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„Hier sieht es ja aus wie im Hürtgenwald“. Das war so ein Ausdruck bei uns daheim, wenn mal wieder Unordnung und Chaos im Kinderzimmer herrschte. Das echte Chaos im echten Hürtgenwald begann heute vor 80 Jahren am 2. November 1944. In der so genannten Allerseelenschlacht versuchten amerikanische Truppen durch den dichten Wald südlich von Aachen in Nordrhein-Westfalen in Richtung Rhein vorzudringen. Eine fatale Fehlentscheidung der amerikanischen Generäle. Zu unwegsam war das Gelände und viel zu dicht der Wald. Am Ende waren 24.000 Amerikaner und Deutsche tot und noch viel mehr verwundet an Leib und Seele. Bis heute, 80 Jahre später, ist es gefährlich in diesem Wald abseits der Wege zu spazieren. Denn immer noch liegen Munition und Minen herum, die noch nicht entdeckt sind. Der Geburtsort meines Vaters am Rand des Hürtgenwaldes ist damals komplett zerstört worden. Und der Zufall wollte es, dass zwei meiner Onkels als junge deutsche Soldaten irgendwo dort im Schützengraben auf andere junge Männer schießen mussten. Beide haben zum Glück überlebt. Onkel Franz und Onkel Willi habe ich als sanfte, ruhige Männer kennen gelernt, die keiner Fliege etwas zuleide tun konnten. Im Krieg damals mussten sie durch die Hölle gehen. Vielleicht denken Sie ja jetzt: Warum erzählt der uns das heute Morgen? Kann man diese ganzen Kriegsthemen nicht einfach mal ruhen lassen? Nein, das kann man nicht. Denn Menschen sind fürchterlich vergesslich. Deshalb muss man erinnern, was Kriege anrichten. Die aktuellen Kriege und Auseinandersetzungen zeigen das nur zu deutlich. Mir macht das Angst. Und ich bin ratlos, welche Politik heute die richtige sein könnte. Kluge und besonnene Menschen sind da gefragt. Denn: Fehler in Politik und Gesellschaft, die zu Kriegen führen, die dürfen sich nicht wiederholen. Das sind wir den Millionen Toten der Kriege schuldig, und mehr noch uns, den Lebenden. Denn uns allen sollte so ein Schicksal erspart bleiben.
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Ich stehe mit meinen Kindern, damals sieben und drei Jahre alt, auf dem Friedhof, am Grab von Tante Lisbeth.
„Die ist jetzt kaputt“, sagt der Sohn zu seiner kleinen Schwester.
„Also bitte, das kann man aber auch anders sagen,“ weise ich ihn zurecht.
„Aber Papa, das versteht die doch nicht, wenn ich sage:’gestorben’. Außerdem ist die Tante jetzt im Himmel, das stört die nicht.“
Ich bin platt, mir fällt nichts mehr ein. Dafür aber meinem Sohn.
„Was ist denn jetzt eigentlich im Himmel? Liegt da unten im Grab nichts drin.?“
„Doch, der Körper liegt da drin. Im Himmel ist die Seele.“
„Und wo ist die, ich meine bei mir?“
„Na, in dir drin.“
„Ach so, liegt da im Grab nur noch die Haut?“
„Nein, nein, da liegt schon der ganze Körper drin.“
„ Ja, was ist denn jetzt die Seele?“
„ Na ja, das bist halt du, was du denkst, was du fühlst........“
„Ach so?!?!?!?! Okay, jetzt weiß ich: Im Himmel ist der Kopf.“
„Nein, Kinder, also so ist das.....“
„Im Himmel ist der Kopf! „ kräht die Dreijährige unter mir.
„Nein, nein, so ist das nicht......ich erklär` euch das ein andermal.“
Wir machen uns auf den Heimweg.
Da kommen uns drei ältere Damen entgegen.
„Im Himmel ist der Kopf“, ruft ihnen die Kleine entgegen.
Einfach weitergehen! Sich ja nichts anmerken lassen!
„Gell, im Himmel ist der Kopf?“, fragt die Tochter, als wir ins Auto steigen.
Ich kapituliere. „Ja, im Himmel ist der Kopf.“ sage ich und habe meine Ruhe.
Meine Kinder sind heute längst erwachsen. Das Grab von Tante Lisbeth ist vor kurzem geräumt worden. Da habe ich mich wieder an die Geschichte erinnert und musste schmunzeln. Ich stelle mir vor, wie jetzt ganz viele Köpfe im Himmel versammelt sind und auf uns herab schauen. Und damit das nicht allzu seltsam aussieht, wird Gott der Allmächtige schon dafür sorgen, dass auch die anderen Körperteile ihren Weg gen Himmel finden. Ja, ich weiß, dass das natürlich ganz ganz anders ist, mit der Seele und dem Leben bei Gott, an das ich glaube. Aber ehrlich: können Sie sich vorstellen, wie das sein wird? Ich nicht. Aber vielleicht erklären mir das meine Enkel demnächst auf ihre ganz eigene Weise. Ich bin gespannt …
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Ein Besuch auf dem Friedhof ist nicht jedermanns Sache. Es gibt Menschen, die haben damit richtig Probleme. Sie wollen nicht an Sterben und Tod erinnert werden. Ich persönlich gehe gerne auf Friedhöfe. Der bei uns zu Hause ist alt. Er ist fast wie ein Park, mit viel Grün und Bäumen. Es ist ruhig, Vögel zwitschern, manchmal sieht man Eichhörnchen. An vielen Stellen stehen große alte Grabsteine aus vergangenen Jahrhunderten.
Eins fällt allerdings auf: die Begräbniskultur in Deutschland wandelt sich rasant. Man sieht mehr Urnengräber und Urnenwände. Es gibt anonyme Grabfelder. Viele Menschen lassen sich gar nicht mehr auf dem Friedhof sondern in Friedwäldern unter Bäumen beerdigen. Oder wählen eine Seebestattung. Auf den Friedhöfen sieht man deshalb immer mehr freie Flächen. Früher herrschte auf Friedhöfen oft Platzmangel. Heute ist davon keine Rede mehr. Es klingt irgendwie paradox, aber hier und da wird überlegt, wie man den Friedhöfen wieder mehr Leben einhauchen kann. Früher trafen sich die Menschen hier, um ihre verstorbenen Angehörigen zu besuchen, um die Gräber zu pflegen, Blumen zu pflanzen und ausgiebige Schwätzchen zu halten mit den Menschen, die nebenan das Unkraut zupften. Die Zeiten sind vorbei und oft genug gehe ich ganz alleine über die Wege auf unserem schönen alten Friedhof. Dann überlege ich: wie wär es denn mit einer Picknickwiese und einem Kiosk? Ob ein Kinderspielplatz und mehr Bänke denkbar wären? Oder ab und zu ein Konzert auf einer Freifläche mit „Knockin`on heavens door“ oder „Tears in heaven“. Das mag schräg klingen Aber ich fände es schön, wenn unsere Friedhöfe wieder mehr zum Begegnungsort für Lebende werden könnten. Und da ist durchaus Kreativität gefragt. Dann wäre ich kein einsamer Spaziergänger mehr auf dem Friedhof. Und unsere Toten hätten trotzdem oder gerade deshalb eine würdige letzte Ruhestätte.
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Wir hatten Glück gehabt bei unserem Kurzurlaub am Bodensee über Pfingsten. Bevor der große Regen und das Hochwasser kamen. Ein Programmpunkt: Besuch des Museums in Konstanz. Sonderausstellung berühmter alter Handschriften aus den Werkstätten der Klosterinsel Reichenau. Zugegeben, etwas speziell, deshalb ging meine Frau in der Zeit auch lieber shoppen. Ich jedenfalls schaute mir uralte Bücher an. Unter anderem ein Buch, über 1000 Jahre alt, mit Texten aus der Bibel und berühmt wegen seiner vielen tollen Bilder aus dem Leben Jesu. Eines der Bilder zeigt ein kleines Boot, es erinnert wirklich an die sprichwörtliche Nussschale. Darin sitzen die Jünger Jesu. Die Wellen schlagen hoch. Die Lage ist verzweifelt. Doch Jesus geht übers Wasser, greift den Petrus an der Hand und rettet die gesamte Mannschaft. Ein Wunder. Und jeder weiß: alles ist gut! Wenn man nur seine Hand nach dem Herrn ausstreckt. Er wird sie ergreifen, egal wo dir das Wasser steht. Ganz schön naiv, mag man da heute denken. Und das ist ja auch so. Was mögen die Leute sagen, denen aktuell wirklich die Brühe im Haus steht und die nicht wissen, wie es weiter gehen soll. Da hilft keine Wundergeschichte aus der Bibel. Da muss man erbarmungslos selbst anpacken, ist auf die konkrete Hilfe von Feuerwehr, THW und die Solidarität der Nachbarn und Freunde angewiesen. Und oft genug wirken die ja auch kleine Wunder, mitten im stürmischen Alltag. Was das Bild aus der Bibel betrifft: vielleicht kann es trotzdem eine Hilfe sein. Ich stelle mir das so vor: die Freunde Jesu damals waren verzweifelt und fühlten sich allein gelassen. Ohne ihren Anführer, Jesus, der nicht mehr bei ihnen war. Und dann hören sie irgendwie tief in ihrem Innern seine Stimme. „Habt ihr noch immer keinen Glauben? Ich bin doch trotzdem bei euch.“ Und mit neuer Kraft greifen sie in die Ruder und erreichen das rettende Ufer. Ich finde, das hat etwas sehr Tröstliches. Ich glaube jedenfalls, dass Gott seine Hand nach mir ausstreckt, so wie Jesus auf dem Bild aus der alten Handschrift. Und mit diesem Gedanken fällt mir –um im Bild zu bleiben- das alltägliche mühsame Rudern etwas leichter.
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Ein Bekannter hat mir ein Erlebnis aus seiner Jugend erzählt. Als junger Student Anfang der 50er Jahre ist er mit einem Freund zu Fuß unterwegs in Frankreich. Sie wollen nach Paris. Damals nicht ohne. Denn seit dem 2. Weltkrieg sind noch nicht viele Jahre vergangen. Auf der Landstraße fährt ein großer PKW an ihnen vorbei. Einige Meter vor ihnen bremst er, bleibt stehen und ein Chauffeur mit Mütze steigt aus. Wo sie denn hin wollten und ob sie ein Stück mitfahren wollten. Gerne steigen die beiden ein. Im Fond sitzt ein älterer Herr mit Brille. Um ihn herum liegen Akten. Die räumt er beiseite. Er grüßt freundlich, fragt die beiden nach ihren Namen und wo sie herkommen. Er interessiert sich für die Lage in Deutschland, wie junge Menschen dort leben und denken. Irgendwann fällt bei den beiden Jungs der Groschen. Sie sitzen zusammen mit dem französischen Außenminister im Auto, Robert Schuman. Der ist bis heute einer der ganz großen Europäer der Nachkriegsgeschichte. Und ein tief gläubiger Christ. Von ihm kam die Idee, Frankreich und Deutschland wirtschaftlich so zu verzahnen, dass ein Krieg zwischen diesen beiden Nationen praktisch unmöglich werden sollte. Dazu gehörte auch die Bereitschaft, Deutschland nach dem Krieg nicht mit eiserner Faust zu beherrschen sondern sich mit dem neuen deutschen Staat zu versöhnen. Was daraus wurde, hat Geschichte geschrieben. Die Europäische Union. Die hat es geschafft, 77 Jahre lang, bis 2022 Frieden in Europa zu bewahren. Das hat es nie vorher gegeben. Daran kann man nicht oft genug erinnern. Was hätte Schuman wohl gesagt zum Krieg gegen die Ukraine? Wie würde er über die aktuellen französischen Parlamentswahlen denken? Gäbe es heute überall auf der Welt Politiker wie ihn, dann sähe es ganz sicher friedlicher aus. Dann würden Hände ausgestreckt und nicht mit der Faust gedroht. Dann würde ernsthaft zugehört statt populistische Parolen gegrölt. Als Robert Schuman 1950 seinen Plan einer wirtschaftlichen Union mit Deutschland auf Augenhöhe öffentlich macht, fragt ein Journalist: „Herr Minister, ist das nicht ein Sprung ins Ungewisse?“. Und Schuman antwortet: „ Ja, schon. Aber den müssen wir machen“. Solche Politiker wünsche ich mir heute. Menschen, die die Hand ausstrecken und nicht die Faust ballen.
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Seit einiger Zeit sehe ich meine Umgebung mit anderen Augen. Das heißt, sie sieht auf einmal ganz neu aus. Ungewohnt anders. Ich gehe nämlich mehr zu Fuß. Z.B rausche ich jetzt nicht mehr im Auto links an der Schrebergartenanlage am Ortsrand vorbei. Jetzt spaziere ich rechts über den Wanderweg, auf der einen Seite die liebevoll angelegten Kleingärten, auf der anderen fließt ein Bach. Am Ufer stehen Bäume. Einer ist vor einiger Zeit in den Bach gerutscht. Arbeiter der Stadt haben den Stamm abgesägt, aber der Stumpf steht noch schräg hoch aus dem Wasser. Er gehört zum Revier eines Entenpaares. Und weil genau an dieser Stelle am Ufer eine Bank steht, habe ich mir angewöhnt, morgens bei meiner Walking-Tour dort Halt zu machen. Ich sitze also ruhig da und beobachte die beiden. Er sitzt oben auf dem Baumstumpf über dem Wasser und sonnt sich. Sie sitzt an der Uferböschung und schaut rüber. Er putzt sich das Gefieder, schlägt mit den Flügeln. Ihr gefällt das wohl, sie beschließt: schwimm doch mal rüber. Sie watschelt ins Wasser, schwimmt los und nimmt dann erst mal ein Bad. Sie taucht ein ums andere Mal mit dem Kopf unter, schüttelt sich dann, putzt die Federn, schnäbelt ausgiebig an sich rum. Hätte sie einen Spiegel, sie würde sicher reinschauen um das Ergebnis zu betrachten. Dann hüpft sie zu ihrem Partner auf den Baumstumpf. Begrüßung, Küsschen links und rechts –so wirkt es jedenfalls auf mich- dann sucht sie sich ein gemütliches Plätzchen in der Sonne. Und ich sitze am Ufer und genieße dieses kleine Schauspiel. Schön, dass man die Welt um sich herum auch mal in aller Ruhe und mit Interesse an den kleinen Dingen sehen kann. Ich jedenfalls brauche diese stillen Momente von heiler Welt und Natur, um mit dem Rest des Tages klar zu kommen. Mit all den anderen Bildern und Eindrücken, die auf mich einprasseln und die ziemlich oft weit weniger friedlich sind. Und ich schicke ein kleines Gebet zum Himmel: Danke Gott, dass du durch ein einfaches Entenpärchen so viel bei mir bewirken kannst.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=40304SWR1 Anstöße sonn- und feiertags
Heute Morgen dürfen alle Frauen erst mal kurz weg hören. Denn ich beginne mit einem Satz eines echten Mannes für echte Männer. Der lautet: „Man kann einen Mann vernichten, aber nicht besiegen“ (E.Hemingway, Der alte Mann und das Meer, Hamburg 2014, S.124). Wow, das sitzt, oder? Nein, ich bin kein hoffnungsloser Macho, und der Satz ist auch nicht von mir. Er stammt von Ernest Hemingway, der hat heute Geburtstag. 125 würde er. Er war Hochseeangler und Tiefseefischer, Großwildjäger in Afrika, Kriegsreporter, Boxchampion, Stierkämpfer und Frauenheld. Und Literaturnobelpreisträger. „Man kann einen Mann vernichten, aber nicht besiegen“. Aus „Der alte Mann und das Meer“ stammt dieser Satz. Den alten Fischer Santiago hat das Glück verlassen. Schon lange hat er nichts mehr gefangen. Noch einmal rudert er aufs Meer, ganz allein. Und er fängt den größten Fisch, den er je an der Fangleine hatte. Drei Tage kämpft er mit dem Fisch, bis er ihn mit der Harpune töten kann. Zu Tode erschöpft bindet er die Beute außen an seinem Boot fest. Und muss dann mit ansehen, wie Haie nach und nach den Fisch auffressen. Wieder im Hafen, hängt nur noch das Skelett am Boot. Alles war umsonst. Und der alte Mann zieht den Mast aus seinem kleinen Boot, legt ihn sich auf die Schulter und geht nach Hause. Hemingway schreibt: „Fünfmal musste er sich auf der Straße hinsetzen, ehe er seine Hütte erreichte“ (a.a.O. S.146). Ich als christlich geprägter Mensch kann nicht anders und muss an den Kreuzweg Jesu denken, wie ihn die Bibel erzählt. Auch Jesus muss ja den Holzbalken tragen, an den man ihn schlagen wird. Und ich stelle mir vor, dass jede Leserin, jeder Leser in dem alten Mann die eigenen Lebensfragen wieder erkennen kann. Die immer wieder kehrenden Mühen, Lasten und Sorgen des Alltags. Die einen oft genug fertig machen. „Vernichten“ wie Hemingway es ausdrückt. Aber was gibt mir die Kraft, mich nicht „besiegen“ zu lassen? Darüber nachzudenken, kann man ja mal heute, an Hemingways Geburtstag. Der Satz hat übrigens noch einen Vorspann. Und dann hat er gar nichts mehr Machohaftes. Dann ist er für Frauen und Männer gedacht. „Der Mensch ist nicht dafür gemacht, besiegt zu werden.“
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Es gibt Zeiten, da macht es mir der liebe Gott nicht gerade leicht. Um ehrlich zu sein, ich liege ziemlich oft mit ihm im Clinch. Und ich kenne genug Menschen in meinem Bekannten- und Freundeskreis, die mit ihm nichts zu tun haben wollen. Sie sagen: “Was ist das für ein Gott, der Menschen schafft, dann aber Pandemien zulässt, der Kinder zur Welt kommen und dann verhungern lässt, der Menschen nicht vor Flucht schützt und dann noch im Mittelmeer ertrinken lässt? Was ist das für ein Gott, der Tyrannen keinen Herzinfarkt schickt?“
Ja, was ist das für ein Gott? Ganz ehrlich: Ich weiß es nicht! Und ich werde einige Fragen an ihn haben, wenn ich ihm denn einmal von Angesicht zu Angesicht begegnen sollte. Was ich weiß: die Bibel ist voller Geschichten von Menschen, denen es genau so ging. Jakob, der Stammvater des Volkes Israel: der kann vor Sorgen nachts nicht schlafen. Das kenn ich gut: wenn nachts das Kopfkino einsetzt und alle Probleme immer größer werden. Die Bibel erzählt es so, dass Jakob mit einem Mann kämpft. Die ganze Nacht. Als es hell wird am Morgen, da will der Mann flüchten, aber Jakob hält ihn fest. “Ich lasse dich nicht los, es sei denn du segnest mich!”. Da will der Mann wissen, mit wem er da gekämpft hat: ”Wie heißt du?” “Jakob, und wer bist du?”. Und jetzt zeigt sich wieder, dass Gott, um den handelt es sich bei dem Fremden, mindestens zwei Seiten hat. Er nennt Jakob seinen Namen nicht, er bleibt unverfügbar, anonym. Gott segnet ihn, um wieder frei zu kommen. Und dann haut der ihn so auf die Hüfte, dass Jakob den Rest seines Lebens hinken muss. Eine tolle Bildgeschichte, die erzählt, wie Menschen an Gott verzweifeln können.
Was für ein seltsamer Gott! Auf jeden Fall einer, der es den Menschen, die sich auf ihn einlassen, nicht einfach macht. Einer, der sie herausfordert. Immer wieder. Jeden Menschen, mal mehr, mal weniger intensiv. Mal scheint Gott weit weg, manchmal spürt man ihn ganz nah. Nur fertig – das werde ich mit ihm wohl nie werden. Zu rätselhaft, zu umständlich sind mir oft seine Wege. Aber los lassen, das kommt für mich nicht infrage. Und vielleicht hat er mich ja schon längst gesegnet, wie den Jakob. Und ich hab es nur noch nicht so richtig gemerkt.
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„O Je, wenn dat moo gohd gieht met dem watt ich heude morje em Radio suh rede..“ Nicht weil ich den ersten Satz gerade im Dialekt gesprochen habe. Nein, das Problem ist das „O Je“. Denn schon in den Zehn Geboten der Bibel steht: „Du sollst den Namen des Herrn nicht missbrauchen!“ „O Je“ nutzen manche nämlich gar nicht in so frommer Absicht. Für mich ist „O Je“ aber so ziemlich das kürzeste Gebet dass ich kenne. „Je“ steht nämlich für „Jesus“. Der Dialekt hat einfach drei Buchstaben weggelassen. Wem das zu kurz ist, der sagt: „Jesses nää“. Damit haben wir daheim den Kopf geschüttelt, wenn mal wieder was Unvorhergesehenes in die Quere gekommen war. Wem der Jesus allein nicht gereicht hat, der hat seine Mutter noch dazu genommen: „Jesses Maria“ oder noch mehr: „Jesus, Maria und Josef“ gerufen. Majusebetter“ sagen die Trierer und haben den Petrus noch mit dazu genommen. „Ojemine“, man ahnt es jetzt schon, heißt „O mein Jesus“ und „Herrje“, das weiß dann jeder. Was mir wichtig ist: jeder dieser Ausrufe ist eigentlich ein Gebet. „Herr, hilf mir!“ sagen die Menschen damit, wenn sie auch heute kaum noch darüber nachdenken. Und egal, ob Sie Dialekt mögen oder nicht: wenn‘s emotional wird, verfalle ich gerne in mein Platt. Dabei bin ich schon über dreißig Jahre weg und rede eigentlich hochdeutsch. Meine Muttersprache ist und bleibt aber mein moselfränkisch aus Engers am Rhein. Damit bin ich groß geworden, habe den Dialekt quasi mit der Muttermilch eingesogen. Und ich bin froh, dass ich ihn nicht verlernt habe. „Herrje, han ich de Dalles!“ klingt einfach besser als „Ach, was habe ich für einen trockenen Reizhusten!“. Und wenn Sie mal nicht wissen, wie Sie ihrem Herzen Luft machen sollen, versuchen Sie es mit einem leisen Zwiegespräch mit Gott. So wie Ihnen der Schnabel gewachsen ist. Gerne auch auf Platt. Denn sollte er wirklich zuhören, was ich ja hoffe, dann versteht er jeden Dialekt und nicht nur Hochdeutsch.
Tschö dann, bis morje villeischt, sagt Wolfgang Drießen, jetzt aus Zweibrücken, katholische Kirche
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Ab und zu sieht man mich tatsächlich mit dem Smartphone in der Hand durch die freie Natur laufen. Grund ist eine Vogelstimmen App, die ich mit großem Vergnügen nutze. Die App nimmt die Vogelstimmen der Umgebung auf, analysiert sie und zeigt mir dann die Ergebnisse an. Mit Bild vom Vogel. Den sieht man ja in der Regel nicht, hört ihn nur irgendwo in den Ästen pfeifen. Bisher habe ich in den meisten Fällen nicht gewusst, wer da zwitschert, jetzt bekomme ich einen ganz guten Eindruck von der Welt, die da um mich herum flattert und piept. Der Zaunkönig zum Beispiel ist so klein, dass ich ihn in seiner Hecke so gut wie nicht sehen kann. Und von der Mönchsgrasmücke habe ich bis vor zwei Jahren noch nicht mal gewusst, dass es sie gibt. Dabei scheint der kleine Sänger fast überall zu Hause zu sein. Sagen mir zumindest die Ergebnisse meiner Vogelstimmen App. Und die schwarze Kappe beim Männchen erinnert tatsächlich irgendwie an die Kopfbedeckung der alten Mönche. Nachtigall und Grauschnäpper, Gartenrotschwanz und Rotkehlchen, Gartenbaumläufer, Stieglitz und noch viele andere unserer heimischen Singvögel habe ich mittlerweile so näher kennengelernt. Ich erzähle davon, weil ich gemerkt habe, dass ich dadurch aufmerksamer geworden bin, wo und wie die Vögel in unserer Umwelt leben. Leider braucht man keine Statistiken um zu merken, dass der Vogelbestand in Europa massiv zurückgegangen ist. Denn heute wird den Vögeln erbarmungslos ihr Lebensraum streitig gemacht. Und die meisten von uns merken das überhaupt nicht. Der Theologe Leonardo Boff hat einmal gesagt: Es ist dringend nötig, dass der Mensch ein neues Bündnis mit der Erde eingeht. Das stimmt. Aber dazu muss ich erst einmal wissen und kennen, was da alles auf unserer Erde lebt und Platz braucht. Meine Vogelstimmen App hilft mir dabei. Denn jetzt weiß ich etwas besser, was man da unter Umständen unwiderruflich kaputt macht. Und sollten Sie mich demnächst am Wegesrand knien und mit dem smartphone rumfuchteln sehen, dann wundern sie sich nicht: ich habe mir jetzt auch eine Blumen- und Pflanzen App aufs Handy geladen.
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