SWR2 Wort zum Tag

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11NOV2022
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St Martin ist ein frommer Mann… dieses Kinderlied ist heute wieder zu hören, wenn die Martins-Umzüge sich auf den Weg machen, womöglich gar mit leibhaftigem Pferd. Dass der römische Soldat aus Ungarn damals einem armen Schlucker die Hälfte seines Mantels geschenkt hat, ist unvergessen - ein Inbild von Einfühlungskraft und Nächstenliebe, wirklich ein Lichtblick in dunklen Zeiten. In der Tat, der historische Martin war in den Gründerjahren des Christentums eine starke Figur. Zum Schluß Bischof im französischen Tours, hat er mit Ambrosius, einem anderen großen Kirchenvater, das aufgebaut, was heute in der Krise steckt: eine funktionierende und glaubwürdige Kirche.

Besonders faszinierend finde ich Martins Gespür für Wahrhaftigsein. Glaubwürdig, authentisch, transparent war er. Dazu erzählt sein erster Biograph etwas aus dem Nähkästchen. Demnach erschien dem Martin im Traum einmal eine göttliche Lichtgestalt und sagte ihm, sie sei Christus. Von höchster göttlicher Stelle solle er Dank und Anerkennung überbringen. Martin ist natürlich beglückt, wer wäre das nicht bei so hohem Besuch. Aber dann kommen ihm Bedenken, typisch für seine Hellsicht. „Wo sind deine Wunden?“, fragt er kritisch zurück. Denn ein Christus ohne Wunden ist ihm, typisch christlich, undenkbar. Sofort ziert sich die Traumgestalt und redet sich raus: er wolle sich heute einmal ganz österlich zeigen, ganz ohne das hässliche Kreuz und die schlimmen Lebenswunden. Martin aber, nun hellwach wie es sich für einen Christenmenschen gehört, kontert sofort: „hau ab, du bist der Satan!“ Ein Christus ohne Wunden ist der Teufel!

Genau das ist der Punkt: ein himmlischer Christus ohne irdische Wunden ist ein Traumprodukt, eine Wunschphantasie, mehr noch: ein Lügengebilde. Natürlich, in den Himmel wollen alle, so oder so. Wer träumt nicht vom großen Glück? Aber ohne die Nöte des Irdischen, ohne Verletzungen und Wunden geht es leider nicht. Und genau das steht christlich im Zentrum: der verwundete Arzt, nicht der Strahlemann; der gekreuzigte Christus, nicht der Zauberkünstler. Genau deshalb ist Christus glaubwürdig, weil er unser menschliches Leben selbst durchgemacht hat. Genau deshalb ist sein Gott unser Gott, er weicht Gewalt und Leiden nicht aus, er trägt mit und führt heilend hindurch und voran. Das hat Martin kapiert. Deshalb wendet er sich dem Bettler zu. Deshalb schickt er seinen Strahlemann zum Teufel. Nicht blenden, sondern teilen. Ja, „Sankt Martin ist ein frommer Mann“. Heiliger Martin, glänzender Zeuge, bitte für uns.

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