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Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

01JUL2024
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Verfallene Häuser und Scheunen, ein Parkhausgerippe im Rohbau, vor Jahren abgestellte und sich selbst überlassene Autos, Zweiräder und Baumaschinen, alte Fabriken und stillgelegte Kraftwerke. In südlichen Nachbarländern sieht man das öfter mal am Straßenrand. Bei uns in Baden-Württemberg eher selten. Im „Musterländle“ mag man es lieber aufgeräumt.

Aber es gibt sie auch hier. Sogenannte „lost places“ – verlorene Orte, von Menschen aufgegebene, verlassene Gebäude, Anlagen oder auch Gegenstände. Niemand hat sich die Mühe gemacht, sie wegzuräumen oder abzutragen. Sie verfallen heimlich, still und leise vor sich hin.

Der in Esslingen geborene Fotograf Benjamin Seyfang liebt solche Orte, sucht sie immer wieder auf und hält seine Eindrücke in Bildern fest. Auch ich kann mich ihrem Charme nicht entziehen. Was ist so faszinierend an einem vom Moos fast zugewachsenen Fahrrad? Einem leeren Schwimmbecken oder – besonders berührend – einem Raum mit eingestürzter Decke, an dem nur noch ein schlichtes Holzkreuz an der Wand daran erinnert, dass hier einmal die Kapelle eines Seniorenheims gewesen ist?

Eins verstehe ich gleich: Es herrscht eine wunderbare Ruhe an diesen „verlorenen Orten“. Man sieht noch die Spuren ehemaligen Lebens, aber jetzt hat kein Mensch mehr seine Finger im Spiel. Vieles hat sich die Vegetation inzwischen zurückerobert. Mit Spinnennetzen, mit Efeu, Gestrüpp und Moos. Auch dieser Anblick hat etwas Tröstliches. Denn ich sehe eine Kraft am Werk, die uns Menschen mit unseren genialen Ideen, aber auch mit unserem zerstörerischen Eifer überdauern wird. Langsam und barmherzig ist sie am Werk. Irgendwie friedlich. Tausend Jahre sind ihr wie ein Tag. Nichts eilt mehr. Alles wird überwachsen, überwuchert, umarmt, umschlungen. Und dann gibt es da noch diesen liebevollen Blick, der das alles eingefangen hat und es nun auf mich wirken lässt.

„Ich bin gekommen, um zu suchen, was verloren ist.“ Das könnte als Motto im Vorwort dieser Bücher stehen. Ein Jesuswort. Ich weiß, er hat damit Menschen gemeint. Solche, die niemand eines Blickes gewürdigt hat. An denen andere vorbeigegangen sind, ohne sie zu bemerken. Lord oft the lost, der Herr der Verlorenen. Die Fotos all der lost places lehren mich einen neuen Blick auf Räume und auf Menschen.

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SWR1 Begegnungen

30JUN2024
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Eritrea Habte Foto: Edena Alfa

Martina Steinbrecher trifft Eritrea Habte, Mitglied einer eritreisch-orthodoxen Gemeinde in Karlsruhe, die sich für den Erhalt ihrer geistlichen Traditionen und für gelingende Integration einsetzt. Bei beiden Anliegen spielen Sprachkenntnisse eine wichtige Rolle. Eritrea Habte spricht vier verschiedene Sprachen.  

Sie heißt wie das Land, in dem sie zur Welt gekommen ist und 19 Jahre lang gelebt hat: Eritrea. Das kleine Land mit rund 4 Millionen Einwohnern liegt am Horn von Afrika zwischen dem Sudan im Norden und Äthiopien im Süden. Vor 31 Jahren ist die heute 50jährige nach Deutschland gekommen und wohnt seither mit ihrer Familie in Karlsruhe. Am Anfang hat sie kein einziges Wort Deutsch gesprochen.

Am Anfang habe ich mich tatsächlich auf Englisch verständigt. Ich habe zuerst hier bei der Volkshochschule ein Jahr Deutsch gelernt und dann bin ich dann in die Abendschule im Abendgymnasium in die zehnte Klasse eingestiegen und habe dann dort auch mein Abitur gemacht und konnte dann die Sprache erlernen.

Für Eritrea Habte war Deutsch bereits die vierte Sprache, die sie gelernt hat. Ihre Muttersprache heißt Tigrinya und ist eine von neun Sprachen, die in Eritrea gesprochen werden. In der Schule hat sie dann Englisch gelernt. Und Amharisch, die damalige äthiopische Amtssprache. Heute erlebt Eritrea ihren Sprachenschatz als großen Reichtum, denn jede Sprache hat für sie eine besondere Bedeutung und einen eigenen Reiz:

Ich kann mich auf Tigrinya am besten ausdrücken. Das ist meine Muttersprache. Dadurch, dass ich auch Amharisch in der Schule gelernt habe, kann ich mich auch sehr gut ausdrücken. Ich finde, auf Amharisch kann man sich auch geschmeidiger ausdrücken und es fühlt sich auch weicher an. Und ich singe und lese auch am liebsten auf Amharisch. Die deutsche Sprache, also ich finde die wirklich wunderbar. Literatur lese ich gerne auf Deutsch. Und was mich fasziniert an der deutschen Sprache: wie man differenziert sich auch ausdrücken kann. Zu einem Gefühlszustand auf Tigrinya mit einem Ausdruck gibt es zehn Differenzierungen auf Deutsch.

Dass ich Eritrea kennengelernt habe, hängt auch mit ihren sprachlichen Fähigkeiten zusammen: Im Jahr 2006 haben wir einen sechsjährigen äthiopischen Jungen adoptiert. Bis er seine ersten Sätze auf Deutsch gesprochen hat, hat Eritrea für uns gedolmetscht und ihm die neue und fremde Welt in seine Muttersprache übersetzt. Auch mit ihren eigenen fünf Kindern hat Eritrea die Erfahrung gemacht: Es hilft bei der Entwicklung der eigenen Identität, wenn man die sprachlichen Wurzeln nicht kappt:

Für uns war wichtig, dass die Kinder die Muttersprache lernen, dass sie die Muttersprache gut beherrschen. Da haben wir schon von Anfang an mit denen auf Tigrinya geredet, aber dann auch abends auf Deutsch Bücher vorgelesen. Am Anfang haben sie dann im Kindergarten natürlich nicht so gut kommunizieren können, aber nach ein paar Monaten haben sie wirklich gut gelernt und konnten dann einfach auch einwandfrei kommunizieren.

Eritrea Habtes Töchter Eden und Manna haben ihr Abitur später auf einem zweisprachigen Gymnasium abgelegt und können sich heute neben Tigrinya und Deutsch auch fließend auf Englisch und Französisch unterhalten. Durch den Erhalt der Muttersprache und die Förderung des Fremdsprachenerwerbs hat Eritrea ihren Kindern beide Welten zugänglich gemacht und beides miteinander verbunden: Tradition und Integration.

Sprache ist für sie der Schlüssel für ein gelingendes Miteinander.

Im großen Ganzen sehe ich Sprache als kardinales Element für soziale und akademische Integration, aber auch als kreatives Werkzeug. Auch sehe ich eine zentrale Rolle von Sprache in der Selbstfindung bzw. Identitätssuche. Deshalb war immer für mich sehr wichtig, dass meine Kinder mehrgleisig sprachlich gefördert werden.

Aber nicht nur in Ihrer Familie setzt Eritrea auf sprachliche Förderung, sondern auch in der orthodoxen Gemeinde, in der sie sich ehrenamtlich engagiert. Dort werden Traditionen gepflegt, und Integration wird großgeschrieben.  

Wir wollen keine Parallelgesellschaft, sondern Miteinander, dass wir unsere Religion und unsere Kultur unseren Kindern beibringen, aber wir haben einfach auch eine offene Tür, wenn Leute, die Zeit haben, sich engagieren möchten. 

Im Gespräch mit Eritrea muss ich an die Pfingstgeschichte denken: Wie Menschen sich plötzlich über Sprachbarrieren hinweg verstehen können – ein einmaliges Ereignis. Das Besondere daran: Dieses Verstehen kommt nicht durch eine Einheitssprache zustande. Die unterschiedlichen Sprachen bleiben weiterhin bestehen. Für mich heißt das: Niemand muss die eigene Tradition aufgegeben, um andere verstehen zu lernen. Und für Eritrea Habte ist es auch ihr christlicher Glaube, der solche Verständigung möglich macht.

Mein Glaube ist mir wirklich sehr wichtig als Gemeinschaft, in der ich mit meinen Mitmenschen die Dinge, die mir am Herzen liegen, teile und so gut ich kann, auch etwas Konstruktives für die nächste Generation hinterlasse.

Eritrea setzt dabei auf ein Jesus-Wort aus dem Matthäusevangelium:

Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen.  

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SWR1 Anstöße sonn- und feiertags

30JUN2024
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Uns hat schier der Schlag getroffen! Da kommen wir sonntagnachmittags von einer Radtour nach Hause und finden unseren Garten verwüstet vor. Unser schöner Rasen: eine einzige Kraterlandschaft. Überall knöcheltiefe Löcher – als wäre gerade eine Armee mit schwerem Gerät hindurch getrampelt.

Was ist passiert? Nun, während der Schützenverein im nahe gelegenen Schützenhaus mit vielen Kanonenböllern sein Vereinsfest gefeiert hat, ist nebenan eine Herde friedlich grasender Kühe durchgedreht, hat Reißaus genommen und auf der Flucht vor dem ohrenbetäubenden Lärm unseren Garten heimgesucht. So hat es uns der zerknirschte Jungbauer erzählt, der kurz darauf bei uns aufgetaucht ist, um den Schaden zu begutachten. Seine Kühe hatte er inzwischen zum Glück wieder eingefangen und in Sicherheit gebracht.

Wir standen da und haben diskutiert, wer wohl für die ganze Misere verantwortlich ist. Ein typischer Kollateralschaden, hab‘ ich gedacht. Und bin gleichzeitig bei dieser Wortwahl zusammengezuckt: Kollateralschaden; das Wort kommt aus der Militärsprache und bezeichnet einen Schaden, der nicht beabsichtigt ist, sich aber nicht hat vermeiden lassen. Und zwar einen Schaden an unschuldigen Menschen. Gemeint sind Zivilisten, die in einem Krieg zwischen die Fronten geraten und ums Leben gekommen sind.

Es ist ein grausames Wort; aufgekommen in den 1990er Jahren während der jugoslawischen Nachfolgekriege und am Ende der Dekade sogar zum Unwort des Jahres gewählt. Denn was so betont sachlich klingt, meint doch Menschen: Opfer von Bombenangriffen, Massenvergewaltigungen, Plünderungen, jahrelang anhaltende Traumatisierungen. Das alles sind Kollateralschäden von Kriegseinsätzen. Tiefe, zerfranste Kraterlöcher im Leben von Menschen. Wie lange wird es dauern, bis sie geheilt sind? Eine Generation oder zwei? Wieviel Güte und Liebe, wieviel Versöhnliches muss hineingeschüttet werden, damit die Schäden wieder gut werden?

Wer in unserem Garten am Ende für den Schaden aufkommt, ist immer noch nicht klar. Aber wir haben inzwischen angefangen, die Löcher mit frischer Erde zu befüllen und Gras auszusäen. Eine mühevolle Arbeit. Aber nichts im Vergleich zu der immensen Versöhnungsarbeit, die nach einem Krieg zu leisten sein wird. Im Garten habe ich gelernt: Ich will nicht warten, bis ein Schuldiger gefunden und alles vernarbt ist. Ich will anfangen, Wunden zu heilen.    

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SWR Kultur Wort zum Tag

15MAI2024
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Woraus besteht die Welt? Gibt es den einen Stoff, der allem zugrunde liegt? Jahrhundertelang haben Menschen angenommen, dass es vier Grundelemente gibt, die nicht weiter teilbar sind: Feuer, Wasser, Erde und Luft. Die schönste Beschreibung dazu liefert Ovid in seinen Metamorphosen: „Vier erzeugende Stoffe enthält das ewige Weltall. Zwei von ihnen sind schwer, und es drängt sie beständig nach unten, weil ihr Gewicht sie belastet: Die beiden sind Erde und Wasser. Ebenso viele entbehren der Schwere; sie streben, weil nichts sie presst, in die Höhe: die Luft und das Feuer, das reiner als Luft ist. Aber obwohl sie räumlich getrennt sind, wird dennoch aus ihnen alles und alles zerfällt in sie.“

Feuer, Wasser, Erde, Luft. Das waren die elementaren Stoffe, die der Mensch zum Leben gebraucht hat. Bis die Wissenschaft im 19. Jahrhundert das Atom entdeckt und die Elemente sich vervielfacht haben.

Mich fasziniert das Denken in diesen alten Kategorien von Feuer, Wasser, Erde und Luft. Ich glaube, dass es uns helfen kann, den Blick wieder mehr auf die großen Kreisläufe in der Natur zu richten: auf die Zusammenhänge, die wir an so vielen Stellen missachtet und zerstört haben. Und im Gespräch mit anderen gehe ich gerne der Frage nach, welchem dieser vier Elemente sich jemand zuordnen würde: Bist du ein bodenständiger Typ, ein Schollenmensch oder eher ein Luftikus? Wofür brennst du und was lässt dich dahinschmelzen? Fängst du leicht Feuer? Oder hast du nah am Wasser gebaut? Was gibt dir Auftrieb, was beflügelt dich?

Als Christin glaube ich, dass Gott es ist, der die Welt im Innersten zusammenhält. Und in der Bibel wird erzählt, dass er sich in allen vier Grundelementen zeigt: Im Feuerschein und in einer Wolkensäule, im Beben der Erde und als lebensspendende Quelle. Ich glaube, dass er mich teilhaben lässt an diesen großen Kräften, mich buchstäblich in meinem Element sein lässt. So wie Jochen Klepper es einmal gesagt hat: „Ohne Gott bin ich ein Fisch am Strand, ohne Gott ein Tropfen in der Glut, ohne Gott bin ich ein Gras im Sand und ein Vogel, dessen Schwinge ruht. Wenn mich Gott bei meinem Namen ruft, bin ich Wasser, Feuer, Erde, Luft.“

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SWR Kultur Wort zum Tag

14MAI2024
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Versteckt am Längenbach bei Bad Liebenzell im nördlichen Schwarzwald liegt die Maisenbacher Sägmühle. Sie ist ein schönes Ziel für eine Wanderung, die ich am heutigen Tag des Wanderns gerne empfehle. Die Mühle liegt in malerischer Umgebung, und in dem denkmalgeschützten Gebäude ist auch ein Wassermuseum eingerichtet, das Sonntag nachmittags geöffnet hat.

Ein bekanntes Volkslied behauptet ja, dass der Mensch sich die Wanderlust direkt vom Wasser abgeguckt hat, denn: „Es steht nicht still bei Tag und Nacht, ist stets auf Wanderschaft bedacht, das Wasser.“ Eine Mühle, ein Müller, das Wasser und das Wandern – hier gehören sie noch ganz eng zusammen. Im Wassermuseum in der Maisenbacher Sägmühle habe ich aber noch mehr gelernt: Nämlich, dass Wasser auf seiner Wanderschaft niemals den geraden Weg nimmt. In Bächen und Flüssen schlängelt es sich durch die Landschaft, und selbst an Fensterscheiben laufen die Regentropfen in Kurven hinab. Verwirbelungen sind gut für die Wasserreinigung, und in geraden Rohren verliert Wasser an Energie und wird ganz schnell schal.

Ich glaube, dass ich auch von dieser Eigenschaft des Wassers profitieren kann, wenn ich sie mir mehr zu eigen mache: Das Mäandern für mich entdecke, mir häufiger erlaube abzuschweifen – zu Fuß und auch in Gedanken. Dann komme ich vielleicht nicht auf dem schnellsten und direkten Weg ans Ziel, aber vielleicht komme ich stattdessen frischer und gesünder dort an. Denn auf den Nebenwegen, die ich oft nur als lästige und überflüssige Umwege abtue, liegt womöglich ganz viel Potential. Und vielleicht geben mir solche Abschweifungen in Wirklichkeit viel mehr Energie als sie mir rauben.  

Für Flüsse steht fest: In begradigten Flussläufen herrscht eine höhere Fließgeschwindigkeit, aber auch eine gesteigerte Hochwassergefahr. Dort, wo Flussläufe renaturiert worden sind und das Wasser wieder mäandern darf, wie es nun einmal seine Art ist, ist die Natur widerstandsfähiger. Wäre doch schön, wenn das bei uns Menschen auch klappen würde! Geschwindigkeit rausnehmen und lustvoll mäandern.

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SWR Kultur Wort zum Tag

13MAI2024
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Zum Geburtstag habe ich ein kleines Postkartenbuch geschenkt bekommen. Es besteht aus 15 Postkarten mit Sprüchen über das Lesen, über Bücher und über das Leben an sich. Auf einer dieser Karten steht: „Gott sei Dank gibt es nicht nur die Bibel!“ Als passionierte Leserättin stimme ich diesem Satz aus ganzem Herzen zu. Ich bin ja ständig auf der Suche nach neuem Lesestoff und verbringe viele Stunden des Jahres in Bibliotheken und Buchläden. Wenn es da nur die Bibel gäbe, wäre ich komplett aufgeschmissen.

Auch in einem übertragenen Sinn gehe ich voll mit: Gott sei Dank gibt es nicht nur die Bibel. Gott sei Dank sind die Zeiten vorbei, in denen Wissenschaftler um ihr Leben bangen mussten, weil sie etwas entdeckt hatten, das sich nicht durch ein biblisches Zitat hat belegen lassen oder sogar einzelnen Aussagen widersprochen hat. Gott sei Dank haben die meisten Christen heutzutage einen aufgeklärten und kritischen Umgang mit ihrer Heiligen Schrift gelernt, und die Texte sind ihnen trotzdem lieb und teuer. Der Theologe Heinz Zahrnt hat es für mich treffend auf den Punkt gebracht: „Wir sollen die Bibel zwar beim Wort, aber um Gottes willen nicht wörtlich nehmen. Denn Gott hat uns sein Wort gegeben, nicht seine Wörter.“ Gott sei Dank gibt es die Bibel!

Nur in einer Hinsicht löst der flotte Spruch aus meinem Postkartenbuch auch einen kleinen Schmerz in mir aus. Denn die Bibel mag zwar das meistgedruckte und am weitesten verbreitete Buch der Welt sein, aber ich frage mich: Wer liest eigentlich noch darin? Wer greift auf der Suche nach einer spannenden Geschichte, nach einem guten Rat, nach anregender Lektüre und sinnvollem Zeitvertreib zu diesem Buch? Zu Zeiten, als sie noch das einzige Buch im Haus war, hat sie ja auch das Lesebuch ersetzt, und Kinder haben mit den biblischen Geschichten lesen gelernt. Was passiert heute mit all den Bibeln, die zu Taufen, zur Konfirmation und zur Hochzeit in zielgruppengerechter Aufmachung verschenkt werden? Martin Luther hat sich einmal gewünscht, dass die Bibel nicht nur ein Lesebuch sei, sondern zu einem echten Lebebuch werden soll. Vielleicht kann ich seinen Wunsch ja auf den Kopf stellen. Und mir wünschen, dass die Bibel wieder zu einem Lesebuch wird. Nicht nur für Kinder. Und ich bin mir sicher: Das Leben kommt dann ganz von allein.

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SWR Kultur Lied zum Sonntag

12MAI2024
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Den Muttertag feiere ich immer auch als einen großen Dank an das Leben. Und ein Lied bringt diesen Dank für mich ganz besonders zum Ausdruck. Es ist für mich eng verknüpft mit der Geschichte von drei Frauen, die auch alle Mütter gewesen sind. Darüber hinaus aber auch Künstlerinnen, Kämpferinnen, Sängerinnen mit einer musikalischen und einer menschlichen Botschaft:  

Gracias a la vida que me ha dado tanto
Me dio dos luceros, que cuando los abro,
Perfecto distingo lo negro del blanco
Y en alto Cielo su fondo estrellado
Y en las multitudes la hombre que yo amo

Die unverwechselbare Stimme von Joan Baez hat zum Soundtrack meiner Jugend gehört. Ich konnte alle ihre Lieder auswendig, und obwohl ich kein Spanisch kann, habe ich auch dieses mitgesungen: Gracias a la vida: „Danke für das Leben, es hat mir so viel gegeben.“ Der Samba-Rhythmus ging direkt in die Beine: Das Leben, ein Tanz, ein Fest! Und so viel Leichtigkeit! Dasselbe Lied kann aber auch ganz anders klingen:

Gracias a la vida que me ha dado tanto
Me dio dos luceros, que cuando los abro,
Perfecto distingo lo negro del blanco
Y en alto Cielo su fondo estrellado
Y en las multitudes la hombre que yo amo

Wenn Mercedes Sosa das Lied anstimmt, spüre ich hinter den Worten auch eine tiefe Traurigkeit. Der Dank kommt nicht leichtfüßig und schwungvoll daher, sondern ist dem Leben abgerungen. Und klingt trotzdem kraftvoll und schön. Das passt zur Entstehungsgeschichte des Liedes: Denn die Chilenin Violeta Parra war mit ihren Lebenskräften am Ende, als sie es geschrieben hat. Es ist ihr letztes Lied. Noch keine 50 Jahre alt, hat sie es 1967 kurz vor ihrem Tod herausgebracht. So ist es zu ihrem musikalischen Vermächtnis geworden: Ein Lied voller Schmerz, der sich aber vom Leben in die Arme nehmen lässt:   

Ich danke dir, Leben, hast mir so viel gegeben,
durfte lachen und schweben trotz aller Stürme und Beben.
Auch einsame Stunden und schmerzvolle Wunden,
doch du wolltest mich führen, mich selbst zu erspüren,
unter funkelnden Sternen das Lieben zu lernen.

Wie ein Gebet hört sich das für mich an, dieser Dank an das Leben aus dem Mund von Konstantin Wecker. Und gerne gebe ich diesen Dank heute weiter an alle Mütter, die das zerbrechliche, kostbare Leben über die Generationen hinweg weitergeben. Danke für das Schöne, danke für das Schwere! Gracias a la vida!

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Musikangaben:

Text und Melodie: Violeta Parra (1967)
Aufnahmen:
Joan Baez, Gracias a la vida
Mercdes Sosa, Gracias a la vida
Konstantin Wecker, Gracias a la vida 

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SWR Kultur Zum Feiertag

09MAI2024
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Am Fest Christi Himmelfahrt geht der Blick nach oben. Er folgt dem Blick von ein paar Jüngern Jesu, die sich nach dem Bericht des Evangelisten Lukas einige Wochen nach dem ersten Osterfest in der Nähe von Jerusalem ein letztes Mal mit dem auferstandenen Jesus getroffen haben. „Und es geschah, als Jesus sie segnete, schied er von ihnen und fuhr auf gen Himmel“. Mehr ist damals nicht passiert. Ein einziger Satz reicht aus, um das Geschehen zu umreißen. Ein Wimpernschlag nur, und weg war er. Zurück bleiben zwei Handvoll Männer und Frauen, die in den Himmel starren. Auf allen Bildern ist der an diesem Tag von strahlendem Blau.   

Szenenwechsel, Perspektivwechsel: Der Russe Juri Gagarin ist der erste Mensch, der in umgekehrter Richtung vom Himmel auf die Erde geblickt hat. Am 12. April 1961 hat er an Bord seiner Raumkapsel "Wostok 1" in 108 Minuten die Erde einmal umrundet. Den Anblick beschreibt er als überwältigend: "Ich sah zum ersten Mal die Kugelgestalt der Erde. Der Anblick des Horizonts war einzigartig. Ein zartblauer Film, der den Globus umgibt. Darüber nur der pechschwarze Himmel, mit den klar sichtbaren Sternen und einer Sonne, die dutzendmal heller scheint als auf der Erde". Tief berührt ist Gagarin von diesem Erlebnis. Leider ist sein ehrfürchtiges Staunen in Vergessenheit geraten. Geblieben ist nur ein berühmt-berüchtigter Spruch, den ein westlicher Journalist ihm in den Mund gelegt hat. Ob Gagarin dort oben Gott gesehen habe, wollte der wissen. Aber was soll man darauf schon antworten? Nein, natürlich nicht.

Dass Gott oben im Himmel wohnt, diese Vorstellung gibt es in vielen Religionen. Für Christinnen und Christen ist sie im Gebet Jesu präsent, das mit diesen Worten beginnt: „Vater unser im Himmel …“  Sie hängt mit alten Weltbildern zusammen und der Vorstellung, dass sich die Welt wie ein Haus aus übereinander geschichteten Stockwerken aufbaut. Und sie hängt zusammen mit der Unsichtbarkeit Gottes, mit seiner Transzendenz. Die Zehn Gebote verbieten mit deutlichen Worten, sich ein Bild von Gott zu machen. Keins aus Holz oder Stein, noch nicht einmal eins aus Gold und auch keins in Gedanken. Denn Gott ist nicht dingfest zu machen, den Menschen nicht verfügbar; er sprengt ihre Vorstellungskraft, ist größer, weiter als all ihre Bilder. „Im Himmel“, das heißt dann auch so viel wie „überall und nirgends.“ Gott ist Luft für mich in einem doppelten Sinn: entweder ich erlebe ihn als lebensnotwendig oder er ist mir gleichgültig.

 

Nun haben die Weltbilder sich geändert. Die Erde ist vom Zentrum der Welt zu einem Planeten degradiert worden, der um eine von Milliarden Sonnen kreist. Und der Himmel hat sich ausgedehnt in die unendlichen Weiten des Kosmos. Im 20. Jahrhundert ist der Mensch plötzlich in der Lage, den bisher Gott allein vorbehaltenen Blick aus dem Universum auf den Planeten Erde zu werfen. Für die einen hat der wissenschaftliche Fortschritt damit die Idee einer schöpferischen Gotteskraft überflüssig gemacht. Für andere hat er das gläubige Staunen vertieft und Gott nur umso größer und anbetungswürdiger erscheinen lassen. Der Priester und Dichter Ernesto Cardenal aus Nicaragua dichtet im Duktus der biblischen Psalmen: „Lobt den Herrn des Kosmos. Das Weltall ist sein Heiligtum. Mit einem Radius von hunderttausend Millionen Lichtjahren. Lobt ihn, den Herrn der Sterne und der interstellaren Räume. Lobt ihn, den Herrn der Milchstraßen und der Räume zwischen den Milchstraßen.“ Dieses Gebet ist 60 Jahre alt.  

Aber auch in einem fast 3000 Jahre alten Gebet finden sich schon ähnliche Gedanken. Der König Salomo hat es gesprochen bei der Einweihung des ersten Jerusalemer Tempels. Denn nachdem die Menschen sicher wohnen im Land, soll endlich auch ihr Gott sesshaft werden, der bisher mit ihnen ein Nomadenleben geführt hat: beweglich wie ein Feuerschein, wie eine Wolkensäule. Nun hat Salomo diesem Gott ein Haus gebaut. Am Tag der Tempelweihe fasst er seinen Dank in wohlfeile Worte und bittet Gott um seinen Segen. Aber mitten in der festlichen Zeremonie beschleichen ihn plötzlich leise Zweifel. Und er spricht sie aus und formuliert sie als Frage: „Sollte Gott wirklich auf Erden wohnen? Siehe, der Himmel und aller Himmel Himmel können dich nicht fassen – wie sollte es dann dies Haus tun, das ich gebaut habe?“ Dass Gott im Himmel wohnt, heißt nicht, dass er dort oben auf einer Wolke thront. Selbst der unendlich weite Himmel ist ihm als Wohnung zu klein.

Und obwohl Menschen um diese Grundeinsicht wissen, haben alle Religionen ihren Göttern Tempel errichtet. Die jüdische Tradition spricht vorsichtig und mit großer Ehrfurcht von der Schechina, der Anwohnung Gottes auf Erden. Ein Tempel nicht als Wohnung, aber als ein Ort zum Andocken des Göttlichen, ein Altar als Schemel seiner Füße. Nicht Gott braucht ein Haus auf Erden, aber als glaubender Mensch brauche ich neben dem unendlichen auch den begrenzten Raum. Denn im Unendlichen würde ich mich verlieren. Es war schon eine gute salomonische Idee, diesen Tempel zu bauen, und in seinem Gefolge viele Kirchen und Gotteshäuser.

Aber dann kam Gott selbst noch auf eine viel bessere Idee. Er beschloss, sich selbst eine Wohnung zu suchen auf Erden. Und er fand sie in keinem noch so schönen Gebäude, an keiner noch so heiligen Stätte, sondern in einem Menschen. In Jesus Christus kam er zur Welt. „Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns“, schreibt Johannes am Anfang seines Evangeliums. Mit Jesus kommt der Himmel zur Welt. Und plötzlich hat Gott nicht nur eine Wohnung, eine erste Adresse auf Erden, er hat ein Gesicht, er hat Hände und Füße. Und wer immer Gott sucht, braucht sich nicht mehr in den Weiten des Kosmos zu verlieren, sondern kann diesem Menschen ins Gesicht schauen, seine Worte hören, dem nachfolgen, der Gottes Geschichte in letzter Konsequenz gelebt hat. Was für ein einzigartiges, göttliches Experiment!

Heute schließt sich dieser Kreis, der mit der Inkarnation, mit der Menschwerdung Gottes in dem Kind Jesus an Weihnachten begonnen hat. An Christi Himmelfahrt feiern wir, dass dieser Jesus wieder in den Himmel zurückgekehrt ist, von wo er am Anfang seiner Geschichte gekommen ist. Es ist die Krönung des Ganzen, die Krönung dieses genialen Einfalls Gottes, sich freiwillig zu begrenzen, sich zu entäußern, um ein menschliches Leben zu führen und dabei von der Geburt bis zum Tod nichts auszulassen. Aber es ist wie nach einer langen Reise: Auch wenn ich am Ende wieder in den eigenen vier Wänden angekommen bin, bin ich doch eine andere geworden. Und wenn Jesus an Himmelfahrt wieder in Gottes Unendlichkeit zurückkehrt, aus der er gekommen ist, dann löscht das seine Biografie nicht einfach aus. Dann hat Gott selbst sich verändert. Er ist jetzt ein anderer geworden. Menschlicher, verletzlicher. Ein Gott nicht nur mit Zukunft, sondern ein Gott mit einer Vergangenheit.

Es ist ein schöner Brauch, an Christi Himmelfahrt Gottesdienste draußen unter freiem Himmel zu feiern. Denn da kann der Blick nach oben gehen. Und dem Blick von ein paar Freunden Jesu folgen, die sich nach dem Bericht des Evangelisten Lukas einige Wochen nach dem ersten Osterfest in der Nähe von Jerusalem ein letztes Mal mit dem auferstandenen Jesus getroffen haben. „Und es geschah, als Jesus sie segnete, schied er von ihnen und fuhr auf gen Himmel“. Mehr ist damals nicht passiert. Ein einziger Satz reicht aus, um das Geschehen zu umreißen. Ein Wimpernschlag nur, und weg war er. Zurück bleiben wir Menschen, die aufrecht unter Gottes Himmel stehen. Und hoffentlich ist er auch heute von strahlendem Blau.   

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SWR4 Sonntagsgedanken

05MAI2024
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„Ich bin klein, mein Herz mach rein. Soll niemand drin wohnen als Jesus allein.“ So klingt eines der wohl bekanntesten Kindergebete. Vielleicht haben Sie es auch mit Generationen von Kindern abends vor dem Einschlafen gesprochen. Und vielleicht haben Sie mit Generationen von Erwachsenen nicht nur dieses Kindergebet, sondern das Beten überhaupt irgendwann aufgegeben. Es ist ja auch eine berechtigte Frage: Wie kann ich beten, wenn das Gebet mit den Worten anfängt: „Ich bin groß!“?

In der biblischen Geschichte, die heute in vielen evangelischen Gottesdiensten im Mittelpunkt steht, geht es ums Beten. Und es geht um einen großen Beter. Mose ist ein erwachsener Mann, mit allen Wassern gewaschen. Lebenserfahren, gefahrerprobt. Und ein Leben lang im Zwiegespräch mit seinem Gott geblieben. Zu Beginn der Erzählung ist er auf einen Berg gestiegen, um zu beten. Doch er kommt gar nicht dazu. Denn – man höre und staune – Gott selbst hat großen Redebedarf. Er will Mose sein Herz ausschütten. Er ist so richtig fertig mit der Welt. Und klagt ihm sein Leid: Denn seine wunderbaren Pläne mit den Menschen sind nicht aufgegangen. Große Mühen hat er darauf verwendet, einen Haufen Sklaven aus katastrophalen Lebensumständen zu befreien. Auch an großen Wundern hat er es nicht fehlen lassen, um sie aus der Gewalt eines despotischen Herrschers loszueisen. Aber im weiteren Verlauf der Geschichte zeigen die Befreiten sich undankbar. Sie wissen es nicht zu schätzen, was Gott für sie getan hat. Und statt ihm bis in alle Ewigkeit dankbar ergeben zu sein, finden sie an ihrer neuen Lebenslage wieder etwas auszusetzen. Weil die Freiheit, nach der sie sich gesehnt haben, ganz schnell zur Selbstverständlichkeit geworden ist, fangen sie an, an vielen Kleinigkeiten herumzunörgeln. Und Gott ist erschöpft. Ja mehr noch: Er hat es satt. Eine sehr menschliche Reaktion. Und mehr noch: Er redet sich in Rage. Er gerät in Wut und will Schluss machen. Schluss mit den Menschen, die nichts kapieren, die einfach nichts dazu gelernt haben.

Mose bekommt es mit der Angst. Und bevor die Lage eskaliert und Gott womöglich Ernst macht mit seinen Androhungen, versucht er, diesen aufgebrachten Gott zu besänftigen. Er spricht mit ihm. Er betet. Und traut sich was. Er redet Gott gut zu, er redet ihm ins Gewissen. Er erinnert Gott an seine guten Eigenschaften. An seine großen Pläne mit der Welt, an alles, was er den Menschen je an Zukunft versprochen hat. Und am Ende dieses außergewöhnlichen Gesprächs hört Gott auf Mose und bereut seinen Zornesausbruch.

Mose hat sich nicht klein gefühlt und nicht klein gemacht, sondern er spricht sehr selbstbewusst mit Gott. Dass er zum Beten auf einen Berg gestiegen ist, mag ein äußeres Zeichen dafür sein. So stellt er Augenhöhe her. Und auch im Gespräch bietet er Gott, dem scheinbar Unausweichlichen die Stirn. Und er tut es geschickt. Taktisch klug, würde ich sagen. Er packt Gott bei seiner eigenen Ehre: Bei allem, was ich von dir weiß, bei allem, was ich von dir glaube: Du kannst nicht im Ernst die Welt und die Menschen, die du geschaffen hast, zerstören wollen. Bei allem Respekt! Erinnere dich, wofür Du als Gott angetreten bist!

So wie Mose möchte ich auch beten können. Mit einer Haltung, die von Gott etwas erwartet. Und es ihm auch sagt. Nicht als demütige Bittstellerin, sondern als erwachsener Mensch, der von einem großen Gott zurecht Großes erwartet. In der biblischen Erzählung hat es Gott gutgetan, dass ein Mensch so mit ihm gesprochen hat. Er hat sich bewegen, ja umstimmen lassen. Vielleicht kann das ja ein Anreiz sein, es mit dem Beten wieder einmal aufzunehmen. Vielleicht so: „Gott, ich bin groß. Ich lass dich nicht los. Du segnest mich denn.“

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SWR Kultur Wort zum Tag

„Gleicher Lohn für alle!“ Diese Forderung wird in Deutschland schon seit Jahrzehnten erhoben. Auch heute, am traditionellen Tag der Arbeit, könnte sie wieder laut werden. Noch immer verdienen Frauen in vielen Bereichen für dieselbe Arbeit deutlich weniger als Männer. Wer sich über dieses geschlechtsspezifische Lohngefälle aufregt, hat noch nicht gehört, was für eine Aufregung das durchgezogene Prinzip „Gleicher Lohn für alle“ in einer biblischen Geschichte aus dem Neuen Testament verursacht.

Da erzählt Jesus einmal von einem Weinbergbesitzer, der in der Erntezeit Saisonarbeiter anheuert. Früh am Morgen nimmt er etliche unter Vertrag und sichert ihnen, sagen wir den derzeit gültigen Mindestlohn von 12,41 € in der Stunde zu. Im Tagesverlauf nimmt er noch mehrmals weitere Zeitarbeiter unter Vertrag, allerdings ohne mit ihnen eine Bezahlung zu vereinbaren. Sie sind wohl froh, dass sie überhaupt Aussicht auf ein paar Groschen haben. Am Abend zahlt der Weinbergbesitzer den Tageslohn bar aus. Jeder Arbeiter bekommt, und zwar unabhängig von der Zahl der Stunden, die er gearbeitet hat, exakt 124,10 €. Da kommt es zu lautstarken Protesten unter denen, die von morgens bis abends geschuftet haben. Sie fühlen sich betrogen, ungerecht behandelt. Der Arbeitgeber lässt sich aber nicht beirren und sagt ganz ruhig: Ihr habt bekommen, was vereinbart war. Warum seid ihr jetzt also unzufrieden?  Weil ich so gütig bin?

Bist du unzufrieden, wenn es gütig statt gerecht zugeht? Diese wunderbar entlarvende Frage aus dem Gleichnis möchte ich gerne mitnehmen in diesen neuen Monat und sie mir immer dann stellen, wenn der Neid an mir nagt, wenn mein Gerechtigkeitsempfinden verletzt wird, wenn ich bemerke, dass der Blick, mit dem ich am Morgen in die Welt blicke, scheel wird, missgünstig, empört. Ich nehme mir vor, den Silbergroschen, den ich in der Tasche habe, zu spüren wie einen Schatz, und mich nicht zu ärgern an den prall gefüllten Taschen der anderen.

In Wilhelm Hauffs Märchen „Das kalte Herz“ wünscht sich der Held, als er einen Wunsch frei hat, immer so viel Geld in der Tasche zu haben wie einer, den er schon immer um seinen Reichtum beneidet hat. Das geht auch eine ganze Zeit lang gut. Bis der Bewunderte schließlich beim Kartenspiel alles auf eine Karte setzt, verliert und den Helden mit seinem unbedachten Wunsch ins Elend reißt. Hätte er mal nicht so missgünstig dreingeschaut, nicht geschielt auf das vermeintliche Glück der anderen, sondern wäre er bei sich geblieben.

Bist du unzufrieden, wenn es gütig statt gerecht zugeht? Ich spinne die Frage weiter: Wie wäre es wohl, wenn keiner sich mehr aufregen würde, zu kurz gekommen zu sein. Wenn alle einfach zufrieden wären mit dem, was sie haben. Wenn Gnade vor Recht erginge und gar niemand was dran auszusetzen hätte. Wenn Neid und Missgunst kein Thema wären, weil die einen den andern das ihre von Herzen gönnen. Wenn die Letzten die Ersten wären. Wenn Hierarchien keine Rolle mehr spielten, weil alle im Kreis um einen großen Tisch sitzen und nicht mehr in einer langen Warteschlange vor dem Jobcenter anstehen? Wenn alle genug zum Leben hätten unabhängig davon, ob sie es verdient haben oder nicht. Wenn alle mitgenommen würden und keiner mehr auf der Strecke bliebe. Wenn alle beschäftigt wären. Wenn Gerechtigkeit und Güte keine Gegensätze mehr wären. Wenn niemand mehr auf Barmherzigkeit angewiesen wäre, weil sowieso alle auf Barmherzigkeit angewiesen sind und von derselben Güte desselben Gottes leben.

Dann, so erzählt es Jesus in diesem Gleichnis vom ungerechten, aber gütigen Weinbergbesitzer, dann wäre wohl das Himmelreich auf Erden angebrochen. So weit sind wir noch nicht an diesem 1. Mai 2024. Aber wir könnten ja mal anfangen. Vielleicht mit gleichem Lohn für Männer und für Frauen!

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