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Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

04MAI2024
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Mein Vater ist 89 Jahre alt. Das glaubt keiner, weil er viel jünger aussieht. Und weil er noch immer neugierig und wach ist. Auch im hohen Alter ist er offen für neue Erfahrungen. Das macht es für ihn aber nicht immer einfach: So wie kürzlich, als wir gemeinsam in einem Konzert waren. Es hat meinen Vater begeistert, wie der junge Pianist Beethovens 3. Klaviersonate interpretiert hat. „So frisch und jugendlich habe ich diese Sonate noch nie gehört“, hat er dann zu seiner Nachbarin im Konzertsaal gesagt. Die hat ihn entgeistert angeschaut und geantwortet: „Respektlos könnte man auch sagen“. Mein Vater war noch Tage später irritiert, welches Urteil sich die Dame über den jungen, begabten Künstler erlaubt hat.

Mein Vater ist offen und direkt und kann gleichzeitig sehr reflektiert auf sein langes Leben zurückschauen. Junge Menschen hören ihm auch deshalb gerne zu. Ich merke, wie gut ihm solche Situationen und so ein Austausch tun. Denn: Alt werden ist auch für ihn keine leichte Aufgabe. Vor Jahren habe ich das schon einmal mit meiner Mutter intensiv erlebt. Jetzt begleite ich meinen Vater dabei. Es ist schwer für ihn, dass seine Kräfte nachlassen, obwohl sein Verstand noch so wach ist. Das kleine Gartenbeet vor der Garage kann er plötzlich nicht mehr pflegen. Die Getränkekisten lässt er im Eingang stehen, bis jemand kommt, der sie in den Keller tragen kann. Für die Steuererklärung braucht er viel länger als früher. Wie schwer ihm das fällt, kann nur verstehen, wer sich in ihn hineinversetzt. Sieht man die Fakten denkt man schnell: Na so schlimm ist das nun wirklich nicht. Für ihn ist es schlimm, weil er sich langsam von seinen Kräften verabschieden muss. Außerdem ist ihm jeden Tag bewusst, dass der Tod nahe ist. Eben ohne genau zu wissen, wann er sterben wird.

Solange er noch so für sich sorgen kann, wie er das jetzt tut, ist das ein großes Glück. Alles, was doch noch geht, ist schön, nicht selbstverständlich: Die vielen Treppen steigen, in dem Haus, in dem er seit 55 Jahren wohnt. Selbst noch mit dem Auto einkaufen fahren können. Den Sommerflieder und die Hortensie vor dem Haus im Herbst schneiden. Ich wünsche ihm, dass er oft dabei denken kann: Danke! Dass das immer noch geht, auch wenn ich schon fast 90 bin.

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Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

03MAI2024
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Da wo ich wohne, hat jemand auf einen geteerten Feldweg mit Kreide geschrieben: „Jesus ist toll. Jesus ist für uns am Kreuz gestorben, Jesus lebt.“ Und das auf einer Länge von etwa einem Kilometer. Was die Sätze für den Schreiber bedeuten, weiß ich nicht. In den zehn Minuten, in denen ich über diese Sätze gelaufen bin, ist mir meine eigene Geschichte mit Jesus und dem Kreuz durch den Kopf gegangen: In den 63 Jahren meines Lebens ist Vieles schwierig gewesen und oft hat mich das Kreuz getröstet. Trotzdem habe ich mir immer wieder gewünscht, dass das Leben aufhört schwierig zu sein. Ich wollte sorglos und glücklich sein. Manche Erinnerungen an schwere Zeiten hätte ich am liebsten aus meinem Gehirn gelöscht. Zum Beispiel die Erinnerung an meine Schwangerschaft. Ich war damals noch sehr jung, hatte gerade angefangen zu studieren. Ich könnte viel darüber erzählen, was mich damals belastet hat. Das ist lange vorbei und heute bin ich froh, wie alles geworden ist: Mein Sohn ist ein wunderbarer Mann und Vater. Er ist lebenstüchtig, gesund. Ein ehrlicher Mensch. Und wir haben eine gute Beziehung zueinander. Er wirft mir nicht mehr vor, was ich als Mutter alles versäumt habe. Alles gut, könnte ich sagen. Wenn ich nicht immer wieder in bestimmten Situationen traurig wäre. Zum Beispiel wenn ich sehe, wie aufmerksam er mit seinem kleinen Sohn ist. Das konnte ich damals mit ihm so nicht sein.

Mir hilft es dann, wenn ich mit meinem alten Vater darüber spreche. Er ist 89 und stellt auch für sich fest, dass alles, was er jemals erlebt hat, bleibt. Je älter er wird, desto intensiver ist die Erinnerung an seine Kindheit und Jugend. Alles ewig vorbei und doch ist Vieles so präsent, als wäre es gestern gewesen. Wenn er das so erzählt begreife ich einmal mehr: Nichts geht verloren. Kein Glück und keine Freude, aber auch keine Traurigkeit und kein Schmerz. Ich habe gelernt zu würdigen, dass ich gewachsen bin mit allem, was schwierig war. Der gekreuzigte Jesus ist für mich dabei ein hilfreiches Bild. Die Not, der Schmerz - auch das ist Leben.

Als die Kreide-Sätze auf dem geteerten Feldweg zwischen den Äckern vor meinem Wohnort aufhören, schaue ich zurück. Sehr dankbar für alles.

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Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

02MAI2024
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Ich hatte immer Angst vor Prüfungen. Ganz schlimm waren mündliche Prüfungen. Ich seh mich noch als wäre es gestern gewesen. Beim mündlichen Abitur in meinem braunen Kleid. Alles, was ich gelernt hatte, war wie weggeblasen. Später dann, im Theologiestudium, hatte ich viele mündliche Prüfungen. Einer der Professoren war noch dazu bei allen Studierenden gefürchtet. Ich wusste: Mit so viel Angst würde ich die Prüfung nie bestehen. Damals habe ich entschieden, in die Sprechstunde des Professors zu gehen. Ihm zu sagen, dass ich Angst vor ihm habe und dass mir dann nichts mehr einfällt. Es war eine gute Entscheidung, mit ihm zu sprechen. Mein Mut hat ihn beeindruckt. Er hat mir zugehört und war freundlich. Auch in der Prüfung. Und ich konnte zeigen, was ich in seinem Fach verstanden hatte.

Diese Erfahrung war wegweisend für mich. Als junge Studentin habe ich es noch als Schwäche empfunden, dem Professor von meiner Angst zu erzählen. Ich habe mich dafür geschämt. Später habe ich erkannt, wie mutig und stark ich damals war. Ich bin zu mir gestanden.

Heute weiß ich, dass es eine meiner Stärken ist, zu Menschen ehrlich zu sein. Anzusprechen, was los ist, obwohl etwas manchmal nur unterschwellig im Raum steht. Direkt etwas zu benennen und nicht um den heißen Brei zu reden. Nicht nur, wenn es um mich selbst geht, wie damals vor der Prüfung. Ich mache das heute zum Beispiel auch im Gespräch mit Kollegen. Einer, mit dem ich viel zusammengearbeitet habe, hat mit der Zeit immer verwahrloster und unglücklicher ausgesehen. Ich habe ihn direkt darauf angesprochen und offen gefragt, wie es ihm geht. Ohne zu urteilen. In diesem Fall war der Kollege dankbar und hat erzählt, was ihn bedrückt. Anschließend hat er sogar den Mut gefunden, sich Hilfe zu holen.

Direkt und ehrlich bin ich aber nicht nur im Konfliktfall. Ich habe mir auch angewöhnt, anderen zu sagen, was ich an ihnen mag oder wenn mir etwas gut tut. Das sage ich manchmal sogar Menschen, die ich gar nicht kenne. So wie vor kurzem der Verkäuferin an der Käsetheke, weil sie mich ausgesprochen freundlich bedient hat. Sie hat gelacht und sich für das Kompliment bedankt. Es war ein schöner Moment – für uns beide.

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Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

01MAI2024
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Heute ist Feiertag. Viele können sich am Tag der Arbeit Zeit nehmen; um auszuruhen oder um sich an den Kundgebungen zum 1. Mai zu beteiligen. Ich möchte heute von Menschen erzählen, die sich bei ihrer Arbeit eine ganze Menge gefallen lassen müssen. Dafür aber nicht auf die Straße gehen.

Mir fällt ein Busfahrer aus Tübingen ein. Er erzählt, dass er alle Fahrgäste freundlich grüßt, wenn sie in seinen Bus steigen. Und ist schockiert, weil immer weniger Leute seinen Gruß erwidern. Er wünscht sich, dass die Leute auch ihn anschauen und grüßen, weil sie ihm so nah kommen in seinem Bus auch wenn es nur für ein paar Minuten ist.

Und ich denke an den Koch in unserer Schulmensa. Er kocht gerne. Kommt oft in den Speisesaal um zu fragen, ob es den Kindern schmeckt. Und muss dann zum Beispiel erleben, wie sich ein Junge den Quark vom Nachtisch ins Gesicht schmiert und Grimassen macht. Der Koch fragt ihn noch, warum er das tut. Aber der Junge streckt ihm nur die Zunge raus. Der Koch geht kopfschüttelnd in die Küche zurück. Eine Erzieherin sorgt immerhin dafür, dass der Junge den Koch um Entschuldigung bittet.

Oder die Sprechstundenhilfe in einer Arztpraxis. Sie hat alle Hände voll zu tun. Zwei Notfälle innerhalb einer Stunde haben den ganzen Behandlungsplan zerhauen. Einem der Patienten fällt nichts anderes ein als die Sprechstundenhilfe zu beschimpfen und ihr lautstark Vorwürfe zu machen. Weil er warten muss.

Mein Friseur erzählt, dass immer häufiger Kunden ihre Termine nicht absagen. Für ihn ist das verlorene Zeit und verlorenes Geld. Und aus meiner Autowerkstatt höre ich, dass es Leute gibt, die ihre Rechnungen monatelang nicht bezahlen.

Immer sind es Menschen, die für andere da sind, ihre Arbeit gut machen und dann unwürdig behandelt werden. Oft lassen sie sich das widerspruchslos gefallen. Ich finde es großartig, wenn sich andere dann einmischen und sich für sie stark machen, wie die Erzieherin in der Schulmensa. Aber ein freundlicher Gruß für den Busfahrer; ein Dankeschön für den Koch; mehr Verständnis für die Sprechstundenhilfe; Verbindliche Termine beim Friseur und die Rechnung für den Automechaniker nicht verschleppen – ich finde, das ist nicht zu viel verlangt. Und würde so viel ändern.

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Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

30APR2024
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Seit dem Krieg in der Ukraine und im Nahen Osten habe ich bittere Zweifel an meiner pazifistischen Grundhaltung. Ich bin nach dem 2. Weltkrieg geboren und kenne nichts anderes als Frieden. Wir sind für Abrüstung auf die Straße gegangen. Die Abschaffung der Wehrpflicht haben wir als Meilenstein gefeiert.

Der Angriffskrieg in der Ukraine hat meine ganze Überzeugung über den Haufen geworfen. Ich verstehe mittlerweile: Deutschland kommt ohne Aufrüstung nicht aus. Das Land muss militärisch verteidigungsfähig sein. Trotzdem glaube ich: Das widerspricht nicht meiner Überzeugung, dass echter Frieden nicht mit Waffen zu schaffen ist.

Daran weiter festzuhalten, dabei helfen mir die Worte von Hilde Domin, einer deutschen Dichterin: „Nicht im Stich lassen – sich nicht und andere nicht. Das ist die Mindestutopie, ohne die es nicht lohnt, Mensch zu sein. An ihr halte ich fest bis zu meinem letzten Atemzug.“ Diese Sätze kenne ich seit Jahrzehnten. Im Moment helfen sie mir, zu meiner pazifistischen Grundhaltung zu stehen. Weil sie mich gleichzeitig auffordern, das zu tun was ich tun kann: Mich und andere nicht im Stich lassen. Das bedeutet zum Beispiel ganz konkret in meinem Alltag: Ich werde auch weiterhin dafür sorgen, dass die Kinder in meiner Klasse ihre Konflikte ohne Gewalt lösen. Denn Friede ist nur möglich, wenn Menschen aufeinander zugehen, sich verzeihen und sich kennenlernen. Wenn sie darüber sprechen was ihnen gut tut als Gemeinschaft.

Hilde Domin hat es auch als alte Frau nicht aufgegeben, sich über Unrecht und Ungerechtigkeit aufzuregen. Ihr Glaubensbekenntnis in diesem aufregenden Leben fasst sie so zusammen: „Ich glaube, das Wichtige ist, dass wir nicht nur die Erinnerung an das Erlittene weitergeben, sondern auch die Erinnerung an die empfangene Hilfe.“ Hilde Domin hat Recht, denke ich, wenn ich auf meine eigene Geschichte schaue. Ich verdanke vielen Generationen von Menschen in Deutschland und in weiten Teilen Europas, dass ich bisher nie Angst vor einem Krieg haben musste. Sie haben nach dem 2. Weltkrieg für einen stabilen Frieden gesorgt. Der ist nicht vom Himmel gefallen. Das war Arbeit. Ich vertraue darauf, dass es viele gibt, denen es geht wie mir. Dass sie diesen stabilen Frieden zu schätzen wissen und alles dafür tun, was in ihrer Macht steht, um ihn zu erhalten.

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Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

29APR2024
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Ich mag es überhaupt nicht, wenn dauernd gejammert wird. Wie schlimm alles gerade ist. Seit Corona. Und dem Krieg in der Ukraine. Gleichzeitig fällt mir auf, dass auch mir das Jammern vertrauter geworden ist. Weil mich die vielen Krisen auf der Welt bedrücken. Aber meine Aufmerksamkeit für alles, was Hoffnung macht, ist geblieben.

Vor kurzem habe ich in meiner Tageszeitung einen Bericht gefunden, den ich am liebsten ganz vorne auf der ersten Seite gelesen hätte: Marlene Engelhorn ist Deutsch-Österreicherin, 31 Jahre alt und Millionenerbin. Aber sie will das viele Geld nicht für sich behalten. Ihr Motto lautet: „Niemand soll sich einbilden, die eigene Komfortzone ist wichtiger als das gute Leben für alle.“ Und sie sagt: „Ich habe ein Vermögen geerbt und damit auch viel Macht ohne etwas dafür getan zu haben.“ Ich war wie elektrisiert. Es gibt Menschen, die reich sind und sich nicht einfach nur freuen, weil sie viel geerbt haben. Die wissen, dass sie eben Glück haben und die deshalb ihr Geld nicht für sich behalten wollen. Ich finde beeindruckend, was die junge Frau mit 25 Millionen Euro vorhat. Sie hat einen Rat gegründet, in dem 50 Männer und Frauen gemeinsam darüber nachdenken, wie das Geld am besten verteilt werden soll. Sie nennt ihn „Guter Rat für Rückverteilung“. Die Mitglieder haben das Ziel, für mehr soziale Gerechtigkeit zu sorgen. Mehr noch: Marlene Engelhorn hat in diesem Rat auch eine Diskussion darüber angestoßen, was sich politisch ändern müsste, damit wir in einer gerechteren Gesellschaft leben können. Denn durch die Krisen und Kriege der letzten Jahre ist die Schere zwischen Arm und Reich immer noch weiter auseinander gegangen.

Mir macht auch Hoffnung, dass Marlene Engelhorn nicht die Einzige ist, die so denkt und handelt: Die New York Times berichtet von einer ganzen Bewegung junger Millionäre. Sie wollen sich weltweit dafür einsetzen, dass es eine Veränderung bei der Vermögenssteuer und der Erbschaftssteuer gibt. Sie wollen das Geld verwenden, um gegen Armut und den Klimawandel zu kämpfen. Für sie alle gilt, wovon Frau Engelhorn überzeugt ist: Das gute Leben für alle ist wichtiger, als die eigene Komfortzone.

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Anstöße sonn- und feiertags

28APR2024
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Manche Menschen können etwas von Gottes Stimme ahnen, wenn sie im Radio unsere Verkündigungsbeiträge hören. Das jedenfalls hat mir eine Frau geschrieben, nachdem sie letztes Jahr eine Sendung mit mir gehört hatte. Es hat mich berührt, dass ihr meine Worte anscheinend geholfen haben, einen Weg in einer für sie schwierigen Zeit zu finden. Ich war beeindruckt, wie genau sie das formuliert hat. Sie schreibt mir: „Heute Morgen hat Gott durch sie gesprochen...für mich persönlich. Es ging mir die Tage gar nicht gut. Ich hatte sehr schwierige Situationen, in denen ich mich immer zurückzog. Also betete ich heute Morgen, Jesus möge mich mit seinem Licht füllen und mir bitte erklären, was ich in Zukunft tun soll, wenn wieder solche Situationen kommen. Ich bekam den Impuls, das Radio einzuschalten. Und da habe ich Sie sprechen gehört. Wie es Ihnen gelingt, zu sich selbst zurück zu finden und dabei zu erleben, dass Gott da ist. Segen über Sie. Und lassen Sie ihr Licht weiter leuchten.“

Für mich war es ein Geschenk, dass die Hörerin diese Erfahrung mit mir geteilt hat. Ich habe gut verstanden, was sie gemeint hat. Denn ich kenne das. Dass ich unerwartet mitten im Alltag einem Menschen begegne, tief berührt bin und Gottes Nähe ahne. Einfach so. Ich denke an eine Situation, die ich vor kurzem erlebt habe, als ein pensionierter Schulleiter die Kinder aus meiner Klasse zum Staunen gebracht hat. Er hat ihnen erklärt, was es alles braucht, dass aus Apfelblüten Äpfel werden. Das hat er begeistert und mit Hochachtung für Gottes Schöpfung getan. Ich habe gespürt, dass für ihn jeder Apfel eigentlich ein kleines Wunder ist.

Die Post der Hörerin vom letzten Jahr hat mich nachdenklich gemacht. Sie war so offen und ehrlich. Ihr Glaubensbekenntnis war echt. Für mich ist es kostbar, dass sie mir geschrieben hat: „Sie sind eine Frau, durch die andere Gottes Nähe ahnen können.“ Und noch etwas ist mir wichtig: Sie hat mich daran erinnert, dass ich diese Nähe im alltäglichen Kontakt ahnen kann - mit Kolleginnen, Freunden und Fremden. Ab und zu darf ich das meinem Gegenüber auch sagen. Wenn ich es passend und angemessen finde.

Für solche besonderen Momente im Alltag habe ich ein kurzes Gebet: Großer Gott. Ich danke dir, dass du Mensch geworden bist!

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Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

02DEZ2023
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Es war letztes Jahr, mitten im Advent. Ich stehe am Postschalter und rege mich auf, weil ich lange warten muss. Ich hab’s außerdem ziemlich eilig und die Päckchen sollen ja rechtzeitig vor Weihnachten ankommen. Ich bin gestresst, getrieben – und eigentlich sauer auf mich, dass ich so bin.

Jetzt ist wieder Advent. Morgen zünde ich die erste Kerze am Adventskranz an. Die Situation am Postschalter vom letzten Jahr fällt mir pünktlich zu Beginn der Adventszeit wieder ein. Vielleicht auch deshalb, weil mir das so oder ähnlich immer wieder passiert. Eigentlich wäre ich in solchen Stress-Momenten viel lieber gelassen. Weil ich sie ohnehin nicht ändern kann. Und weil sie mich Kraft kosten. Völlig unnötig. Damals habe ich mit einer Seelsorgerin darüber gesprochen, wie ich mich erlebt habe.

Ihre erste Frage war: „Sind Sie bereit für ein Experiment?“ Ich lasse mich darauf ein und bin überrascht. Ich soll die Situation zunächst genau so nehmen, wie sie war. In diesem Fall bedeutet das: bewusst erleben wie getrieben ich mich gefühlt habe und wie atemlos ich war. Ohne das zu bekämpfen und schrecklich zu finden. Das ist schwierig. Denn viel lieber will ich ja eben nicht fühlen, wie gestresst ich bin. Umso erstaunlicher, was ich dabei erlebe: Wenn ich zulassen kann, was ist, ohne das zu bewerten, werde ich schon ruhiger. Ich kann tief durchatmen und bei mir ankommen. Schon nach wenigen Minuten habe ich wieder fühlen können, dass ich mehr bin als diese Frau, die gerade gestresst und erschöpft am Postschalter steht. So als wäre ich aus einem engen, dunklen Raum durch eine Tür gegangen in einen anderen Raum, der grenzenlos ist, hell und still. Ich habe Abstand gewonnen zu der gestressten Frau. Und dieser kleine Abstand hat genügt, um ruhig zu werden und mich wieder lebendig zu fühlen.

Ich nenne diesen hellen Raum meine Mitte. Ich gelange zu ihm, wenn ich Situationen genau so nehme, wie sie sind. Es ist ein Raum in dem ich einverstanden bin mit mir. Es ist ein Raum, in dem ich erlebe, dass Gott in meinem Leben, in mir selbst da ist. Und dieses Ankommen bei mir selbst und bei Gott ist zutiefst adventlich.

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Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

01DEZ2023
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Mein Adventskranz hat rote Kerzen. Jedes Jahr. Weil mir die Kombination aus Rot und Grün am besten gefällt. Der erste Adventskranz, den es jemals gab, sah ganz anders aus. Er ist auf einem alten Wagenrad entstanden und hatte nicht vier, sondern 24 Kerzen. Johann Hinrich Wichern hat ihn erfunden. Er war vor fast 200 Jahren evangelischer Pastor in Hamburg. Und hat dort für Kinder und Jugendliche aus den Armenvierteln Hamburgs eine Wohngemeinschaft gegründet. Er hat daran geglaubt, dass jeder Mensch von Gott gewollt und geliebt wird. Dass sich jedes dieser Kinder in seiner Wohngemeinschaft gut entwickeln wird, wenn es in einer liebevollen Umgebung aufwächst. Pastor Wichern hat Licht in das Leben von vielen Kindern gebracht. Dass er den Adventskranz sozusagen erfunden hat, ist einfach nur passend und eine echte Adventsgeschichte. Wie alle Kinder, bis heute, haben sich auch seine Kinder damals auf Weihnachten gefreut. Sie haben den Pastor oft gefragt, wie viele Tage es noch dauert bis zum Heiligen Abend. Deshalb ist er auf die Idee gekommen, ab dem 1. Dezember jeden Tag eine Kerze anzuzünden und den Kindern zu sagen: Weihnachten ist, wenn alle 24 Kerzen brennen.

Während es draußen immer dunkler wird, wird es drinnen mit jeder Kerze heller. Genau das passiert auch bei mir im Klassenzimmer. 24 Kerzenständer stehen ab dem 1. Dezember auf dem Tisch in der Mitte des Klassenzimmers. Aus Brandschutzgründen müssen es kleine LED Lichtlein sein. Morgens um acht zünden wir jeden Tag ein Licht mehr an und erleben, wie es im Klassenzimmer immer heller wird. Dazu darf immer ein Kind sein Adventssäckchen aufmachen. Dort findet es neben kleinen Leckereien ein Kompliment. Gute Worte, die dem Kind sagen, was wir an ihm schätzen und mögen. Alle Kinder sind gespannt, was da steht und immer leuchten die Augen. Denn da stehen Sätze wie: „Du hast eine gute Seele“ oder „Wir finden toll, dass du niemanden ausgrenzt“. Sätze, die davon erzählen, wie jedes Kind dazu beiträgt, dass unsere Gemeinschaft im Klassenzimmer gelingt. Es sind gute Worte, bei denen es den Kindern und mir warm um’s Herz wird. Und wir erleben, was mit dem inneren Licht gemeint ist, das in jedem Menschen wohnt.

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Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

30NOV2023
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Putzen kann jeder. Sagt man so. Seitdem Frau Kara nicht mehr unser Klassenzimmer putzt, mache ich andere Erfahrungen. Frau Kara hat ihre Arbeit gerne gemacht. Sie hat gewusst, dass ihre Arbeit wichtig ist. Mindestens fünf verschiedene Männer und Frauen haben nach ihr den Job gemacht. Mehr oder weniger. Zuletzt ein Mann, mit dem ich mich kaum verständigen konnte. Er hat die Mülleimer geleert, die Papierhandtücher und den Seifenspender aufgefüllt. Hat sich bemüht. Das habe ich gesehen. Er hat den Boden nass gewischt aber dabei den Dreck eigentlich nur verteilt. Der junge Mann hat unglücklich auf mich gewirkt. Ich habe mich gefragt, wie er wohl lebt? Ob seine Familie in der Nähe ist? Was er in seiner Heimat gemacht hat? Gleichzeitig war ich stinksauer. Soll ich jetzt auch noch selber das Klassenzimmer putzen? Es kann ja wohl nicht wahr sein, dass die Stadt keine Reinigungskräfte findet, die ihre Schulen ordentlich putzen. Leider ist es so. Weil kaum jemand diese Arbeit gerne macht. Sie ist hart, nicht gut bezahlt und, gesellschaftlich wenig anerkannt.

Dass es auch anders geht, zeigt eine Initiative in Berlin. Katharina Florian hat eine „Kehr-Revolution“ gestartet. Wertschätzung für Reinigungsarbeiten ist ihr Motto. Das wirkt sich auf die Bedingungen aus, unter denen die Frauen und Männer bei kehrwork1 arbeiten. Reinigungskräfte werden fest und sozialversichert angestellt. Sie erhalten einen fairen Lohn. Kehrwork als Firma ist zudem Teil eines politischen Netzwerks. Mitarbeiter*innen werden unterstützt, wenn sie einen Sprachkurs brauchen, psychosoziale Beratung oder eine Rechtsberatung. Katharina Florian ist eine Vorreiterin wenn es um soziale Nachhaltigkeit geht. Sie sagt: „Ich will versuchen herauszufinden, wie bereit wir als Gesellschaft sind, sozial nachhaltige Arbeitsverhältnisse zu schaffen in Bereichen, die wenig anerkannt und doch so wichtig sind.“

Tübingen ist weit weg von Berlin. Und ganz sicher arbeitet die Stadt Tübingen mit Reinigungsfirmen, die ihre Arbeitskräfte sozial versichert und fest angestellt haben. Aber das reicht nicht. Mir gefällt das Modell von Frau Florian: Menschen brauchen Anerkennung für das, was sie tun. Und sie haben Bedürfnisse, für die sie manchmal die Hilfe anderer brauchen. Wenn wir Reinigungskräfte auch so wahrnehmen, dann wäre es am Ende ein Gewinn für beide Seiten: Die Reinigungskräfte und die Klassenzimmer in unseren Schulen.

1 Kehrwork.de/bist-du-bereit-für-die-kehrrevolution

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