SWR1 3vor8

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07APR2023
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Das Bildchen war so klein, dass ich es fast übersehen hätte und daran vorbeigelaufen wäre. Gerade mal vier auf sechs Zentimeter. Das Bild steht in einer Vitrine im spanischen Avila und ist nur mit ein paar Federstrichen gezeichnet. Es zeigt Jesus am Kreuz aus der Vogelperspektive. Also nicht von vorne, sondern von oben.

Gezeichnet hat das Bildchen Johannes vom Kreuz vor rund 430 Jahren. Er hat als Ordensmann in Spanien gelebt und war von Beruf Gottsucher, ein so genannter „Mystiker“. Über seine Suche hat er viele Gedichte und Texte verfasst, gerade auch in den Krisen seines Lebens. Einmal hat er geschrieben: „Mein Gott, bring mich heraus aus diesem Tod und gib mir das Leben.“ Johannes wusste, wie schwer das Leben sein kann. Als er zum Beispiel einige Monate in einem dunklen Keller gefangen gehalten wurde, hat er gespürt, wie verlassen man sich von anderen Menschen und von Gott fühlen kann.

Die kleine Zeichnung mit dem Blick von oben auf das Kreuz ist für mich wie eine Antwort auf diese verlassenen Momente. Denn die Zeichnung zeigt gewissermaßen Gottes Blick. Die Vorstellung von Gott im Himmel ist zwar überholt, aber trotzdem finde ich sie hilfreich, weil ich mir dann vorstellen kann: So hat Gott Jesus am Kreuz hängen sehen. Gott sieht den gequälten, sterbenden Sohn und ist in diesem Blick mit ihm verbunden. Für mich ist es, wie wenn Gott sagen würde: So vieles bin ich bereit auszuhalten. Ich lasse mich blutig schlagen, hinauswerfen aus der Welt. Mehr kann ich nicht mehr tun, als gerade so für dich da zu sein. Indem ich auf dich schaue, indem ich mit dir aushalte, indem ich dir beistehe.

Dieser Blick erspart Worte. Denn zu verstehen ist es nicht, dass es solches Leid gibt. Damals am Kreuz und bis heute nicht. Wie sehr wünsche ich mir manchmal, dass Gott eingreifen würde in unsere Welt. Dass er den Krebs einer Kollegin ein für alle Mal heilt. Dass Menschen nie mehr vor einem sinnlosen Krieg fliehen müssen oder dass junge Mütter und Väter am Grab ihres gestorbenen Kindes stehen.

Wenn heute an Karfreitag in den Gottesdiensten die Geschichte von Jesu Leiden und seinem Tod erzählt wird, und dann das Kreuz hochgehalten und verehrt wird, dann sind es zwei Blickrichtungen, mit denen ich auf das Kreuz schaue.

Zum einen schaue ich von vorne und trage dabei all die Menschen im Herzen, die heute leiden. Und dann möchte ich aber auch an die Perspektive denken, die Johannes vom Kreuz gezeichnet hat. Ich möchte mich erinnern, wie Gott voller Liebe auf mich und die Welt schaut. Und daran, dass er uns im Blick hat und mitleidet.

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