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Inklusen – das sind die religiösen Extremsportler des Mittelalters. Ziel der Inklusen war es, die weltlichen Dinge auszusperren, um ganz bei Gott zu sein. Und dafür haben sie sich einsperren, meist sogar einmauern lassen - in Zellen, die oft an Kirchen angebaut waren.
Seit vier Jahren gibt es sie wieder - die Inklusen, in St. Gallen auf der Schweizer Bodensee-Seite. Dort haben sich auch dieses Jahr im Monat Mai Freiwillige je eine Woche lang in einem hölzernen Anbau an der Kirche St. Mangen einsperren lassen. Einer von Ihnen ist Christian Leutenegger. Jeden Morgen erhält er einen Kanister Wasser und ein Brot, später eine warme Mahlzeit. Und zwei Mal am Tag öffnet er eine Weile lang ein Fensterchen für Gespräche.
Das Vorbild von Christian ist die Heilige Wiborada, die vor über 1000 Jahren die erste Inkluse in St. Gallen war. Wiborada war eine sehr kluge Frau. Bei ihr kamen viele wichtige Persönlichkeiten vorbei, um sich Rat zu holen. Dabei soll sie nie viel gesagt, sondern eher zugehört haben.
Inkluse sein – das klingt schon ein bisschen verrückt. Das Wort kommt von „einschließen“ oder vielleicht auch „einkehren - bei sich selbst“. Viele Inklusen haben berichtet, dass die Zelle einen ganz schön verrückt machen kann. Sie kann aber auch zu dir selbst führen und sogar zu Gott.
Das Projekt hat mich neugierig gemacht, und deshalb bin mit dem Motorrad hingefahren. Etwas steif von der Fahrt stakse ich also um das Kirchlein. Ich entdecke den grob gezimmerten Anbau und klopfe vorsichtig an ein kleines Fenster. Und tatsächlich begrüßt mich Christian mit einem freundlichen „Grüezi“. Ich frage ihn, ob er sich einsam fühlt. Er lacht. „Nachts hört man durch die dünne Wand die Jugendlichen, die hier im Park trinken, kiffen und grölen. Und tagsüber klopfen so viele Menschen ans Fenster, die ein Anliegen haben.“ Christian erklärt, dass er die Anliegen aufschreibt und später ins Abendgebet einfließen lässt.
Ich frage, ob er denn vor lauter Gewusel und Fürbitten auch Zeit für sich selbst und Gott findet. Christian wird nachdenklich und sagt: „Ich begegne Gott anders, als ich es gedacht hätte, nämlich mitten im Betrieb der Stadt, in den vielen Gesprächen. Ich bin ganz bei den Menschen, die hier anklopfen. Und da ist für mich auch Gott zu finden.“
Sich einsperren lassen, um ganz bei sich zu sein, um bei den anderen zu sein, um mit Gott in Kontakt zu kommen. Das bestätigt, was viele spirituelle Persönlichkeiten immer wieder sagen: Der Weg zu Gott ist nicht leicht und führt immer durch die eigene Mitte.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=42359Es gibt ein verrücktes Kunstwerk, das mich ganz schön fasziniert. Der japanische Künstler On Kawara hat es im Jahr 1969 erschaffen. Er hat dafür zwei Millionen Jahreszahlen blockweise aufgeschrieben und in Buchform veröffentlicht. Leicht hat er es sich nicht gemacht, denn On Kawara hat die Jahreszahlen allesamt fein säuberlich mit der Schreibmaschine abgetippt.
Die zwei Millionen Jahreszahlen passen natürlich nicht in ein Buch. Es sind ganze 20 Bände geworden. Die ersten zehn hat der Künstler „Vergangenheit“ genannt, und sie reichen fast vom Jahr eine Million vor Christus bis ins Jahr 1969. Die zweiten zehn Bände heißen „Zukunft“. Dort sind von 1969 an eine Million Jahreszahlen in die Zukunft abgedruckt.
On Kawara hat sich sein ganzes Leben lang mit dem Thema „Zeit“ beschäftigt. Ihm war es wichtig, unsere menschliche Spezies in einen größeren Zusammenhang einzuordnen – das versucht ja auch Religion: das Angebot, sich an etwas Größerem festmachen zu können. Dieser größere Zusammenhang wurde auch bei Lesungen aus seinem Werk deutlich, die natürlich irre lange gedauert haben. Eigentlich ja stinklangweilig, aber jedes Mal ein Publikumsmagnet - ob auf der documenta in Kassel oder mitten auf dem Trafalgar Square in London. Irgendetwas hat die Leute wohl gefesselt an den vielen Jahreszahlen.
Mich faszinieren mehrere Aspekte bei dem Kunstwerk: Wenn ich mir vorstelle, in dem Buch zu blättern und die unendlich vielen Zahlen und Seiten zu sehen, dann wird mir bewusst, wie klein mein Menschenleben eigentlich ist, dass ich wirklich kein großes Rad in der Geschichte bin. Dieser weite Horizont kann mich erschrecken, aber auch entlasten: Wie unbedeutend wird vor dieser Weite ein misslungener Tag oder eine vertane Chance. Ich könnte nach vorne schauen und sehen, wie viele Tage und Chancen noch vor mir liegen.
Und dann wird mir auch bewusst, wie wichtig der jetzige Augenblick ist. Ich kann noch so viel nachdenken über das was passiert ist, und was wohl noch alles kommen wird. Ich lebe im Hier und Jetzt, also genau zwischen Vergangenheit und Zukunft, in diesem kleinen Moment zwischen gestern und morgen.
Und das ist eigentlich genau wie bei einem Brückentag. Der verbindet den gestrigen Feiertag mit dem morgigen Wochenende. Eine Pause sozusagen zwischen gestern und morgen, zwischen Vergangenheit und Zukunft. Und ein Tag vielleicht, um sich bewusst zu machen, wie einzigartig die Gegenwart ist: der heutige Tag, der jetzige Moment – einer von Millionen, und doch gerade der entscheidende.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=42358Mein Onkel Horst ist schon als junger Familienvater an Parkinson erkrankt. Jeden Tag müde und irgendwie kraftlos. Die Ärzte haben anfangs Psychopharmaka verschrieben, weil sie nicht wussten, was los ist. Es hat einige Jahre gedauert, bis endlich die richtige Diagnose feststand. Heilung war aber nicht möglich.
Und so hat für meine Tante Sabine eine Zeit begonnen, die Jahrzehnte dauern sollte. Sie hat meinen Onkel gepflegt. Tag für Tag, Jahr für Jahr. Mit allem, was dazugehört. Und „nebenbei“ hat sie die drei gemeinsamen Kinder großgezogen. Später hat sie eine Ausbildung zur Altenpflegerin begonnen. So konnte sie weiterhin Geld verdienen und Horst noch besser versorgen.
Vor einigen Jahren ist mein Onkel Horst dann gestorben. Seitdem lebt Sabine allein. Wenn sie auf diese gemeinsame Zeit zurückblickt, dann schwingt da auch ein wenig Stolz mit. „Ich habe durchgehalten“, sagt sie. Und sie weiß, wovon sie spricht. Sie hat sie erlebt: die vielen schwierigen Momente, die Erschöpfung, die Angst vor der Zukunft. Sie kennt auch Paare, bei denen die Kraft irgendwann nicht mehr gereicht hat, wo der pflegende Partner sagen musste: Ich kann nicht mehr. Sabine sagt: „Ich bin bei ihm geblieben – bis zu seinem Tod.“ Und heute blickt sie auf ihre große Familie: Kinder, Enkelkinder und die ersten Urenkelkinder.
Meine Tante ist christlich erzogen worden und Mitglied in der Kirche. Neulich haben wir uns darüber unterhalten, was das für sie bedeutet. Sie ist niemand, die es sich damit einfach macht. „Naja“, sagt sie über ihren Glauben, „da habe ich schon so meine Zweifel.“ Und „die Kirche hat mich auch schon oft genug enttäuscht.“
Und dann kam der Moment, der mich besonders berührt hat. Sie sagt: „Einen Glauben, den lasse ich mir nicht nehmen: Den Glauben an die Auferstehung. Denn Horst will ich wiedersehen. Den vermisse ich.“
Ihre Ehe ist ganz anders verlaufen, als sie es sich als junge Frau vorgestellt hat. Die Krankheit hat alles verändert. „Aber“, sagt sie, „diese Liebe spüre ich weiterhin. Und ich will im Himmel wieder mit ihm zusammen sein.“
Als Sabine das so gesagt hat – so schlicht, so klar –, da ist für mich alles gesagt. Ich hätte mit ihr noch lange diskutieren können. Aber wozu? In diesem einen Satz steckt so viel von ihr, von ihrem Leben, von ihrer Hoffnung. Und von einer großen Liebe - über den Tod hinaus.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=42287„Warum es die Welt nicht gibt.“ – das ist der Buchtitel des deutschen Philosophen Markus Gabriel. Die Welt gibt es nicht? Wie meint er das? Natürlich gibt es Tische, Bäume, uns Menschen. Gabriel meint etwas anderes: Es gibt nicht die eine große, allumfassende Welt, über die wir als Ganzes nachdenken und sie verstehen könnten.
Stattdessen, so Gabriel, gibt es unzählige einzelne Bereiche, „Sinnfelder“, wie er sie nennt. Wir können zum Beispiel über gesunde Ernährung nachdenken – das ist ein Feld. Oder über die Zukunft des Verkehrs – das ist ein anderes Feld. Aber diese Felder, sagt Gabriel, fügen sich nicht zu einem großen Ganzen zusammen. Aus all dem, lässt sich keine große „Sinn-Suppe“ kochen. Es gibt keine übergeordnete Beschreibung, keine „Weltformel“, die alles erklärt. Auch die Naturwissenschaften helfen nur teilweise weiter. Deshalb sein provokanter Satz: Die Welt gibt es nicht.
Wenn das stimmt, dann haben Philosophie und Theologie jahrtausendelang die falschen Fragen gestellt. Warum sind wir hier? Wozu gibt es die Welt? Laut Gabriel führen uns diese Fragen nicht weiter, weil es die „Welt“ so gar nicht gibt. Ein radikaler Gedanke, der mit großen Denkern wie Platon, Augustinus oder Hegel bricht.
Sinn finden wir immer nur in Teilbereichen: Was ist mir in meiner Partnerschaft wichtig? Was in meinem Glauben?
Ich gebe zu: Als Christ irritiert mich das. Denn versucht nicht gerade die Religion zu erklären, warum es die Welt gibt. Der Glaube an Gott geht über den Alltag hinaus. Als Christ frage ich nach dem größeren Zusammenhang, nach Gott als dem Grund und Ziel von allem.
Markus Gabriel sagt nicht, dass es Gott nicht gibt! Er stellt fest: Wenn viele Menschen an Gott glauben, wenn dieser Glaube ihr Leben prägt, Trost spendet, Gemeinschaft stiftet – dann entsteht daraus etwas sehr Reales, etwas Wirksames. Dann gibt es diesen Gott im Sinnfeld des Glaubens.
Eine ganz neue Philosophie! Markus Gabriel traut sich was und will die Philosophie wieder zur Königin der Wissenschaften machen. Ich bin fasziniert. Was wäre, wenn die Theologie sich daran ein Beispiel nimmt? Wenn wir Gott neu denken? Kann Gott sich verändern oder „lernen“? Welche neuen Wege gibt es, um Gott tiefer zu verstehen? Denn Philosophie und Theologie sind wie zwei Partner beim Tanz. Wenn sich die eine regt, kommt auch der andere in Bewegung.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=42286Auf der Autobahn habe ich einen Krankenwagen gesehen, der ein ukrainisches Kennzeichen hatte. Da bin ich richtig zusammengezuckt. Ich musste an die Menschen denken, die nach Deutschland gebracht werden, um medizinische Hilfe zu bekommen. Viele Soldaten, aber auch Zivilisten: Frauen, Männer, Kinder, die Opfer eines der vielen Angriffe wurden. Weit über tausend Menschen hat Deutschland seit Kriegsbeginn hier versorgt.
Der Krieg in der Ukraine dauert nun schon so lange. Und ja, ich gebe es zu, ein Stück weit ist er für mich Alltag geworden. Ich lese noch die Schlagzeilen, aber bin schon abgestumpft. Katastrophe reiht sich an Katastrophe.
Wenn ich Ukrainerinnen oder Ukrainer treffe, dann rede ich mit Ihnen lieber über das Thema Familie oder über die Arbeit. Zum Beispiel mit Maksym, den ich beim Fußball kennen gelernt habe. Auf den Krieg spreche ich ihn lieber nicht an. Da wüsste ich nicht, wie ich reagieren soll, wenn er anfängt zu erzählen, was er erleben musste.
Aber der ukrainische Krankenwagen auf der Autobahn ruft mir in Erinnerung: Dort, nicht so weit weg, leiden Menschen. Ganz konkret.
Ich erinnere mich an die Zeiten, da dachte ich, dem Pazifismus gehört die Zukunft. Dass wir in Europa dazu gelernt hätten. Dass Menschen doch nicht so verrückt sein können, wieder aufeinander zu schießen und Grenzen gewaltsam zu verschieben. Über Friedensethik wollte ich diskutieren – das Thema hat mich interessiert.
Aber jetzt? Gibt es auch eine Kriegsethik? Gibt es ein richtiges Handeln inmitten von Zerstörung und Tod? Mehr Waffen, mehr Soldaten? Wenn so viele Menschen sterben, verletzt werden, traumatisiert sind?
Eines weiß ich ganz sicher: Es ist richtig, den Verletzten zu helfen. Ihnen beizustehen, ihre Wunden zu versorgen, ihnen Schutz zu bieten. Ja, das kostet Geld. Es fordert Ressourcen in einem Gesundheitssystem, das ohnehin oft an seine Grenzen stößt. Und doch: Ich bin dankbar, dass wir das tun.
Mein Dank gilt all jenen Menschen, die sich hier engagieren. Den Ärztinnen und Pflegern, den Rettungskräften, den Organisatoren im Hintergrund, all denen, die diese Kriegsverletzten versorgen und sie wieder hoffen lassen
Dieser Krankenwagen ist für mich ein Symbol. Ein Symbol für das Leid des Krieges, das bis zu uns reicht. Aber auch ein Symbol für die Hilfe, die möglich ist.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=42285Ob ein Mensch als Erwachsener in der Bibel liest, entscheidet sich vor allem zwischen seinem 4. und 14. Lebensjahr. Dabei lesen heute immer weniger Leute in der Bibel. Am häufigsten noch Menschen ab 70. Und Männer mehr als Frauen. Das habe ich auf einer Tagung erfahren. Dort wurde eine wissenschaftliche Untersuchung zur Nutzung der Bibel in Deutschland vorgestellt. Fast alle, die befragt wurden – Menschen aller Konfessionen und Überzeugungen - halten die Bibel für wichtig. Obwohl nur noch die Hälfte der Menschen überhaupt eine besitzt. Ein Drittel der Menschen schaut mindestens noch einmal im Jahr hinein. Immerhin!
Natürlich sind solche Untersuchungen immer mit Vorsicht zu genießen. Vor allem, wenn darum geht, sie zu interpretieren. Aber ich mache mir schon meine eigenen Gedanken, warum gerade die Menschen über 70 am meisten in der Bibel lesen. Unter anderem sicher deshalb, weil sie in einer Zeit aufgewachsen sind, in der die Bibel und die Kirche noch eine größere Rolle gespielt haben. Vielleicht hängt das auch noch mit den kleinen Lebensbilanzen zusammen, die mit zunehmendem Alter mehr werden. Ich bin dankbar, dass sich in meinem Leben sehr viel Schönes ereignet hat. Und erinnere mich an Bewahrung und an Glück. Sucht nach einem Sinn Umgang mit Krisen, Brüchen, die es in jedem Leben gibt. Da liegt der Griff zur Bibel im Regal womöglich wieder näher. Gerade auch für Männer, die diese Themen vorher womöglich erfolgreicher verdrängt haben.
Es könnte aber noch einen weiteren Grund dafür geben, dass ältere Menschen eher in der Bibel lesen. Der hängt mit dem anderen spannenden Ergebnis der Untersuchung zusammen. Dass sich meistens schon zwischen dem 4. und 14. Lebensjahr entscheidet, ob jemand in seinem späteren Leben auch zur Bibel greift. Die Mehrzahl der Menschen, denen die Bibel heute etwas bedeutet, hatten in dieser frühen Lebensspanne zum ersten Mal etwas mit der Bibel zu tun. Das war bei denen, die heute als ältere Menschen in der Bibel lesen, sicher eher der Fall als bei den Kindern, die heute zwischen 4 und 14 Jahre alt sind. Da steckt also eine ganz schön große Herausforderung drin. Gerade auch für Eltern und Großeltern. Nämlich die, etwas weiterzugeben von dem, was anderen ihnen als Kinder vermittelt haben.
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Die Ergebnisse der Untersuchung der Universität Leipzig kann man im Internet finden:
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In einem großen, wassergefüllten Brunnenbecken steht ein Vulkan. Um den Krater herum tanzen fünf bronzene, beinahe lebensgroße Figuren. Eine hat ein Mikrophon in der Hand und singt. Am Fuß des Vulkans steht ein Klavier aus Granit. Der Klavierspieler mit Hufen an den Füßen. Mitten im Wedding in Berlin habe ich diese Skulptur entdeckt. Sie hat mich gleich in ihren Bann gezogen.
Ich hab‘ mich dann kundig gemacht. Seit 1988 gibt es diesen Brunnen. Die Skulptur in seiner Mitte heißt „Tanz auf dem Vulkan“. Entworfen hat sie die Künstlerin Ludmilla Seefried-Matejkova. Die Skulptur im Brunnen zeigt ihren Blick auf die Lage der Menschheit: Sie tanzen und feiern. Und nehmen gar nicht wahr, wie nah sie am Abgrund stehen. Die Figur am Klavier, die die Gruppe so sorglos leben und tanzen lässt, ist ein Satyr – ein menschlich-tierisches Mischwesen aus der griechischen Mythologie. Aus dem Gefolge des Dionysos. Wie ein Verführer wiegt er die Menschen in Sicherheit. Und lässt sie dem Abgrund entgegentaumeln.
Und wohl gemerkt: Der Brunnen ist schon 40 Jahre alt! Heute haben wir uns noch viel näher an den Abgrund herangetanzt. Schade, habe ich gedacht, dass man an einem Kunstwerk nichts verändern kann. Wäre mir das erlaubt, würde ich es gerne weitergestalten. Auf der anderen Seite des Vulkans, dem Klavierspieler gegenüber, würde ich einen Engel platzieren. Er ist dabei, ein Netz über den Krater des Vulkans zu spannen. Die Situation der Menschheit ist nicht einfacher geworden. Aber das Netz würde verhindern, dass die Tanzenden in den Krater hineintaumeln.
Meinen Glauben verstehe ich wie dieses Netz. Er ändert zunächst nichts am Zustand der Welt. Aber er ahnt und hofft: Ich bin gehalten. Wenn ich in die Irre gehe. Wenn ich taumle. Wie von einem unsichtbaren Netz. Darauf verlasse ich mich. Wie die Menschen, die in der Geschichte nach der Sintflut der Zusage Gottes vertrauen: „Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.“ Ich verstehe das nicht als Beschwichtigung. Sondern als Angebot, in meinem Leben mit diesem Netz zu rechnen. Und mit der Möglichkeit, dass am Ende Gott am Klavier sitzt. Und uns nicht dem Verderben, sondern dem Leben entgegentanzen lässt.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=42342Ich sitze im Bahnhof von Erfurt am Gleis. Eine Frau setzt sich neben mich. Schnell kommen wir ins Gespräch. Ich erwarte den üblichen kleinen Small Talk. Aber das Gespräch wird sehr schnell, sehr ernsthaft. Und mit einem Mal bringt mir die Frau in wenigen Minuten ihre ganze Lebensgeschichte zu Gehör. Es ist die schnellste Lebensbeichte, die ich je erlebt habe. Sie gipfelt in dem Satz: „Die letzten sieben Jahre waren für mich verlorene Jahre.“ Der Frau ist wirklich viel weggebrochen in den letzten Jahren. An materieller Sicherheit. Und an persönlichen Beziehungen. Zu ihrem Mann. Und ihrem Sohn.
Sieben verlorene Jahre? Sofort muss ich an die sieben mageren Jahre in der biblischen Josephsgeschichte denken. Da sagt Joseph dem ägyptischen Pharao voraus, dass auf sieben reiche Erntejahre sieben schlechte, magere Jahre folgen werden. Mit der Konsequenz, dass die Menschen in den sieben fetten Jahren Vorräte anlegen können, von denen sie in den sieben mageren Jahren leben können.
Genau darum war’s mir in dem Gespräch mit der Frau am Gleis gegangen. Mit ihr auf ihre Ressourcen zu schauen, auf die Vorräte aus früheren Jahren, von denen sie jetzt noch zehren könnte. Ganz ohne entlastende Wirkung schien unser Turbo-Austausch dann auch nicht gewesen zu sein. Voll dankbarer Worte hat mich meine Gesprächspartnerin ziehen lassen. Ich fuhr davon. Sie blieb am Gleis zurück. Was für intensive Minuten waren das. Die Bank am Gleis als kurzfristig eingerichteter Beichtstuhl.
Sieben Lebensjahre von dem vernichtenden Urteil zu befreien, sie seien am Ende nur verlorene Jahre gewesen. Ganz fremd ist mir dieses Gefühl nicht. Auch ich kenne Tage, die mir im Rückblick als verloren erscheinen. Wenn ich am Ende eines Tages feststelle, dass das, was ich mir vorgenommen hatte, nicht gelungen ist. Aber dann entdecke ich manchmal doch noch einen Weg, dem Tag etwas abzugewinnen. Auch wenn einiges anders gelaufen, als ich es mir vorgestellt habe. Aber die anderen Spuren, auf die er mich geführt hat, haben womöglich auch ihren Sinn gehabt. Und ein schlechter Tag ist leichter zu ertragen, wenn ich mich erinnere, wie gut der letzte gewesen ist.
Ich müsste, so denke ich, von den Tagen, die mich zufrieden zurücklassen, immer auch etwas in meine kleinen Lebensscheunen einlagern. Um andere Tage besser überstehen zu können. Damit kein Tag ein verlorener bleiben muss.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=42341„Was hilft aller Sonnenaufgang, wenn wir nicht aufstehen?“ Eine berechtigte Frage, die uns heute Morgen der Physiker und Schriftsteller Georg Christoph Lichtenberg stellt.
Morgens aufzustehen, das fällt ja nicht immer ganz leicht. Im Sommer geht es noch, finde ich, wenn es morgens schon hell ist. Aber im Winter, im Dunkeln, ist das Aufstehen für mich eine größere Herausforderung.
Wie auch immer: Aufstehen, meint Lichtenberg, der ein aufgeklärter Kopf war, ist in jedem Fall mehr, als sich nur aus dem Bett heraus zu quälen. Aufstehen betrifft den ganzen Menschen: Leib und Seele, Herz und alle Sinne.
Darum ist Aufstehen auch ein wichtiges Thema der Religion und des Glaubens. Es wird erzählt, dass Jesus immer wieder die Hand eines Menschen ergriffen hat und ihm oder ihr gesagt hat: „Stehe auf!“ Zum Beispiel der sterbenskranken Tochter des Jairus. Oder einem Gelähmten in Jerusalem. Dem sagt er: „Nimm dein Bett und geh los.“
Jesus selbst hat es vorgemacht, an Ostern. Da hat Gott ihn auferweckt aus dem Tod. Auferstehung! Ich glaube, so mancher Aufstand in späteren Zeiten erklärt sich von daher. Dass Menschen dagegen aufstehen, wenn andere niedergedrückt und klein gehalten werden.
Aber ich muss mich auch selbst fragen. Natürlich habe ich mich heute Morgen aus den Federn erhoben und bin aus dem Bett gesprungen. Aber bin ich auch wirklich aufgestanden? Mit allem, was mir gegeben ist an Begabung, an Lebendigkeit, an Ausstrahlungskraft? An Fähigkeit, auch andere zum Aufstehen zu ermutigen?
Das Aufstehen beginnt zwar am Morgen, aber letztlich ist es eine ständige Aufgabe. Nicht liegen bleiben auf dem Bett meiner Enttäuschungen. Sich nicht befreunden mit den Trostlosigkeiten, die mir aus den Nachrichten entgegenschallen. Sich nicht wegdrehen oder einkapseln nach einer Kränkung.
„Was hilft aller Sonnenaufgang, wenn wir nicht aufstehen?“ Jesus sagt: „Mache dich auf und geh los!“ Er sagt es zu allen, die sich daran gewöhnt haben, liegenzubleiben. Nimm das, worauf du meinst, festgelegt zu sein. Fasse Mut und geh los!
Vielleicht ergreifst du die Hand, die sich nach dir ausstreckt und wagst so die ersten Schritte in den jungen Morgen.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=42318„Raus aus dem Bett, und mit gespitztem Blei das wabernde Nichts lichten“. Diesen Appell an sich selbst hat Günter Grass einmal notiert. Und seinen Satz betitelt mit „Nach endloser Qual“.
Ich stelle mir vor, dass der Schriftsteller schlecht geschlafen hat. Alles Mögliche ist ihm in der Nacht durch den Kopf gegangen. Vieles hat ihn gequält, was im Dunkel der Nacht bedrohlicher aussieht als am Morgen.
Darum begrüßt er diesen Moment: „Raus aus dem Bett, und mit gespitztem Blei das wabernde Nichts lichten“. Für Grass als Schriftsteller ist das eine passende Methode, um Klarheit in seine Gedanken zu bringen: das Schreibwerkzeug zur Hand zu nehmen und aufzuschreiben, was ihn beschäftigt.
Ich kenne das auch: Schlecht geschlafen. Schlecht geträumt. Der neue Tag sieht wenig verheißungsvoll aus. Und auch mir helfen Worte, um das wabernde Nichts zu lichten. Ich schreibe sie nicht auf, ich lese sie in der Bibel. So ein Wort kann meinen Horizont weiten und meinen Alltag heller machen. Und nimmt mir dann die Sorge vor dem, was alles kommen könnte.
Denn auch die Bibel beginnt ja mit dem Gedanken, dass Gott ganz am Anfang Licht und Ordnung bringt in „das wabernde Nichts“. Auf den ersten Seiten der Schöpfungsgeschichte lese ich, wie in eine ungeordnete und chaotische Welt Licht, Klarheit und Schönheit kommen.
Das ist, was der Glaube kann: dem Leben Klarheit und Struktur geben. Viele Menschen beginnen darum den Tag mit einer stillen Zeit, die freigehalten ist von allem, was später kommen wird.
Der Theologe Bonhoeffer hat geschrieben: „Jeder Morgen ist ein neuer Anfang unseres Lebens. Mitten in einem Leben mit Gott täglich ein neues Leben mit ihm beginnen zu dürfen, das ist das Geschenk, das Gott mit jedem neuen Morgen macht.“
Mit dieser Gewissheit will ich versuchen, dem wabernden Nichts entgegenzutreten. Will unterscheiden zwischen dem, was lebensdienlich ist und dem, was mir und anderen schaden kann. Will auch dankbar zurückschauen auf das, was gestern gelungen ist und was gut war. Und daraus die Zuversicht schöpfen, dass mir Gott auch für den heutigen Tag das Quantum an Kraft gibt, das ich für den neuen Tag brauche.
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