahlzeit.

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