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SWR Kultur Wort zum Tag
Genau vor 80 Jahren war es: da schmuggelte der Jesuitenpater Alfred Delp folgende Zeilen aus dem Nazi-Gefängnis: „Innerlich habe ich viel mit dem Herrgott zu tun und zu fragen und dranzugeben. Das eine ist mir so klar und spürbar wie selten: die Welt ist Gottes so voll. Aus allen Poren der Dinge quillt er gleichsam uns entgegen.“ Welch ein Satz in dieser Situation, mit gefesselten Händen geschrieben. Kurz zuvor waren drei Gefährten aus dem Widerstand hingerichtet worden, Delp selbst kämpft weiter ums Überleben. Er ringt mit Gott, man ahnt die Gebetskämpfe und Fragen - und doch diese unglaubliche Zuversicht, dieses Weltvertrauen im Namen Gottes, des treuen Schöpfers. „Aus allen Poren der Dinge quillt er gleichsam uns entgegen“, selbst in dieser dramatischen Lage.
Dann heißt es weiter in diesem bewegenden Dokument: „Wir aber sind oft blind. Wir bleiben in den schönen und in den bösen Stunden hängen und erleben sie nicht durch bis an den Brunnenpunkt, an dem sie aus Gott herausströmen. Das gilt für alles Schöne und auch für das Elend…In allem will Gott Begegnung feiern.“ Ich kenne kaum ein anderes Zeugnis, das die Kraft des Osterglaubens derart auf den Punkt bringt. Wie schön dieses Bild vom Brunnenpunkt, wonach letztlich alles aus Gottes Güte hervorsprudelt. Selbst aus dem Bösen kann und will er Gutes schaffen.
Ich dagegen, wie gern picke ich mir aus dem Alltagskuchen die Rosinen heraus und halbiere damit die Wirklichkeit: das Schöne und Gelingende nehme ich gerne an, vermutlich viel zu selbstverständlich noch, aber das Schwere und Unbegreifliche halte ich mir möglichst vom Leib. Dieser Alfred Delp dagegen geht aufs Ganze und stellt sich. Alles nimmt er ins Gebet. Auch im schier Ausweglosen sucht und entdeckt er die Handschrift Gottes. Bis zuletzt übrigens hat Alfred Delp ums Überleben gekämpft und darauf gehofft, dass ihm Todesurteil und Hinrichtung erspart bleiben, leider erfolglos. Gottvertrauen heißt gerade nicht, dass man die Hände in den Schoß legt. Ganz im Gegenteil. Nichts von Schwarzseherei und Gejammer über die böse Welt; stattdessen dieses unbändige Gott- und Weltvertrauen trotz allem. Wer im Sinne Delps zu glauben vermag, rechnet immer mit dem Guten, in Widerstand und Ergebung, voller Vertrauen auf Gottes Gegenwart.
„Aus allen Poren der Dinge quillt er gleichsam entgegen“. Wirklich entgegenkommend! Entscheidend ist, es zu probieren.
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Die Welt ist voller Gewalt, das bekommen ja alle zu spüren - angefangen bei der alltäglichen Gereiztheit bis zur raffiniertesten Ausbeutung und Unterdrückung. Nein, ich will hier das Leben nicht anschwärzen und Trübsal blasen, am Morgen eines Tages schon gar nicht. Aber dass es eine Überlebensaufgabe ist, den Gewaltpegel wenigstens zu senken, dürfte niemand bestreiten. Im Prinzip jedenfalls. Im Grunde ist es das alte Lied seit Kain und Abel, aber derzeit steht weltweit besonders viel auf dem Spiel: die ökologische Balance nämlich und damit die Frage, wie wir der Um- und Mitwelt weniger Gewalt antun, und uns selber auch.
Ich kenne – im Ernst – kaum eine Religion, die das Thema Gewaltüberwindung derart in den Mittelpunkt stellt wie der christliche Glaube. Immerhin geht es da zentral um einen unschuldig Gekreuzigten, das Opfer mitmenschlicher Gewalt. Dass der gute Jesus derart brutal beseitigt wurde, hängt ja zentral mit seiner Botschaft der Feindesliebe zusammen; man wollte den Störenfried loswerden und sein Plädoyer für Gewaltlosigkeit auch. Aber der Kick am christlichen Glauben heißt Ostern: Gott hat diesen Jesus aus dem Tod erweckt und ihm für immer Recht gegeben. Nie hat Gewalt das letzte Wort, und immer produziert sie Leiden. Glaubhaft ist nur Liebe.
Deshalb ist mir das heutige Kirchenfest so wichtig: Kreuz Erhöhung. Äußerer Anlass dafür war die Legende, dass damals die Kaiserin Helena das Kreuz Jesu in Jerusalem gefunden habe, gut 300 Jahre nach der Hinrichtung Jesu. Viel wichtiger ist mir die innere Botschaft dieses Festes: das Kreuz Jesu erhöhen, heißt ja: dessen Leben und Werk in den Mittelpunkt stellen und großmachen. „Sie werden auf den schauen, den sie durchbohrt haben“, heißt es dazu im Johannes-Evangelium (Joh 19,30). Also genau hinschauen auf dieses Opfer von Gewalt und Folter, auf das globale Ausmaß von Gewalt überhaupt – aber eben nicht wie die Maus auf die Schlange, sondern mit den Osteraugen der christlichen Hoffnung. Weil mit der Auferweckung Jesu der verfluchte Bann tödlicher Gewalt prinzipiell gebrochen ist, können wir endlich illusionslos und angstfrei hinschauen, auch auf uns selbst in den Spiegel. Wir brauchen nicht länger Blinde Kuh zu spielen, wir können hinschauen und vor allem anpacken wie dieser Jesus. Sein Kreuz wird zum Siegeszeichen, zum Notenschlüssel, zum Durchbruch in eine gewaltfreie Welt. Feindesliebe ist möglich.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=40487SWR Kultur Wort zum Tag
Goldmund war sein Spitzname, aber eigentlich hieß er Johannes Chrysostomos. Von Hause aus ein syrischer Mönch, ziemlich gelehrt und der Meditation zugewandt. Aber bekannt wurde dieser Johannes durch seine Predigten, wirklich Gold wert. Das brachte ihn schließlich bis ins Zentrum der Macht und des Weltreichs: er wurde Erzbischof in Konstantinopel, damit einer der vier Patriarchen und Hausherr der berühmten Hagia Sophia. Aber seine brillianten Goldmund-Qualitäten brachten ihm auch eine Menge Ärger ein, denn er nahm kein Blatt vor den Mund. Er prangerte Missstände in der Kirche an und packte reformerisch zu; er mischte sich auch politisch ein und kritisierte Verschwendungssucht und Egoismen der Reichen und Mächtigen. Bibel und Evangelium trieben ihn um, große Teile davon konnte er auswendig, so wichtig waren sie ihm, er lebte sie auch. Die einfachen Leute schätzten das sehr, aber nicht nur im Kaiserhaus fühlte man sich angegriffen. Keine sechs Jahre im Amt wurde Johannes Chrysostomos abgesetzt und verbannt, abgeschoben nach Kleinasien zuerst und schließlich deportiert Richtung Kaukasus. Bei diesem brutalen Transport starb er, noch nicht mal 60 Jahre alt. Das war im Jahre 407, also vor mehr als 1600 Jahren.
Dieser Johannes Chrysostomos wird bis heute hoch verehrt, besonders in den Ostkirchen, er gilt als großer Kirchenlehrer und überzeugender Christenmensch. In der Tat: selbst zu leben, was man lehrt, überzeugt immer. Das biblische Gebot der Gottes- und Nächstenliebe konkret umzusetzen, ist der einzig glaubwürdige Weg. Sich dann auch einzumischen und Flagge zu zeigen, ist vorbildlich. Und die Konsequenzen zu tragen, beispielhaft. Dabei hat Johannes Chrysostomos auch schwere Fehler gemacht, das macht ihn so menschlich. Seine Aussagen über die Juden z.B. sind derart rabiat, dass sie die Judenfeindschaft leider deutlich gefördert haben.
Dass man seiner heute dennoch gedenkt, ist gut. Solch engagierte Christenmenschen braucht das Land. Menschen, die sich heraustrauen und einmischen. Einen Gedanken des großen Lehrers habe ich mir besonders gemerkt: Die Bibel bräuchten wir eigentlich gar nicht, meinte Chrysostomos, wir hätten ja den Heiligen Geist und wüssten längst, was gut ist. Tatsächlich wissen wir ja alle, dass es auf Liebe und Recht ankommt. Aber wir leben es zu wenig, die Bibel ist uns deshalb als Lebenshilfe gegeben, als Krücke und Prothese. Aber aufs Tun kommt es an, gelegen oder ungelegen. Und aufs Stehvermögen.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=40486SWR Kultur Wort zum Tag

Über Jahrhunderte hin war sie eine Größe, wie viele wurden auf ihren Namen getauft: Maria, die Mutter Jesu, besonders natürlich in katholischen Gegenden und Milieus. Das hat sich geändert: pompöse Mai-Andachten z.B., mit denen ich groß geworden bin, gibt es nur noch in ganz katholischen Regionen. Ein merkwürdiger Temperaturwechsel in der Marienverehrung.
Schon im Neuen Testament wird Maria eine besondere Stellung zugewiesen. Aber nicht wegen ihrer biologischen Bedeutung für die Ankunft Jesu, sondern wegen ihres Gottvertrauens. „Selig bist du, weil du geglaubt hast“. Von Anfang erscheint diese junge Frau – ihr genaues Alter kennen wir ja nicht – als wahrhaft gottempfänglich. Jahrhundertelang war das Bild von Mariä Verkündigung eines der beliebtesten in der westlichen Christenheit. In dieser wunderbaren Szene, wo der Engel eintritt und ihr die Schwangerschaft mit Jesus ankündigt, fanden sich viele Generationen wieder. In der Tat eine Urszene des Glaubens: sich derart tief von Gott angesprochen wissen und darauf so offen wie Maria reagieren - das macht den glaubenden Menschen fruchtbar. Genau wie Maria sich sagen und gesagt sein lassen: „Gegrüsst bist du, Maria, oder eben August oder Melanie, du bist voll der Gnade“; du bist erwünscht und gesegnet, du bist erwählt und hast Bedeutung. Und dann diese gewaltige Zusage: „der Herr ist mit dir“. Ja, wenn Gott wirklich mit uns ist, was kann uns dann noch passieren? Eine unglaubliche Rückenstärkung ist das, eine unglaubliche Herausforderung. Es war ja kein leichtes Leben für diese junge Mirjam: da bekommt sie einen Sohn, der dann in den Augen seiner Umwelt derart verhaltensauffällig wird; sie steht unter dem Kreuz, die Mutter Jesu, als Pieta und als seine treue Jüngerin. Und dann das „Freu dich, du Himmelskönigin, freu dich Maria, das Leid ist alles hin, Halleluja“.
Viele Marienlieder in ihrem Überschwang sind vielleicht schwer zu singen, Marias Lebens- und Glaubenssumme aber ist gewaltig. Ohne sie wäre Jesus nicht da. Ohne sie würde eine Urgestalt des Glaubens fehlen. Eine imponierende Frau. Früh schon wurde sie mit Recht als Erwählte gefeiert, man suchte ihre Fürsprache, nicht nur “ in der Stunde unseres Todes“, wie es im „Gegrüßet seist du Maria“ heißt. Das macht tiefen Sinn, denn sie ist eine von uns, von Gottes Gnaden, wie dann auch wir. Und einen besonderen Glückwunsch heute zum Namenstag allen, die Maria heißen.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=40485SWR Kultur Wort zum Tag
Heute vor 80 Jahren versuchte Graf Stauffenberg, Hitler zu töten. Dass das schuldig macht, wusste er genau. Aber angesichts von Nazi-Diktatur und mörderischem Weltkrieg nichts zu unternehmen, war ihm und seinen Gefährten unentschuldbar. Das Attentat auf den braunen Diktator misslang, brutal schlug das Nazi-System zurück: riesige Verhaftungswellen durchzogen das Land, viele aufrechte Zeitgenossen verloren ihr Leben, der Krieg ging weiter bis zum bitteren Ende.
Zeitgleich entstand im Berliner Gefängnis das große Werk des evangelischen Theologen Dietrich Bonhoeffer. Fast auf den Tag genau vor 80 Jahren schrieb er seinem Freund aus dem Gefängnis: „Ich habe in den letzten Jahren die tiefe Diesseitigkeit des Christentums kennen und verstehen gelernt.“ Nicht in einer Wunsch- und Jenseitswelt leben, nicht um sich selbst und seine Spiritualität kreisen, nein, so heißt es wörtlich weiter, „in der Fülle der Aufgaben, der Fragen, Erfolge und Misserfolge, Erfahrungen und Ratlosigkeiten leben“, darauf komme es an. Die Bibel spreche nicht viel von Glück, sondern von Segen, und an dem sei alles gelegen. Weil der Mensch sich glaubend gesegnet weiß – „von guten Mächten still und wunderbar geborgen“. Gerade deshalb kann und soll er sich voll einmischen in das, was hier und jetzt zu tun ist. Beten und Tun des Gerechten, und das mitten im Alltag, lautet die Einladung. Die Bibel spricht auch nicht vom Sinn des Lebens, sondern von Gottes Verheißung. Der Mensch, der glaubt, hat Gottes Zusage immer im Rücken, deshalb kann er dem Rad des Unrechts in die Speichen greifen und bessere Alternativen wagen. Sogar so, wie der Hitler-Attentäter Graf Stauffenberg und andere.
„Dem Leben trauen, weil Gott es mit uns lebt“, schrieb etwas später Alfred Delp, der katholische Bruder Bonhoeffers und ebenfalls im Gefängnis der Nazis. Sie alle hatten ein anderes, ein gerechtes Deutschland im Sinn. Sie widerstanden jeder Form, die eigene Nation zum Höchstwert zu machen und andere zu verteufeln. Wer an Gott glaubt, braucht eben nichts in der Welt zu vergöttlichen, schon gar nicht sich selbst und die eigene Meinung, oder das eigene Volk. Mitten in den aktuellen Problemen geht es um Widerstandskraft. Es gilt sich einzumischen, mit klarem Kompass und langem Atem. Diesen 20. Juli zu erinnern kann zur Kraftquelle werden.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=40220SWR Kultur Wort zum Tag
„Nichts Schöneres unter der Sonne, als unter der Sonne zu sein“ – wie treffend dieser Vers von Ingeborg Bachmann ist, und das ganze Gedicht auch. Ein einziger Sonnenhymnus. Klar, man kann sich auch einen Sonnenbrand holen. Und die fortschreitende Versteppung der Erde zeigt, dass mit diesem Feuerball am Himmel nicht zu spaßen ist. Aber was wären wir Menschen ohne die Sonne, was das Leben ohne ihre Strahlen und ihr Licht? Jetzt im Sommer besonders. Zwar hat sie für dieses Jahr ihren Zenit schon hinter sich, die Sommersonnenwende war ja schon, aber dieses Grundgefühl von Jahresmitte und Sonnenfülle ist prägend, auch von Reifung und Ernte, von Ferien auch und von Urlaub. „Nichts Schöneres unter der Sonne, als unter der Sonne zu sein.“ Einfach super.
Seit es Menschen gibt, gibt es auch Sonnenkulte. Die Sonne ist der erste Gott, die erste Göttin im Leben der Menschheit. Alle Kulturen und Religionen umkreisen dieses Lichtzentrum als göttliche Instanz, von größter Bedeutung für Leben und Tod. Noch heute sagt man von Leuten am Strand, sie seien Sonnenanbeter. Für biblisch Glaubende ist die Sonne sichtbarster Ausdruck von Gottes Schöpferkraft. Sie ist „die Morgenlektion Gottes“ – so meinte Johann Gottfried Herder, der gelehrte Stadtpfarrer von Weimar, damals zu Goethes Zeiten. Ja, auch der heutige Sonnenaufgang enthält diese wichtige Botschaft: mag die Nacht noch so schlimm gewesen sein, das Tageslicht ist stärker: Gott ist im Kommen, auf seine Ausstrahlung ist Verlass, in diesen Sommertagen erst recht.
Das kirchliche Morgengebet ist voll von anschaulichen Lobeshymnen auf das Sonnenlicht und die Schöpfung. „Du Abglanz von des Vaters Pracht, / du bringst aus Licht das Licht hervor, / du Licht vom Licht, du Lichtes Quell, / du Tag, der unsern Tag erhellt. // Du wahre Sonne, brich herein / die Sonne, die nicht untergeht, / und mit des Geistes lichtem Strahl / dring tief in unsrer Sinne Grund.“ Über 1500 Jahre alt ist dieser Hymnus vom Mailänder Bischof Ambrosius, damals wie heute brandaktuell: göttliche Sonnenergie draußen in der Natur, auf den Hausdächern und hoffentlich auch im eigenen Fühlen und Leben: „Dring bis auf der Seele Grund“. In diesem Sinn Ihnen und uns einen guten Morgen, mit viel Sonne im Herzen!
https://www.kirche-im-swr.de/?m=40219SWR Kultur Wort zum Tag
„Das Jahr steht auf der Höhe, / die große Waage ruht. / Nun schenk uns deine Nähe / und mach die Mitte gut.“ So beginnt ein Kirchenlied mit Versen von Detlev Block. Zwar sind seit der Sommersonnenwende schon wieder einige Wochen vergangen, aber dieses Gefühl von Jahresmitte ist noch prägend. Die Sonne und das Jahr im Zenit, der volle Sommer, das Ausreifen. „Das Jahr steht auf der Höhe .../ Herr, zwischen Blühn und Reifen / und Ende und Beginn. / Lass uns dein Wort ergreifen / und wachsen auf dich hin.“ So endet die erste Strophe.
Ich liebe dieses Lied, eigentlich müsste ich es jetzt singen, allein wegen der Melodie. Es hat so einen lebenssatten Klang, voller Zuversicht und Lebensfreude. Da hält sich alles die Waage: Frühling und Herbst sind von Ferne präsent, aber jetzt ist Reifung und Fülle, wie im kurzen Wendepunkt von Ein- und Ausatmen. Stille und Dank, auch Bilanz und Ernte ein bisschen, und schon das Wissen um den anklopfenden Herbst. Im Lied heißt das so: „Das Jahr lehrt Abschied nehmen / schon jetzt zur halben Zeit. / Wir sollen uns nicht grämen, / nur wach sein und bereit, / die Tage loszulassen / und was vergänglich ist, / das Ziel ins Auge fassen, / das du, Herr, selber bist.“ Mit der Anrede „Herr“ habe ich zwar Schwierigkeiten, denn das hat für mich den Beigeschmack von Unterwerfung, von Herr und Knecht, männlich zudem. Aber der Sound des ganzen Liedes ist so einladend und beschwingt, dass es mich mitnimmt und trägt. Diesen Morgen in der Jahreshöhe gilt es zu würdigen, ja zu feiern: Lust am Leben hier und jetzt, „wach sein und bereit“, immer auch abschiedlich. Das macht diesen Tag noch einmaliger.
Die vierte Strophe sammelt dieses Ja zur Erde in der Anbetung des Schöpfers und seiner Treue. „Du wächst und bleibst für immer, / doch unsere Zeit nimmt ab. / Dein Tun hat Morgenschimmer, / das unsere sinkt ins Grab. / Gib, eh die Sonne schwindet, / der äußere Mensch vergeht, / dass jeder zu dir findet / und durch dich aufersteht.“ Völlig paradox: noch im Abnehmen der Lebens- und Jahreszeit geht es um Wachstum und Lebensfülle, um nichts sonst. Da ist eine ungeheure Daseinslust spürbar, durch und durch österlich. Gott selbst wächst mit uns und wir mit ihm. „Dein Tun hat Morgenschimmer“ - ja, das Lied hat Recht - „nun schenk uns deine Nähe und mach die Mitte gut.“
https://www.kirche-im-swr.de/?m=40218SWR Kultur Wort zum Tag
Vor 100 Jahren, genau am 11. Juni, ist Franz Kafka beerdigt worden, gerade mal 41-jährig. Noch bis zu seinem Tod hatte der schwer kranke Dichter Korrektur gelesen für den Druck seiner Geschichte „Der Hungerkünstler“. Wie so oft ein Vermächtnis der besonderen Art, unschwer sind autobiografische Bezüge auszumachen, und alle, die sie lesen, bekommen das zu spüren, „als wär‘s ein Stück von mir“.
Dieser seltsame Hungerkünstler mit seiner Show ist schon lange mit dem Zirkus unterwegs, aber irgendwie hat man ihn fast vergessen. Jetzt bei der Inventur stößt man auf den völlig Erschöpften und will ihn entsorgen; Platz muss her für einen Tiger, und „der hat das Leben im Gebiss“, wie es heißt. Auf die Frage, warum er denn überhaupt auf das Essen verzichte, antwortet dieser Hungerkünstler mit den Worten: „weil ich hungern muss, ich kann nicht anders“ – und weiter: “weil ich nicht die Speise finden konnte, die mir schmeckt. Hätte ich sie gefunden, glaube mir, ich hätte kein Aufsehen gemacht und mich vollgegessen wie du und alle.“
Die Speise finden, die mir schmeckt – die also satt macht und den Lebenshunger wirklich stillt. Man braucht nur mal junge Vögel im Nest mit ihren ständig offenen Schnäbeln zu betrachten, aber natürlich können wir uns mit dem Blick auf ein Baby an unsere eigene Geschichte erinnern. Es geht nicht nur um Nahrungszufuhr allgemein. Auf den Geschmack kommen, ist ja nicht nur ein kulinarisches Geschehen und eine ästhetische Angelegenheit; es hat mit mir persönlich und meiner Lebensart zu tun. Wer in Erregung z.B. herausschreit „das schmeckt mir nicht“, äußert damit höchstes Missfallen und Unbehagen. Er lässt sich nicht abspeisen. Kafkas Hungerkünstler gibt sich mit Ersatzprodukten nicht zufrieden, er lässt sich seinen Hunger nicht ausreden. Er ist ein Widerständler mitten im Zirkus einer Bedürfnisgesellschaft, die ihren Hunger stets betäubt.
Der Hungerkünstler Kafkas steht stellvertretend für alle, die real hungern und Nahrung brauchen. Er steht Pate für alle, die sich ihren spirituellen Hunger nicht nehmen lassen. Denn der Mensch lebt nicht allein vom Brot, sondern von jedem Wort, das aus dem Munde Gottes kommt. „Selig sind, die hungern und dürsten nach Gerechtigkeit, sie werden gesättigt werden“.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=39842SWR Kultur Wort zum Tag
Ein Satz wie ein Bergkristall, klar und scharf und mit innerem Licht: „Der Mensch kann nicht leben ohne ein dauerndes Vertrauen zu etwas Unzerstörbarem in sich, wobei sowohl das Unzerstörbare als auch das Vertrauen ihm dauernd verborgen bleiben können. Eine der Ausdrucksmöglichkeiten dafür ist der Glaube an einen persönlichen Gott.“ Franz Kafka hat diesen Satz ihn im Dezember 1917 geschrieben, in der vielleicht glücklichsten Zeit seines Lebens. Seit wenigen Monaten weiß der 34jährige durch einen dramatischen Blutsturz, dass er an Tuberkulose erkrankt ist, und er ahnt wohl auch schon, dass er daran sterben wird, am 3. Juni 1924 tatsächlich, vor 100 Jahren. Er ist zur Erholung auf dem böhmischen Land in Zürau bei seiner Lieblingsschwester Ottla, vieles ordnet sich neu in ihm und kommt sogar zur Ruhe. Die förmlich ererbte Lebensangst scheint wie gebändigt.
Aus der Lektüre Schopenhauers ist ihm der Gedanke des Unzerstörbaren wichtig geworden: in jedem Menschen gebe es so einen letzten Grund. Dass ich da bin, ist nicht zu leugnen, dass ich irgendwie da sein will, auch nicht. Da ist ein Tiefenvertrauen, mindestens ein guter Verdacht. Kafka ahnt und lernt: Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser. „Ein dauerndes Vertrauen zu etwas Unzerstörbarem“ als Basis von allem, und das längst vor allem Denken und Wissen. Manche sprechen von Urvertrauen. Mag es noch so angeknackst sein, gäbe es nicht wenigstens etwas davon, wir würden es auf Dauer nicht aushalten. Es ist wie bei der Gesundheit: was sie einem wirklich bedeutet, wird uns erst in der Krankheit bewusst. Bis dahin war sie verborgen. „Etwas Unzerstörbares“, wirklich tragfähig und verlässlich. Es hat mit dem zu tun, was Menschen Gott nennen. Aber Kafka bleibt da erfreulich diskret. Es geht ja um das Intimissimum des Menschen, um die Lebensfrage: worauf sich verlassen, im Leben und im Sterben?
Die Geschichten, Aphorismen und Tagebücher Kafkas sind ein faszinierendes Medium, um sich dem All-Tag zu stellen. Wer gar an einen persönlichen Gott zu glauben vermag, kann dadurch tiefer erfahren, welch unglaubliches Geschenk das ist, welch ein Schatz, z.B. das Beten. Und wer nicht glauben kann, wird gestärkt mit der Frage aller Fragen umgehen: worauf ist Verlass, im Leben und im Sterben, und jetzt?
https://www.kirche-im-swr.de/?m=39841SWR Kultur Wort zum Tag
„Dass es uns an Glaube fehle, kann man nicht sagen. Allein die einfache Tatsache unseres Lebens ist in ihrem Glaubenswert gar nicht auszuschöpfen.“ Diese These stammt von Franz Kafka, dem vielleicht klarsten und abgründigsten Schriftsteller deutscher Sprache. Ein erstaunlicher Satz, denn öfter ist ja das Gegenteil zu hören: „ich glaub nix, mir fehlt nix“. Dass es da gar einen Überschuss an Glauben geben soll, ist wirklich eine kühne Aussage. Vor drei Tagen war Kafkas 100.Todestag. Als er vom unerschöpflichen Glaubenswert des Lebens schrieb, hatte er schon den Befund Tuberkulose zu verkraften, damals meist tödlich und dann auch für ihn. Und trotzdem diese kühne Notiz: Glaube ist genug da, schier unerschöpflich. „Man kann doch nicht nicht-leben.“
Klar ist sofort: Kafka meint hier nicht religiösen Glauben oder gar den kirchlichen. Natürlich schwingt seine jüdische Prägung mit. Aber vor allem ist es eine ganz alltägliche Erfahrung, auch heutzutage. Ohne Vertrauen kein Leben, ohne Vertrauensvorschuss keine Initiative und letztlich kein Schritt vor die Tür und kein Atemzug. Wir könnten auch von Urvertrauen sprechen, von Lebensglauben. „Es wird schon werden“. „Man muss auch mit dem Guten rechnen“. „Es wird schon nicht so schlimm“. Wie auch immer die alltäglichen Trost-Sprüche heißen – sie alle laufen auf Ermutigung hinaus. „Man kann doch nicht nicht-leben“. Selbst wenn man sich tragischerweise das Leben nehmen wollte, müsste man sich immer noch aktiv dazu entscheiden.
Eigentlich gibt es nur eine einzige Existenz-Frage, meinte später der Kafka-Leser Albert Camus: „Warum bleiben Sie am Leben?“ Eben, weil darin dieser Glaube steckt, dieser unbändige Lebenswille, dieses Tiefenwissen um den Schatz des Daseins. Leben heißt, darauf vertrauen, dass es gut ausgeht. Dass ich heute Morgen aufgewacht und aufgestanden bin, ist ja keineswegs selbstverständlich. In jeder Handlung steckt ein Glaubensakt. Mit jedem Atemzug mache ich Gebrauch von einer Zusage und erwidere sie, mag die Luft auch noch so knapp werden. Kafka hat Recht: wir Menschen sind gläubiger als wir denken. Und das hat guten Grund. Religiöse Menschen nennen ihn Gott.
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