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Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

09NOV2023
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Therese, genannt Tessi, ist acht Jahre alt und geht in Tübingen in die Grundschule. Im Rechnen ist sie gut. Eine Rechenstunde wird sie nie vergessen: „Die Lehrerin hat gesagt, wir sollen uns melden, wenn wir die Lösung wissen. Wer die richtige Antwort gesagt hat, durfte aufstehen“, so erinnert sich Therese Stern-Lawrence siebzig Jahre später an ihre Schulstunde im Jahr 1933. „Ich habe auch immer meine Hand gehoben, aber sie hat mich nie drangenommen. Und als ich die Einzige war, die noch gesessen ist, da hat sie gesagt: Das sind die Juden, die wissen gar nichts, die dreckigen Juden.“

 

Als am 9. November 1938, heute vor 85 Jahren, in ganz Deutschland die Synagogen brennen, jüdische Geschäfte geplündert und jüdische Menschen zusammengetrieben, geschlagen, getötet oder eingesperrt werden, ist Tessi mit ihrer Mutter bereits nach Palästina geflohen. Weil die Saat des Hasses, den ihre Lehrerin und viele andere gesät haben, aufgegangen war.

 

Die Lehrerin, so haben es auch andere Schülerinnen berichtet, ließ keine Möglichkeit aus, das jüdische Mädchen zu demütigen – und hetzte auch ihre Klassenkameraden gegen sie auf, ja forderte sie auf, sie zu schlagen. Am Ende hatte Tessi keine Freunde mehr.

Die schlimmen Erfahrungen von Therese Stern-Lauwrence, die 2013 in Florida gestorben ist, beschäftigen mich. Weil sie zeigen, wie hilflos Kinder der Hetze von Erwachsenen ausgeliefert sind. Das gilt für die Opfer – und auch für die, denen der Hass schon früh ins Herz gepflanzt wird.

 

Die Geschichte von Therese Stern-Lawrence erinnert mich daran, wie entscheidend es ist, was wir Kindern erzählen und vorleben. Und wie wir in ihrer Gegenwart mit und über andere Menschen sprechen. Und wie wichtig es gerade heute wieder ist, aller Art von Hass und Hetze – gerade auch gegen Jüdinnen und Juden – sofort zu widersprechen. Wir alle haben eine große Verantwortung. Denn das, was wir in Kinderherzen säen, wird wachsen.

Aber ich finde: Eigentlich ist das auch eine gute Nachricht. Was wir säen, wird wachsen – das gilt ja genauso für Menschlichkeit, für gegenseitiges Verständnis und für Respekt.

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Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

08NOV2023
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„Du Birk, ich wünschte, du wärst mein Bruder“. Ronja, die Räubertochter aus dem Kinderbuch von Astrid Lindgren, sagt das zu Birk, dem gleichaltrigen Räubersohn. Dass Ronja gerne Birks Schwester sein möchte, ist eigentlich ein Wunder. Denn Birks und Ronjas Räuberfamilien sind verfeindet, solange man denken kann. Und seit sich die Birks Familie samt Räuberbande in einem Teil der Räuberburg einquartiert hat, die bislang Ronjas Familie als ihr Eigentum ansah, ist der Streit endgültig eskaliert.

Die Räubergeschichte, die Astrid Lindgren für Kinder geschrieben hat, ist auf traurige Weise zeitlos und aktuell. Aber sie ist, finde ich, gleichzeitig eine wunderbare Hoffnungsgeschichte. Eine Geschichte der Hoffnung auf Frieden:

Die beiden Kinder, so erzählt Astrid Lindgren, begegnen einander immer wieder bei ihren Streifzügen durch den wilden Wald, der die Burg umgibt. Sie beschimpfen sich, wie sie es von ihren Eltern gelernt haben – und retten einander trotzdem mehr als einmal aus Lebensgefahr. Langsam werden sie nachdenklich.

„Was willst du, Räubertochter?“, fragt Birk Ronja ruppig, als sie sich beim Fuchsbau begegnen. „Ich will, dass du meine Jungfüchse in Frieden lässt und aus meinem Wald verschwindest!“, hält Ronja ihm entgegen. Und Birk wird wütend: „Deine Jungfüchse! Dein Wald! Die Jungfüchse gehören nur sich allein, verstehst du das nicht? Und sie leben im Wald der Füchse. Es ist auch der Wald der Wölfe und der Bären, der Elche und der Wildpferde…“ Und schließlich stellt Birk bitter fest: „Außerdem ist es auch mein Wald! Und dein Wald, Räubertochter, ja, dein Wald auch! Aber wenn du ihn für dich allein haben willst, bist du dümmer als ich auf den ersten Blick geglaubt habe.“

Ronja muss darüber dann doch nachdenken. Und ganz allmählich beginnt sie, Birk gern zu haben. Ihre Zuneigung ist stärker als die Feindschaft ihrer Familien.

Bis auch ihre Eltern Frieden schließen, ist es für Ronja und Birk noch ein harter Weg. Aber es gelingt. Auch, weil Ronjas Opa sich auf die Seite der Kinder schlägt. Dem Alten gelingt es, gemeinsam mit den ganz jungen, die Anführer der verfeindeten Räuberbanden zur Vernunft zu bringen – und zum Frieden.

Ja, es ist nur ein Kinderbuch. Aber mir macht die Geschichte von Ronja und Birk trotzdem Hoffnung. Dass mit jeder neuen Generation auch eine neue Chance auf Frieden heranwächst. Und dass vielleicht auch die älteste Generation mit ihrer Lebenserfahrung helfen kann, dass die Kinder den Hass ihrer Eltern überwinden. Die Hoffnung will ich nicht verlieren.

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Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

07NOV2023
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„Ich mag da gar nicht anrufen.“ Das hat eine Frau zu mir gesagt, als sie mir von ihrer Bekannten erzählt hat, der es gar nicht gut geht. „Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.“

Ich kann die Frau gut verstehen. Für Menschen da zu sein, die gerade in einer Krise stecken, ist schwer. Ich kenne das Gefühl auch: Alles, was ich sagen könnte, klingt irgendwie falsch. Aber ich habe inzwischen verstanden: Oft kommt es in solchen Situationen gar nicht so sehr darauf an, was man sagt oder tut. Sondern vor allem: Dass man da ist.

Selbst Profis tun sich oft schwer, die richtigen Worte zu finden. Von einem Krankenhausseelsorger habe ich gelesen, dass er als ganz junger Pfarrer zu einer Frau gerufen wurde, die schreckliche Angst hatte, ihre Operation am nächsten Tag nicht zu überleben. „Nun“, so hat er es später erzählt, „saß er da und hatte absolut keine Ahnung, wie er darauf reagieren sollte. Um seine Verwirrung zu überspielen, ergriff er erst einmal ihre Hand […]. Da begann sie zu erzählen. Er hörte ihr kaum zu; noch immer ihre Hand haltend suchte er im Gedächtnis krampfhaft nach irgendwelchen Worten des Trostes aus der christlichen Tradition […]. Als er den Raum betreten hatte, waren sie ihm noch alle präsent, aber nun waren sie wie weggewischt.“

Ratlos und schweigend saß der junge Pfarrer da, schickte Stoßgebete zum Himmel, um die richtigen Worte zu finden, aber ihm fielt absolut nichts ein. Die Patientin dagegen sprach weiter, weinte auch ein wenig – und schlief schließlich ein. Der Seelsorger schlich davon – mit dem sicheren Gefühl, seinen Beruf verfehlt zu haben.

Einige Wochen später aber bekam er einen Brief von ihr. Darin bedankte sie sich für seinen Beistand, für all die wunderbaren Dinge, die er während seines Besuchs für sie getan und besonders: die er gesagt hatte.

Das ist lange her, hat er später als erfahrener Seelsorger erzählt – und mit einem Schmunzeln hinzugefügt: „Im Laufe der Jahre habe ich gelernt, dass Gott, wenn ich darum bete, jemandem dienen zu können, manchmal Ja sagt und manchmal Nein – und sehr oft auch: Geh mal zur Seite, Patrick. Ich mache das selber.“

Ich mag die Geschichte. Sie hilft mir, wenn es mir mal wieder schwerfällt, mit jemanden Kontakt aufzunehmen, dem es schlecht geht. Denn meist genügt es tatsächlich schon, dass ich mich melde. Das Übrige habe ich nicht in der Hand…

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Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

06NOV2023
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Älter werden hat auch was für sich – habe ich festgestellt. Und zwar bei meinem Klassentreffen neulich: 30 Jahre Abitur.

Als ich mich dorthin auf den Weg gemacht habe, hatte ich gar keine große Lust auf das Treffen. 30 Jahre – das ist echt lange her. Mit vielen ist der Kontakt schon lange abgebrochen. Ob man sich überhaupt etwas zu sagen hat? Heute bin ich froh, dass ich da war. Nicht nur, weil es dann doch ein schöner Abend war. Sondern auch, weil ich diese schöne Erkenntnis hatte: älter werden hat auch Vorteile.

In unserem Abiturjahrgang ist es wie in wohl jeder Abschlussklasse. Einige haben das gemacht, was man als „Karriere“ bezeichnen könnte. Die Mehrzahl lebt ihr durchschnittliches Leben. Manchen geht es nicht gut. Aber beim Erzählen ist auch klar geworden: Im Laufe ihres Lebens hatten fast alle schon mit mehr oder weniger großen Schwierigkeiten zu kämpfen: Trennungen, Krankheiten, psychische Probleme, familiäre Sorgen, berufliche Tiefpunkte. Manches ist überwunden, anderes nicht. Und ich hatte den Eindruck: Jetzt, mit rund 50, ist allen bewusst, dass das zum Leben dazugehört. Dass man sich deshalb gegenseitig nichts vormachen muss, sondern offen sagen kann, wie es ist.

Die Schriftstellerin und Christin Luise Rinser hat diese entlastende Erfahrung so beschrieben: Schön ist es, älter zu werden, schreibt sie, erlöst von sich, von der gewaltigen Anstrengung, etwas zu werden, etwas darzustellen in dieser Welt. Gelassen sich einfügen, irgendwo, wo gerade Platz ist, und überall man selbst zu sein und zugleich weiter nichts als einer von Milliarden.

Ob diese Gelassenheit mit dem Alter noch zunimmt? Ich hoffe es. Ich hoffe, dass ich Jahr für Jahr mehr verstehe, dass mein Leben seinen Wert schon in sich trägt – unabhängig von dem, was ich tue. Darauf zu vertrauen, bedeutet für mich übrigens: glauben.

Jedenfalls fühlt es sich gut an, so zu leben, weiß Luise Rinser: Heute fürchte ich nichts, schreibt sie, heute zeige ich mich freimütig, schutzlos dem Tag, … und wage, mich zu freuen … weil ich lebe, weil ich auf eine Art lebe, die nur ich weiß und kann, ein Leben unter Milliarden, aber das meine, das etwas sagt, was kein anderes sagen kann. … Dies alles, in vielen Worten gesagt, dauert zu fühlen drei, vier tiefe Atemzüge lang. Sagt Luise Rinser. Gerne will ich das auch fühlen.

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SWR2 Lied zum Sonntag

29OKT2023
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Das Leben ist so kurz! Einen Moment lang musste ich innerlich schmunzeln, als eine Frau das neulich zu mir gesagt hat. Sie hat gerade ihren 95. Geburtstag gefeiert.

Aber natürlich hat sie recht. Egal, wie alt wir werden – unser Leben ist kurz. Jetzt im Herbst ist uns die alte Erkenntnis vielleicht näher als sonst. „Ach wie flüchtig, ach wie nichtig, ist der Menschen Leben“ – ein Lied aus der Barockzeit besingt diese Erfahrung mit eindringlichen Worten.

Strophe 1–2, Windsbacher Knabenchor

Die Erfahrungen des Dreißigjährigen Krieges hatten den Dichter und Musiker Michael Franck geprägt, als er vier Jahre nach dem westfälischen Friedensschluss diese Verse schrieb – und Hunger, Armut und Tod waren im Land weiter allgegenwärtig. Das Leben der Menschen – vergänglich wie ein Nebel. Diese Erfahrung war überall noch mit Händen zu greifen.

Trotzdem spricht für mich aus dem Lied keine Verzweiflung. Besonders die Musik strahlt mit ihrem beschwingten Rhythmus eine fast heitere Gelassenheit aus.

Strophe 3, Zwischenspiel

Ja, es stimmt: Unsere Freude ist flüchtig. Auf Licht folgt wieder Dunkel, auf Friede Streit. Aber – es gibt sie, die Freude. Genauso wie die Schönheit und das Glück. Beides besingt das Lied mit seiner beschwingten Melodie. Als ob es sagen wollte: Die schönen Seiten des Lebens sind vielleicht nur von kurzer Dauer – umso wichtiger ist es, sich zur rechten Zeit daran zu freuen.

Strophe 4

Nicht nur Glück und Schönheit sind vergänglich. Auch mit unserem Besitz, der die Generationen überdauern soll, kann es schnell vorbei sein: Es kann Glut und Flut entstehen, dadurch, eh wir uns versehen, alles muss zu Trümmern gehen, dichtet Michael Franck. Die Bilder von Erdbeben- und Flutkatastrophen führen uns das auch heute ständig vor Augen.

Wenn also alles vergänglich, ja nichtig ist, stellt sich unweigerlich die Frage: Was ist dann wichtig – und warum? Für den Dichter ist die Antwort klar: Auf Gott zu vertrauen, hat einen bleibenden Wert. Denn bei Gott weitet sich die enge Perspektive unseres kurzen Lebens.

Strophe 8, Windsbacher Knabenchor

Die alte Dame, mit der ich gesprochen haben, sieht es ähnlich. 95 Jahre Lebenserfahrung hat sie – und ganz viel Gottvertrauen. Auch sie hat Krieg und Leid erlebt. Und sie sagt: Das Leben ist so kurz. Wenn wir das öfter bedenken würden, würden wir viel unnötigen Streit und Ärger vermeiden. Und dem Guten mehr Raum geben.

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SWR2 Lied zum Sonntag

03SEP2023
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Wann ist man eigentlich ein Christ, eine Christin? Auf diese Frage gibt es verschiedene Antworten: Christ ist, wer getauft ist, sagen manche, oder: wer zur Kirche gehört. Christ ist, wer an Jesus glaubt, sagen andere. Oder: wer so lebt, wie Jesus es vorgelebt hat.
Wann ist man ein Christ, eine Christin? Ein Spiritual hat mich dazu gebracht, mich näher mit dieser Frage zu beschäftigen. Lord, I want to be a Christian in my heart heißt es in dem Lied. Es wurde schon Ende des 18. Jahrhunderts von afroamerikanischen Sklaven in Nordamerika gedichtet und gesungen: Herr, ich möchte Christ sein in meinem Herzen.

Strophe 1 First Revolution

Das Lied hat mich nachdenklich gemacht. Ein tiefer Glaube, ein tiefes Vertrauen spricht aus den Zeilen und der Musik. Und gleichzeitig ist es eben kein selbstbewusstes Bekenntnis, sondern eine Bitte an Gott, ein Gebet: Ich möchte ein Christ, eine Christin sein. Hilf mir dabei!
Ja, ich glaube, so ist es: Christin bin ich nicht ein für alle Mal. Ich kann nur immer wieder darum bitten, es mehr und mehr zu werden – innerlich, im Herzen. Mehr und mehr Gottvertrauen zu haben – und mich mehr und mehr am Vorbild Jesu zu orientieren: Vorbehaltlos auf Menschen zugehen, wie er es getan hat. Um Verzeihung bitten und anderen vergeben. Helfen, wo Hilfe gebraucht wird.
Oder ganz schlicht, wie es das Lied sagt: Liebevoller werden. Lord, I want to more loving in my heart:

Strophe 2 mit Vorspiel Die Singphoniker

Übrigens: Die Erkenntnis, das Christsein kein Zustand ist, sondern sich ein Leben lang entwickelt – die hatte auch schon Martin Luther. Fromm, so nennt es Luther, ist man nie. Sondern man wird es. So wie eben nichts im Leben einfach ist – sondern alles sich verändert.

Das Leben, so schreibt Luther,
ist nicht ein Frommsein, sondern ein Frommwerden,
nicht eine Gesundheit, sondern ein Gesundwerden,
nicht ein Sein, sondern ein Werden,
nicht eine Ruhe, sondern eine Übung.
Wir sind’s noch nicht, wir werden’s aber. […]
Es ist nicht das Ende, es ist aber der Weg.

Dass ich mich auf dem Weg weiterentwickeln kann zum Guten, das liegt nicht allein in meiner Hand. Dazu brauche ich Hilfe. Von anderen Menschen – und von Gott. Ihn kann ich darum bitten. Mit Worten – oder mit Liedern wie unserem Spiritual: Herr, lass mich wie Jesus sein in meinem Herzen:

Strophe 3 Die Singphoniker

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SWR2 Lied zum Sonntag

23JUL2023
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Es ist ein besonderer Moment: Wenn im Sommer in aller Frühe der Morgen anbricht. Ein Moment, den ich selten erlebe – aber wenn, dann staune ich: Wie das erste Licht sich zeigt. Und wie dann, nach und nach, die ersten Vogelstimmen zu hören sind. Erst vereinzelt und zaghaft, dann immer kräftiger – bis sich ein vielstimmiger Chor gebildet hat.

Es tagt, der Sonne Morgenstrahl weckt alle Kreatur. Das Volkslied erweckt den Zauber dieses Moments musikalisch zum Leben. Der Vögel froher Frühchoral begrüßt des Lichtes Spur, heißt es in der ersten Strophe. Es singt und jubelt überall. Erwacht sind Wald und Flur. Und die Melodie jubelt förmlich mit:

Strophe 1, Knabenchor capella vocalis

Für den Musiklehrer Werner Gneist, der den Text 1929 gedichtet und auch die beschwingte Melodie dazu komponiert hat, war die Morgenstunde, die er besingt, nicht nur ein schönes Naturereignis. Für ihn hat das morgendliche Erwachen auch eine geistliche Dimension.

Gneist war von der Singbewegung der zwanziger Jahre geprägt. Der christliche Glaube war ihm wichtig. Als er sich in den dreißiger Jahren als Volksschullehrer im schlesischen Bunzlau geweigert hat, in die NSDAP einzutreten, wurde er strafversetzt und hat danach als Kantor an einer evangelischen Schule gearbeitet. Nach dem Krieg hat er seine Arbeit als Lehrer im schwäbischen Kirchheim/Teck fortgesetzt.

Der vielstimmige Chor, der am Morgen erwacht, bedeutet für Gneist: Alle Geschöpfe sind Teil eines großen Morgenkonzerts zum Lob Gottes – alle auf ihre eigene Art, nicht nur diejenigen, die mit einer Singstimme begabt sind. Wem nicht geschenkt ein Stimmelein zu singen froh und frei, mischt doch darum sein Lob darein mit Gaben mancherlei, so heißt es in der zweiten Strophe. Und stimmt auf seine Art mit ein, wie schön der Morgen sei.

Strophe 2, Knabenchor capella vocalis

Mir gefällt diese Vorstellung: dass jeder und jede unterschiedliche Gaben hat, aber alle auf ihre Weise etwas beitragen können im großen Chor. Und ich überlege mir, was meine Stimme, mein Beitrag darin sein könnte.

Einstimmen in das Morgenlob kann ich mit einem Lied – aber auch mit einem schön gedeckten Frühstückstisch. Mit einer beschwingten Joggingrunde durch den Wald. Mit einem Lächeln oder einem Wort, das anderen guttut. Oder einfach damit, dass ich genau hinhöre und mich freue am Lob der Schöpfung, das draußen zu hören ist.

Strophe 3, Knabenchor capella vocalis

Ja, ich selbst singe tatsächlich gerne mit. Und will auch genau hinhören und mich anstecken lassen von der positiven Energie, die in diesem morgendlichen Konzert steckt. Obwohl – oder gerade weil – manches in meinem Leben und vieles in der Welt keinen Grund zur Freude bietet.

Aber wenn ich mit einstimme, dann trage auch ich dazu bei, die Welt trotz allem ein wenig schöner zu machen – so wie es die Sonne tut, und die Vögel. Die Insekten, die durch die Luft tanzen, die glitzernden Wellen oder die Bäume, die sich im Wind wiegen. Alles zusammen ein großer Morgenchor an Freude reich zu Gottes Lob und Preis.

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Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

08JUL2023
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„Es ist so wichtig, freundlich miteinander umzugehen. Das muss man den Leuten sagen!“ Das hat mir eine alte Dame mit auf den Weg gegeben, die ihren neunzigsten Geburtstag gefeiert hat. Ihr Gesicht ist von vielen Falten durchzogen, der Körper schon mitgenommen von den vielen Jahren. Aber ihre Augen sind lebendig, ihre Stimme klar. Und sie will etwas weitergeben, was sie in ihrem langen Leben verstanden hat. „Es macht einen Unterschied, wie wir miteinander umgehen“, hat sie gesagt. „Es macht einen Unterschied, wenn wir freundlich miteinander sprechen, wenn wir den Kontakt mit den Nachbarn pflegen… Jeder kann da etwas beitragen.“ Und, hat sie hinzugefügt: „Ich kann ja sonst nicht mehr viel machen in meinem Alter. Aber damit kann ich immer noch etwas bewirken!“

Ich finde, sie hat recht. Freundlich zu sein macht einen Unterschied. Und zwar: wirklich freundlich zu sein, zugewandt. Den anderen in den Blick nehmen. Das ist etwas ganz anderes als eine aufgesetzte Freundlichkeit, die sich Leute antrainiert haben, um gut anzukommen oder bloß nirgends anzuecken. Die meine ich nicht. Aber es gibt Menschen, die strahlen eine Freundlichkeit aus, die von innen kommt. Selbst dann, wenn sie gar nicht viel sagen oder tun, fühle ich mich bei ihnen und willkommen. Und das tut mir gut.

So eine tiefe Freundlichkeit, die muss auch Jesus ausgestrahlt haben. Er hat sein Gegenüber gesehen – und das haben die Menschen gemerkt. In ihm, so steht es in der Bibel, hat sich „die Güte und Menschenfreundlichkeit“ (Titus 3,4) Gottes gezeigt. Auch dadurch war die Begegnung mit ihm für viele Menschen so heilsam.

Menschenfreundlich zu sein – das ist auch eine Gabe, ein Talent, ein Segen. Die alte Dame, die ich zu ihrem Geburtstag besucht habe, hat diese Gabe. Man fühlt sich bei ihr wohl. „Ich mag einfach Menschen“, hat sie lachend gesagt. „Und Tiere. Und besonders Kinder. Von denen bin ich immer total hingerissen.“

Eine Freundlichkeit, die von innen kommt: Ich finde, das ist eine große Gabe. Und wer sie hat, darf sich glücklich schätzen. Denn ich glaube: Durch solche Menschen wird etwas sichtbar von Gottes Menschenfreundlichkeit.

Aber ich glaube: Freundlichkeit ist nicht nur eine Frage der Begabung. Auf andere zugehen, sie ernst nehmen, versuchen, sie zu verstehen, hilfsbereit sein, darum kann man sich auch bemühen. An anderen Menschen auch das Positive sehen – und ihnen das auch manchmal zu sagen, das kann man üben. Der alten Dame auf jeden Fall ist es ein großes Anliegen, dass wir alle es versuchen. „Das muss man den Leuten sagen“, findet sie. Ich gebe es gerne weiter.

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Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

07JUL2023
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Melani ist sieben Jahre alt und wohnt in Paraguay. Ich kenne sie erst seit zwei Wochen. Wobei: Kennen ist eigentlich übertrieben. Bisher habe ich ihr nur eine Mail geschrieben – und weiß noch wenig von ihr. Sie lebt in einer der ärmsten Regionen des Landes und geht in die Vorschule. Sie wächst ohne Vater auf. Auf dem Foto, das ich von ihr habe, steht sie mit ihrer Mutter Sonia unter einer Wäscheleine vor dem bunt angestrichenen Holzhaus der Familie. Melani lächelt, ihre Mutter sieht müde aus.

Melani ist mein Patenkind. Durch die Patenschaft, die eine Hilfsorganisation vermittelt hat, verbessern sich ihre Chancen für die Zukunft. Vor allem kann sie dauerhaft die Schule besuchen. Gerade für Mädchen ist das in ihrer Region nicht selbstverständlich.

 

Aber ist so eine Patenschaft überhaupt sinnvoll, fragen mich manche. Ist es gut ein Kind zu unterstützen – obwohl so viele auf der Welt in Not sind? Wenn sich die Situation in dem Land nicht grundsätzlich verbessert?

Ich glaube: Ja – und zwar aus zwei Gründen. Einmal, weil auch für die Hilfsorganisation klar ist: Man kann einzelnen Kinder nur helfen, indem man ihr Umfeld verbessert. Deshalb bieten Helfer in der ganzen Region Kurse an, zum Beispiel zu Gesundheitsthemen und Berufschancen. So helfen meine Spenden nicht nur Melani, sondern verändern auch grundsätzlich etwas – auch für viele andere Menschen.

Der zweite Grund ist, dass wir Menschen auf der ganzen Welt miteinander verbunden und voneinander abhängig sind. Man vergisst das leicht – aber Melani erinnert mich daran. Was wir hier tun und entscheiden, betrifft letztlich auch sie. Durch die Klimaveränderungen zum Beispiel vertrocknet der Rasen hier vor meiner Haustür – und 10.000 Kilometer entfernt, bei Melani in Paraguay, wo die Menschen hauptsächlich von der Landwirtschaft leben, stürzt die Dürre viele Familien in Not. Und Menschen, die dort keine Zukunft mehr für sich sehen, werden versuchen, woanders ein besseres Leben zu finden – so wie viele auch in Deutschland Zuflucht suchen. Letztlich sind ihre Probleme deshalb auch meine Probleme.

Ihr seid alle Kinder Gottes (Galater 5,26), Brüder und Schwestern – vor 2000 Jahren, als Jesus gepredigt hat, sah die Welt noch anders aus als heute. Seine Botschaft, dass Menschen bei ihm eine große Familie bilden, egal woher sie kommen, unabhängig von ihrer Nationalität, ihrem Geschlecht oder ihrer Position in der Gesellschaft – die war damals revolutionär. Und ich finde: Sie ist heute, in Zeiten der Globalisierung, aktueller als je zuvor. Mit Melani hat diese Botschaft für mich einen Namen und ein Gesicht: Durch Jesus gehören sie und ihre Mutter Sonia quasi zu meiner Familie. Und ihr Wohl sollte mir am Herzen liegen.

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Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

06JUL2023
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„Jeder Mensch hat einen Namen“ – so heißt ein Heft, das die Hilfsorganisation „United for Rescue” herausgegeben hat. Die Helfer retten Flüchtlinge vor dem Ertrinken. In dem Heft werden 20 Menschen mit Namen vorgestellt. 20 der 20.000, die seit 2014 auf ihrer Flucht im Mittelmeer ertrunken sind. Menschen wie Zahair, der mit seiner Mutter und seinen drei Geschwistern aus Afghanistan geflohen war. Sein Boot sank am 16. März 2018 vor der griechischen Küste. Er wurde acht Jahre alt.

Jeder Mensch hat einen Namen: Wenn ich jemanden mit Namen kenne, macht das einen Unterschied. Er ist dann nicht mehr Teil einer anonymen Masse, sondern ein unverwechselbarer Mensch. Und es ist nicht mehr so einfach, sein persönliches Schicksal zu ignorieren oder ihm Gewalt anzutun.

Nicht umsonst bekamen im Nationalsozialismus die Menschen, die in Lagern gequält und getötet wurden, statt ihres Namens eine Nummer eintätowiert. Eine Zahl zu sein statt einen Namen zu tragen, das nimmt einem Menschen die Würde. Und ein Mann, der im Krieg war, hat mir vor langer Zeit erzählt, dass es schrecklich war, wenn sie durch irgendeinen Zufall die Namen derer aufgeschnappt haben, gegen die sie kämpfen mussten. Es ist so viel schwerer, auf jemanden zu schießen, den man mit Namen kennt.

Ich habe dich bei deinem Namen gerufen – in einem Vers aus der Bibel im Buch Jesaja sagt das auch Gott. Er sagt es zu seinem Volk, den Israeliten. Denn die kommen sich in dem Moment verloren vor und vergessen. Als wären sie nur Teil einer anonymen Masse, und niemand kümmert sich, was mit ihnen geschieht. Aber Gott kennt sie beim Namen. Für ihn ist jeder Mensch einzigartig. Auch jeder und jede von uns heute. Er kennt meinen Namen und verleiht mir damit eine besondere Würde. Fürchte dich nicht, sagt Gott, ich habe dich erlöst. Ich habe dich bei deinem Namen gerufen.

Mir tut der Gedanke gut. Und es tut mir auch im Alltag gut, wenn jemand meinen Namen kennt. Wenn ich irgendwo noch ziemlich neu bin und jemand sich dann erinnert: „Karoline, oder?“, dann fühle ich mich gleich willkommen.

Jeder Mensch hat einen Namen. Und Gott kennt jeden einzelnen Menschen mit Namen. Deshalb finde ich es so wichtig, dass auch wir auch in der großen Masse immer wieder den einzelnen Menschen und sein Schicksal sehen – wie genau diesen einen kleinen Jungen, der Zahair hieß und der auf der Flucht im Mittelmeer ertrunken ist.

Und es ist auch gut, wenn wir einander beim Namen nennen. Und diejenigen, die uns neu begegnen, nach ihrem Namen fragen. Gerade auch die Leute, die uns erstmal fremd sind. Ja, es ist gut, sie mit Namen ansprechen und ihnen so zeigen: Ich sehe dich mit deiner ganz eigenen Würde. Du und ich – wir sind beide einzigartige Menschen. Und ich will ich dich mit Respekt behandeln.

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