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SWR1 3vor8

04JUN2023
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Schauspieler machen es, bevor sie die Bühne betreten, Fußballerinnen auch, Dracula fürchtet sich davor und einige machen es, wenn sie in eine Kirche kommen – das Kreuzzeichen. Mit ausgestreckten Fingern geht es von der Stirn zur Brust und dann von der linken zur rechten Schulter.

Ich mag dieses Zeichen. Und ich mache es oft mehrmals am Tag. Am Morgen, wenn ich in einen anstrengenden Tag starte oder zusammen mit anderen, wenn ich am Ende eines Gottesdienstes von Gott gesegnet werde.

Das Kreuzzeichen ist ein uraltes Segenszeichen, mit dem sich Christen zu Gott bekennen. Kurz und knapp fasst es zusammen, was Christen glauben, nämlich an Gott Vater, an seinen Sohn Jesus und an den Heiligen Geist.

Paulus ist einer der ersten, der den Glauben an den „dreifaltigen“ Gott, in eine Art Segensformel gepackt hat. In einem seiner Briefe segnet er die Gemeinde in Korinth und schreibt: Die Gnade des Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen!“ (2 Kor 13,13) Heute, am Dreifaltigkeitssonntag, wird dieser Abschnitt in katholischen Gottesdiensten gelesen.

Wenn ich beim Kreuzzeichen meine Stirn berühre, dann denke ich an Gott und seine Liebe zu uns Menschen. Ich glaube, dass er mich gewollt hat und mit mir auf dieser Welt etwas vorhat. Wenn meine Hand nach unten zur Brust geht, dann denke ich an Gott, der die Idee hatte, in Jesus Mensch zu werden, und der sich mit großer Leidenschaft für uns Menschen eingesetzt hat. Jesus weiß, wie sich das Leben anfühlt – mit all den schönen Momenten, aber auch den richtig miesen. Und weil er auferstanden ist, hoffe ich, dass ich nach dem Tod bei Gott sein werde. Dass dann alles gut ist. Wie auch immer das genau sein wird. Zum Schluss geht meine Hand nach links und rechts. Das macht mir deutlich, dass Gott auch jetzt da ist. Sein Geist tröstet oder verändert mich. Er inspiriert und treibt mich an, er lässt mich lieben, powern und lachen.

Neulich habe ich gelesen, was syrische Christen beim Kreuzzeichen beten. Ich finde, das fasst das noch einmal wunderbar zusammen. Sie beten: "Im Namen des Vaters, der uns ausgedacht und geschaffen hat, und des Sohnes, der in die Tiefe unseres Menschseins hinabgestiegen ist, und des Heiligen Geistes, der das Linke zum Rechten wendet, der das Unbewusste und Unbekannte in uns verwandelt, damit es ausgerichtet wird auf Gott." [1]

 

[1]https://www.katholisch.de/artikel/37-das-kreuzzeichen

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Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

03JUN2023
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Heute ist Weltfahrrad-Tag. Für mich ist eigentlich immer Fahrrad-Tag. Um ins Büro zu kommen oder wenn ich einkaufen fahre, bin ich immer mit dem Rad unterwegs. Doch mein Fahrrad bringt mich nicht nur von A nach B. Fahrrad zu fahren hat für mich auch eine spirituelle Seite. Wenn ich auf dem Sattel sitze und in die Pedale trete, dann spüre ich mich selbst. Manchmal genieße ich es, manchmal auch nicht. Ich atme tief durch, merke, wie die Luft meine Lunge füllt und wie manche Gedanken, die mir hartnäckig durch den Kopf kreisen, beim Radfahren auf der Strecke bleiben.

Ich kenne beim Radfahren auch die Aufs und Abs. Da gibt es das mühsame Strampeln im kleinen Gang den Berg hinauf, bis ich dann doch absteigen muss, und da ist der herrliche Schwung, wenn es bergab geht und ich mich einfach nur rollen lassen kann. Wie im Leben und wie im Verhältnis zu Gott. Das ist auch nicht immer gleich.

Dass Glauben sich verändert und in Bewegung sein muss, hat auch die französische Schriftstellerin und Mystikerin Madeleine Delbrêl erfahren. Als Sozialarbeiterin in Ivry, einem Vorort von Paris, hat sie sich ab 1933 um Industrie-Arbeiter und ihre Familien gekümmert. Sie hat hautnah miterlebt, wie herausfordernd das Leben sein kann.

In lyrischen Texten hat Madeleine ihre Gedanken und Erfahrungen aufgeschrieben. Da sie begeisterte Radfahrerin war, gibt es auch einen Text, den sie mit „Fahrrad-Spiritualität“ überschrieben hat. In diesem Text spricht sie Gott direkt an. Sie schreibt:

 

„Immer weiter!“, sagst du zu uns.
Um die Richtung auf dich zu behalten, müssen wir immer weitergehen,
selbst wenn unsere Trägheit verweilen möchte.

Du hast dir für uns ein seltsames Gleichgewicht ausgedacht,
ein Gleichgewicht, in das man nicht hineinkommt und das man nicht halten kann,
es sei denn in der Bewegung, im schwungvollen Voran.

Es ist wie mit einem Fahrrad,
das sich nur aufrecht hält, wenn es fährt.“

Mich spricht das Bild an. Vorankommen kann ich nur, wenn ich in die Pedale trete. Wenn ich Energie in etwas stecke. Ich muss mich bewegen, auch, wenn es manches Mal schwer fällt. Gleichzeitig wird meine eigene Kraft nicht genügen, um im Gleichgewicht zu bleiben. Das hat auch Madeleine Delbrêl erfahren. Und deshalb bringt sie in ihrem Gedicht Gottes Liebe ins Spiel. Sie schreibt: „Wir können uns nur aufrecht halten, (…), wenn wir uns hineinwerfen in den Schwung deiner Liebe.“

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Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

02JUN2023
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Ganz selbstverständlich zieht Kevin jeden Sonntag die blaue Jacke mit dem gelben Streifen und dem violetten Kreuz an. Kevin ist ehrenamtlicher Helfer bei der Heidelberger Bahnhofsmission und macht – wenn er nicht gerade am Bahnhof ist – eine Ausbildung zum Automechaniker.

Kennengelernt habe ich Kevin bei der Vorbereitung auf seine Firmung im letzten Jahr. Am Anfang hat er einen etwas verpeilten Eindruck auf mich gemacht. Ich dachte, er ist bei der Firmvorbereitung dabei, weil man es halt macht. Ich war mir sicher, nach der Firmung werde ich ihn nicht mehr sehen.

Wie man sich täuschen kann. Denn: ein Jahr später taucht Kevin bei einem Jugendgottesdienst auf und erzählt mir anschließend fast eine Stunde lang von der Bahnhofsmission. Die Bahnhofsmission hat er erst während seiner Firmvorbereitung kennengelernt. Und jetzt hilft er jeden Sonntag dort mit! Ich bin baff. Damit hatte ich nicht gerechnet.

Die Bahnhofsmission in Heidelberg wird getragen von der evangelischen und katholischen Kirche, und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unterstützen, wo immer sie können. Sie sind zur Stelle, wenn andere in Not sind. Sie helfen Reisenden aus dem Zug und von einem Gleis zum anderen. Sie spenden Trost und haben ein offenes Ohr für Sorgen aller Art: wenn jemand einsam ist, verarmt, krank, süchtig oder wohnungslos.

Viele Menschen suchen Hilfe bei der Bahnhofsmission und in den vergangenen Monaten ist besonders die Zahl der Leute gestiegen, die mit psychischen Problemen kommen. Die Mitarbeitenden bei der Bahnhofsmission sind zwar keine ausgebildeten Psychologen und doch sind sie für viele die erste Anlaufstelle, wenn es darum geht, mit jemandem Sorgen und Ängste zu teilen.

Kevin hängt sich da richtig rein. Für ihn ist das selbstverständlich. Es gehört für ihn zum Christsein dazu, dort anzupacken, wo er gebraucht wird. Er erzählt, dass ein Mann immer wieder kommt. Der Mann hat keine Familie mehr und ist einsam. Geboren und aufgewachsen ist er in Polen. Wie Kevins Mutter. Also hat Kevin dem Mann an Heiligabend in einer kleinen Plastikbox ein typisch polnisches Weihnachtsessen mitgebracht. Was für ein Segen, dass die beiden sich begegnet sind.

Nach dem Gespräch mit Kevin bin ich tief beeindruckt. Ich bin dankbar für Menschen wie ihn, die sich in ihrer Freizeit für andere einsetzen. Und die dadurch andere spüren lassen, wie Gott für sie da ist.

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Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

01JUN2023
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Mitten auf dem Gelände der Bundesgartenschau in Mannheim steht ein 60 Meter langer Tisch. Und drum herum 193 bunt bemalte Stühle[1].

Die Kunstaktion heißt "Tisch der Nationen", und die Stühle stehen stellvertretend für die 193 Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen. Die Initiatoren der Kunstaktion möchten mit dem „Tisch der Nationen“ ein Mahnmal für den Frieden setzen. Und sie laden die Besucherinnen und Besucher ein, an dem Tisch ein wenig zu verschnaufen, zu vespern, mit anderen zusammenzusitzen und gerne auch mit Fremden ins Gespräch zu kommen.

 

Jeder Stuhl ist ein Unikat und ist – passend zur Nation, für die er steht – mit Farben und Symbolen des Landes bemalt.

Ein Stuhl hat oben auf der Lehne eine Krone. Auf der Sitzfläche ist eine Uhr gemalt, die 4 Uhr anzeigt. Und mir ist sofort klar: der Stuhl steht für England und die Tea-time am Nachmittag. Daneben steht ein grüner Stuhl, den man auch in einem Pub in Irland finden könnte, und der daran erinnert, wie schön es ist, zusammen zu sitzen, zu reden, Musik zu machen und zu feiern.

Der Stuhl, der für Afghanistan steht, ist mit Stoff bespannt, auf den zwei Bilder gedruckt sind. Auf dem einen sind farbenfrohe Gewürze in kleinen Schälchen zu sehen, auf dem anderen zwei verschleierte Frauen. Die Künstlerin hat dem Stuhl die Überschrift gegeben: zwischen Genuss und Vorschrift. In was für einer Spannung die Menschen dort leben. Der Stuhl lässt mich nachdenklich zurück.

Genauso wie der nächste. Auf die Sitzfläche ist ein großes Fragezeichen gemalt. Drumherum ist alles in gelb-blau, den Farben der Ukraine. Der Künstler schreibt dazu: Der Stuhl dieses Landes stellt viele Fragen. Was rechtfertigt einen Krieg? Was ist wirklicher Frieden? Und vor allem, wie gehe ich mit meiner Angst um? Der Stuhl gibt keine Antwort. Aber der Künstler ist überzeugt: Antworten können wir finden, wenn wir zusammensitzen und miteinander sprechen.

 

Menschen, die aus allen Himmelsrichtungen zusammenkommen und friedlich an einem Tisch sitzen – so wie bei der Bundesgartenschau in Mannheim - das erinnert mich an das Hoffnungsbild, von dem Jesus im Lukasevangelium erzählt. Er sagt: „Alle Menschen werden von Osten und Westen und von Norden und Süden kommen und im Reich Gottes zu Tisch sitzen.“ (Lk 13,29)

Vom Frieden unter den Völkern und Religionen sind wir leider weit entfernt. Aber so viele sehnen sich danach. Daran erinnert mich der biblische Text und der „Tisch der Nationen“.

 

[1]https://stuhlprojekt.kunsthandwerk.de/

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SWR1 3vor8

07MAI2023
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Als Kind habe ich meine Familie mit Fragen gelöchert und vor allem meine Oma musste ran, wenn ich gefragt habe: „Wie sieht es im Himmel aus?“ Und: „Mit wem werde ich da zusammen sein?“
Es sind kindliche Fragen und doch beschäftigt mich auch heute: Wie wird es nach dem Tod sein? Werde ich mich aufgehoben und zuhause fühlen? Eine mögliche Antwort ist heute in katholischen Gottesdiensten zu hören. Kurz vor seinem Tod sagt Jesus zu seinen Freunden: „Im Haus meines Vaters gibt es viele Wohnungen.“ (Joh 14, 2)

Wenn ich diese Stelle höre, denke ich an ein Kinderbuch mit dem Titel „Wo die Toten zuhause sind“. Das Buch greift das biblische Bild der himmlischen Wohnungen auf. Es erzählt, dass die Menschen nach ihrem Tod mit offenen Armen von Gott empfangen werden. Und dass sie alle Erinnerungen und Erfahrungen mit in das Haus Gottes nehmen - was schön war und was weh getan hat. In bunten, farbenfrohen Bildern zeigt das Buch das, was in den Wohnungen geschieht:
Türen führen zu ganz verschiedenen Wohnungen, keine Tür ist versperrt. Durch eine Tür gehen die, die Schuld auf sich geladen haben. Jesus nimmt ihnen ihre schwere Last ab, so dass sie aufrecht gehen können. Erfrischt kommen sie wieder heraus.

Wer durch die nächste Tür geht, beginnt über sich selbst zu staunen. In Gottes Licht erkennen sie, wie schön und liebenswert sie sind. Durch wieder eine andere Tür gehen diejenigen, die krank, gebrechlich oder verletzt sind. Gott wartet schon auf sie und macht sie gesund. Auch für die Fröhlichen gibt es eine Tür, drinnen bekommen sie ein Musikinstrument, gehen wieder heraus singen und spielen für die anderen und verbreiten Freude und Heiterkeit.

Hinter einer anderen Tür wartet Gott auf die, die weinen, klagen oder verzweifelt sind. Gott wischt ihnen behutsam ihre Tränen ab, tröstet sie und macht ihr Herz wieder froh. Es gibt auch eine Tür, durch die gehen all jene, die verbittert sind und mit geballten Fäusten gekommen sind. Gott legt auf sie seinen Segen und schenkt ihnen inneren Frieden. In der Mitte des Hauses befindet sich ein großer, liebevoll geschmückter Saal, dort treffen sich dann alle und feiern mit Gott und Jesus ein großes ausgelassenes Fest.

Es ist ein Bilderbuch für Kinder. Und doch finde ich, dass es in jedem Alter berührend und tröstlich sein kann, sich so die himmlischen Wohnungen Gottes vorzustellen.

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Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

03MAI2023
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Reisetipps geben, Mails verfassen, Aktienkurse vorhersagen, Statements oder Gedichte schreiben…all das kann ChatGPT, die künstliche Intelligenz, über die seit Wochen viel diskutiert wird.

Im Netz habe ich neulich ein kurzes Video gefunden, in dem von ChatGPT verlangt wird: „Fasse mir die Geschichte von Jesus Christus in einem Satz zusammen.“

Die Antwort kommt prompt: „Jesus Christus war der Sohn Gottes, der als Mensch auf die Welt kam, um die Menschen zu erlösen durch sein Leben, seinen Tod und seine Auferstehung.“ Hmm…eine Antwort, die mich nicht wirklich zufrieden zurücklässt. Der Satz klingt nach Wikipedia: sachlich richtig, aber so, dass ich ihn auch gleich wieder vergessen habe. Wie gut, dass das Video noch weitergeht und ChatGPT aufgefordert wird: „Mach es kürzer.“ Die Antwort: „Jesus erlöste die Menschen.“ Und nochmal die Bitte: „kürzer“. Auf dem Bildschirm erscheint jetzt: „Jesus erlöste“. Und man ahnt schon was kommt: „Noch Kürzer.“

Und jetzt steht nur noch der Name „Jesus“ da. Ich denke schon: „Das war´s“. Aber ChatGPT darf nochmal ran und wird ein letztes Mal aufgefordert: „Mach es noch kürzer.“

Die Antwort, die auf dem Bildschirm erscheint, überrascht mich. Denn statt eines Wortes taucht ein rotes Herz auf. Wie genial. ChatGPT fasst die Geschichte von Jesus einfach in einem Herz-Emoji zusammen. Und das sagt mir: es geht letztlich also nicht um geschichtliche Ereignisse oder um Dinge, die Jesus getan oder gesagt hat. Übrig bleibt allein die Liebe. Also die Art, wie er es getan hat. Mit welcher Haltung er Menschen begegnet ist.

Dass allein die Liebe wichtig ist, hat der Apostel Paulus einmal in eindrückliche Worte gepackt. Er schreibt: „Stellt euch vor: Ich kann die Sprachen der Menschen sprechen und sogar die Sprachen der Engel. Aber wenn ich keine Liebe habe, bin ich wie ein dröhnender Gong oder ein schepperndes Becken.“ (1 Kor 13, 1)

Paulus Text sagt also: egal, was jemand sagt oder tut, wie erfolgreich sie im Beruf ist oder wie viel er für gute Zwecke spendet – all das zählt letztlich nichts, wenn es nicht aus Liebe geschieht.

Ein hoher Anspruch. Bei mir klappt das selten. Aber ich kann es jeden Tag neu versuchen. Und darauf hoffen, dass andere ab und zu die Begegnung mit mir auch mit einem roten Herz-Emoji zusammenfassen würden.

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Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

02MAI2023
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1.577.000.000 Sekunden. So lange werde ich vermutlich noch leben. Zumindest laut durchschnittlicher Lebenserwartung. Und während ich hier spreche, sind es ein paar Sekunden weniger geworden.

Ich bin froh, dass ich die Zahl, die Sekunde für Sekunde kleiner wird, nicht ständig vor Augen habe. Anders geht es Jean-Remy von Matt[1]. Er hat eine Uhr entwickelt, die mit leuchtenden Ziffern anzeigt, wie lange man voraussichtlich noch zu leben hat. In Sekunden. Damit man sich bei einem Blick auf die Uhr bewusst macht, wie vergänglich das Leben ist.

Die Idee dazu hatte er an einem Geburtstag. Er hat sich gefragt: „Warum zählen wir eigentlich die Jahre, die hinter uns liegen – viel spannender ist doch, was vor uns liegt! Auf einer Milchtüte interessiert uns ja auch nicht, wann sie hergestellt wurde, sondern, wie lange sie noch frisch bleibt. Und von der Tankanzeige wollen wir nicht wissen, wie weit wir gefahren sind, sondern wie weit es noch reicht.“

Die Uhr, die er daraufhin entwickelt hat, wird individuell auf die durchschnittlich verbleibende Lebenszeit eingestellt und zählt dann in Sekunden runter. Natürlich kann niemand genau voraussagen, wann ein Mensch sterben wird. Doch darum geht es Jean-Remy auch gar nicht. Wichtiger ist ihm die Botschaft, die er mit der Uhr verbindet. Sie erinnert ihn ständig daran, das Beste aus dem Leben zu machen. Deshalb hat er die Uhr auch „Carpe Vitam Clock“ genannt. Also eine „Nutze-das Leben-Uhr.“

Die Zeit zu nutzen und das eigene Leben nicht zu verplempern, diesen Appell gibt es schon lange. Und auch mir hilft es, mir ab und zu bewusst zu machen, dass ich irgendwann sterben werde. Es gibt mir den nötigen Schwung, Dinge anzupacken, die ich vor mir herschiebe. Oder zu unterscheiden, was mir eigentlich im Leben wichtig ist: Freunde treffen statt auf dem Sofa zu sitzen, zum Beispiel.

Gleichzeitig will ich mich von der ablaufenden Lebenszeit aber nicht stressen lassen. Ich finde, dass es im Leben nicht nur darum geht, sich selbst zu optimieren und möglichst das Beste rauszuholen. Sondern dass ich am Ende meines Lebens hoffentlich dankbar sagen kann: In meinem Leben gab´s Hochs und Tiefs, Schönes und Schweres, aber im Ganzen ist es gut, so wie es war.

Und deshalb müsste meine „Carpe Vitam Clock“ immer das anzeigen, was die Uhr von Jean-Remy als Überraschung am Ende bereithält. Denn wenn die letzte Sekunde Lebenszeit abgelaufen ist, zählt seine Uhr wieder hoch. Und alle zehn Sekunden erscheint die Frage “Still alive?”, also „Lebst Du noch?“ und dann die Antwort: “It’s a gift!” „Es ist ein Geschenk.“

 

[1]https://www.jean-remy.de/carpevitamclock

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Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

01MAI2023
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Die Bibel liefert einige Tipps, wie ich gut mit meinen Gefühlen umgehen kann. Sie tanzen, aufschreiben, oder wegschlafen. Nicht alles passt oder hilft immer, aber vielleicht ist auch die ein oder andere Überraschung dabei[1].

Da ist zum Beispiel Miriam, die Schwester von Mose. Als ihre Emotionen sie überwältigen, beginnt sie zu tanzen, zu trommeln und zu singen. Das geht auch heute noch. Egal, ob mit spotify, mit dem eigenen Instrument oder auch nur mit Musik im Kopf: Wenn meine Gefühle stark werden, tut es gut, sie wie Miriam einfach mal rauszusingen. Oder, wem das mehr zusagt, sie rauszutanzen.

Mit manchen Gefühlen ist es dagegen so, dass ich ein bisschen Zeit alleine brauche. So ging es auch Elia, der sich – überwältigt von den Ereignissen - erschöpft zurückgezogen hat. In der Bibel wird erzählt, dass Gott ihm dann vorgeschlagen hat, erstmal eine Runde zu schlafen, dann etwas zu essen und sich zu bewegen. Und ich merke mir: unterschätze nicht die Kraft eines Mittagsschlafes, eines Snacks oder eines Spaziergangs.

Hanna im Buch Samuel macht es wieder anders. Sie merkt, dass es ihr gut tut, über ihre Gefühle zu reden und sich jemandem anzuvertrauen. Als sie ganz verzweifelt ist, schüttet sie Gott ihr Herz aus. Und dann wendet sie sich an Eli, dem sie vertraut und dem sie alles erzählen kann. Und egal, ob ich vor Glück übersprudle oder vor Verzweiflung nicht mehr weiterweiß, manchmal wirkt es Wunder, mit Freunden ein Glas Wein oder eine Tasse Tee zu trinken und zu reden.

Kein anderes Buch der Bibel steckt so voller Gefühle, wie die Psalmen. Sie werden oft David zugeschrieben, vermutlich waren aber noch mehr Menschen daran beteiligt. Doch egal, wer letztlich die Texte geschrieben hat: die Menschen haben ihre Gefühle in Worte ausgedrückt. Ich habe das auch schon versucht. Wenn angenehme oder unangenehme Gefühle da sind, habe ich sie aufgeschrieben. Manchmal ist dann ganz automatisch ein Gebet daraus geworden.

Was mir klar wird, wenn ich auf all die Beispiele schaue: Gefühle brauchen Zeit. Vielleicht bietet der heutige 1. Mai eine gute Gelegenheit, die Arbeit ruhen zu lassen und den eigenen Gefühlen Platz zu geben. Weil das Leben dann mehr Tiefe bekommt und die Gefühle das Leben bunt und lebendig machen.

 

[1] Vergleiche auch: https://faithpwr.de

https://www.kirche-im-swr.de/?m=37575
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Anstöße sonn- und feiertags

30APR2023
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Christ werden in 30 Minuten. Am vergangenen Mittwoch war es wieder möglich: in der Marienkirche mitten in Berlin konnten Erwachsene sich spontan taufen lassen. PopUp-Taufe[1] nennt die evangelische Gemeinde dieses Angebot, das es in diesem Jahr einmal im Monat gibt. Mittags um 12 wird ein Gottesdienst gefeiert, und wer getauft werden möchte, kommt für ein Gespräch mit der Pfarrerin eine halbe Stunde vorher in die Kirche. Es gibt ein kurzes Kennenlernen, die wichtigsten Formalitäten werden geklärt und die Pfarrerin fragt, warum die Person sich taufen lassen möchte. Und dann wird getauft. Sozusagen in der Mittagspause.

So originell ich diese Idee finde, bin ich zugleich auch etwas skeptisch: Ist das der Taufe angemessen, so spontan, quasi nebenbei zu taufen? Taufe ist doch mehr als ein kurzes Event, mehr als etwas, was ich „to-go“ einfach mal mitnehme.

Pfarrerin Corinna Zisselsberger, der die Sache mit der PopUp-Taufe in Berlin eingefallen ist, sagt: „Johannes, der Täufer am Jordan, hat es doch genauso gemacht. Die Menschen sind zu ihm gekommen, er hat sie im Wasser untergetaucht und dann war die Taufe vorbei. Da gab es keine langen Glaubenskurse oder viele Gespräche im Vorfeld.“

Wenn ich der jungen Pfarrerin zuhöre, fallen mir auch andere Stellen in der Bibel ein, die beschreiben, wie Menschen früher Christen wurden. Da wird von Leuten in Jerusalem erzählt, die an Pfingsten den Aposteln zugehört haben, und die sich dann direkt taufen ließen. Oder Lydia, eine toughe Geschäftsfrau, von der die Bibel erzählt, dass sie die erste Christin in Europa gewesen ist. Lydia trifft Paulus, hört ihm zu und spürt: ich möchte getauft werden. Zu dieser Gemeinschaft und zu diesem Jesus, von dem Paulus erzählt, möchte ich gehören.

Lydia, die Leute in Jerusalem und auch die Menschen bei Johannes am Jordan verbindet, dass sie was Neues suchen und ihrer Sehnsucht folgen. Die Botschaft von einem Gott, der die Menschen ohne Wenn und Aber liebt, trifft sie mitten ins Herz. Ihnen wird klar: ich muss nicht erfolgreich sein, es zu etwas bringen oder irgendjemandem etwas beweisen. Gott sagt einfach so „Ja“ zu mir und zu allen anderen Menschen. Diese Liebe macht mich stark und zuversichtlich.

Die PopUp Taufe ist eine ungewöhnliche Aktion. Und vermutlich wird sie die Ausnahme bleiben. Doch egal, was aus der Idee wird, finde ich es gut, es auszuprobieren und damit zu zeigen: Getauft zu werden ist keine Belohnung für irgendetwas, was ich geleistet habe. Im Gegenteil. Es ist ein famoses Geschenk Gottes.

 

[1]https://marienkirche-berlin.de/gemeinde/#Amtshandlungen und https://katholisch.de/artikel/44519-christ-werden-in-30-minuten-in-berlin-gibt-es-eine-popup-taufe

https://www.kirche-im-swr.de/?m=37548
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SWR1 3vor8

07APR2023
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Das Bildchen war so klein, dass ich es fast übersehen hätte und daran vorbeigelaufen wäre. Gerade mal vier auf sechs Zentimeter. Das Bild steht in einer Vitrine im spanischen Avila und ist nur mit ein paar Federstrichen gezeichnet. Es zeigt Jesus am Kreuz aus der Vogelperspektive. Also nicht von vorne, sondern von oben.

Gezeichnet hat das Bildchen Johannes vom Kreuz vor rund 430 Jahren. Er hat als Ordensmann in Spanien gelebt und war von Beruf Gottsucher, ein so genannter „Mystiker“. Über seine Suche hat er viele Gedichte und Texte verfasst, gerade auch in den Krisen seines Lebens. Einmal hat er geschrieben: „Mein Gott, bring mich heraus aus diesem Tod und gib mir das Leben.“ Johannes wusste, wie schwer das Leben sein kann. Als er zum Beispiel einige Monate in einem dunklen Keller gefangen gehalten wurde, hat er gespürt, wie verlassen man sich von anderen Menschen und von Gott fühlen kann.

Die kleine Zeichnung mit dem Blick von oben auf das Kreuz ist für mich wie eine Antwort auf diese verlassenen Momente. Denn die Zeichnung zeigt gewissermaßen Gottes Blick. Die Vorstellung von Gott im Himmel ist zwar überholt, aber trotzdem finde ich sie hilfreich, weil ich mir dann vorstellen kann: So hat Gott Jesus am Kreuz hängen sehen. Gott sieht den gequälten, sterbenden Sohn und ist in diesem Blick mit ihm verbunden. Für mich ist es, wie wenn Gott sagen würde: So vieles bin ich bereit auszuhalten. Ich lasse mich blutig schlagen, hinauswerfen aus der Welt. Mehr kann ich nicht mehr tun, als gerade so für dich da zu sein. Indem ich auf dich schaue, indem ich mit dir aushalte, indem ich dir beistehe.

Dieser Blick erspart Worte. Denn zu verstehen ist es nicht, dass es solches Leid gibt. Damals am Kreuz und bis heute nicht. Wie sehr wünsche ich mir manchmal, dass Gott eingreifen würde in unsere Welt. Dass er den Krebs einer Kollegin ein für alle Mal heilt. Dass Menschen nie mehr vor einem sinnlosen Krieg fliehen müssen oder dass junge Mütter und Väter am Grab ihres gestorbenen Kindes stehen.

Wenn heute an Karfreitag in den Gottesdiensten die Geschichte von Jesu Leiden und seinem Tod erzählt wird, und dann das Kreuz hochgehalten und verehrt wird, dann sind es zwei Blickrichtungen, mit denen ich auf das Kreuz schaue.

Zum einen schaue ich von vorne und trage dabei all die Menschen im Herzen, die heute leiden. Und dann möchte ich aber auch an die Perspektive denken, die Johannes vom Kreuz gezeichnet hat. Ich möchte mich erinnern, wie Gott voller Liebe auf mich und die Welt schaut. Und daran, dass er uns im Blick hat und mitleidet.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=37442
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