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23SEP2023
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Ich liebe den Herbst! Er hat sonnige Tage. Aber die Wärme der Sonne ist wohltuend und erträglich. Die Blätter haben ihr Grün meist schon eingebüßt. Aber bunt sind sie ja noch viel schöner. Irgendwann wird die Kälte des Winters kommen. Aber bis dahin ist es zum Glück noch lang.

Seit meiner Kindheit hat es mit dem Herbst für mich etwas Besonderes auf sich.  Er ist nicht nur der Name einer Jahreszeit. Er ist auch mit einem Tätigkeitswort verbunden. Herbsten, das bedeutet, dass die Trauben in den Weinbergen geerntet werden. Im Moment wird wieder geherbstet! Niemand wintert oder sommert. Aber „herbsten“ – das hat sich als Tätigkeitswort durchgesetzt.

Herbstzeit ist Erntezeit. Der beginnende Herbst – er könnte auch für mich als Mensch, der keinen eigenen Weinberg besitzt, den Einstieg in eine neue Phase im Jahr bedeuten. Ich blicke zurück auf den Anfang des Jahres. Und ich schaue, wo sich vielleicht bald etwas ernten lässt, von dem, was ich gesät und bearbeitet habe. In einer Beziehung. Im Beruf. In einem Projekt, in dem ich mich ehrenamtlich engagiere. Manches ist schon zur Ernte reif. Anderes braucht noch etwas Zeit.

In der Bibel ist das Ernten ein ganz zentrales Thema. Von Oliven und Trauben wird erzählt, die zur Ernte anstehen. Von den reifen Ähren, die geschnitten werden müssen. Im Herbst kommts zum Schwur. Da zeigt sich, was die Menschen zuvor investiert haben. „Der Faule pflügt nicht mehr im Herbst. Er schaut nach der Ernte – und es ist nichts da!“ – so heißt es in einer Sammlung weisheitlicher Sprüche (Sprüche 20,4). Die Versäumnisse des Frühjahrs und des Sommers kommen im Herbst zum Tragen. Aber genauso der Lohn für unermüdlichen Einsatz der letzten Monate.

Ich spüre: Mehr als andere Zeiten wird der Herbst für mich auch zum Bild eines Menschenlebens. Vor allem, wenn’s darum geht zu prüfen, was bleibt. Leben zwischen den Zeiten. Zwischen Sommer und Winter. Zwischen Aufkeimen und Vergehen. Zeit, mit dem, was ich ernten kann, etwas anzufangen, entscheidende Zeit, die mir gewährt wird. Damit ich auch in meinem Leben „herbsten“ kann. Ich hoffe, da lässt sich dann auch einiges an guten Lebensfrüchten ernten. Der heutige Herbstanfang erinnert mich daran.

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22SEP2023
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„Kennst du mich noch?“ Immer wieder habe ich solche Begegnungen, die mit dieser Frage beginnen. Ich treffe auf Menschen, mit denen ich in der Schule war. Die ich aus dem Studium kenne. Oder mit denen ich sonst irgendwie zu tun hatte. Auch wenn es manchmal ein paar Sekunden dauert - die meisten erkenne ich dann doch auch wieder.

Erst vor kurzem habe ich wieder jemand getroffen, den ich vor vierzig Jahren das letzte Mal gesehen habe. Und trotzdem war sofort wieder eine Nähe da. Erstaunlich, wie sich die Intensität einer Beziehung auch über einen langen Zeitraum hält.

Über diese vierzig Jahre muss ich seither immer wieder nachdenken. Vierzig Jahre, denke ich – das war doch die Dauer der Wüstenzeit für die Israeliten, der Zeitraum zwischen ihrer Zeit als Sklaven in Ägypten und dem Einzug in ihre neue Heimat, die ihnen wie ein gelobtes Land erscheint. Der biblische Vergleich hinkt natürlich etwas. Hinter mir liegen doch keine Wüstenjahre. Und die Gegenwart ist auch nicht das Gelobte Land. Aber was richtig daran ist: Irgendwann ist eine bestimmte Phase unwiderruflich vorbei. Aufgaben haben sich verändert. Orte, an denen sich mein Leben abgespielt hat. Rollen, die mir zugeschrieben wurden. Aber in allen Brüchen gibt es auch Linien, die weiterlaufen. Der Gott der Sklaven, der Gott der Wüstenzeit und dann auch im neuen gelobten Land – es ist derselbe. Die Beziehung bleibt – mitten in aller Veränderung.

In den meisten Fällen freue ich mich deshalb über die Begegnungen, die mit dem „Kennst du mich noch?“ beginnen. Sie bestätigen mich: Die Beziehung, die einmal war, hat sich nicht einfach aufgelöst. In meinem Kopf, in meinem Gehirn, in meinem Herzen bleibt etwas eingeschrieben. Linien, die unbewusst weiterlaufen. Auch wenn sie manchmal unsichtbar sind.

So kann ich mein Leben in aller Bruchstückhaftigkeit als ein Ganzes sehen. Und in dem, was mein Leben dann zu einem Ganzen macht, sehe ich für mich Gott am Werk. Und Gottes Zusage: „Bis in euer Alter bin ich derselbe!“ (Jesaja 46,4) Gott ist für mich mein bleibendes Gegenüber. In allen Lebensphasen.  Selbst dann, wenn dieses Gegenüber für mich manchmal ganz verschwindet. So wie in andere Beziehungen eben manchmal auch. Mit einem Mal taucht dann Gott ganz überraschend wieder auf: „Kennst du mich noch?“ Dann schaue ich womöglich vierzig Jahre zurück. Vor allem schaue ich zuversichtlich nach vorne.

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21SEP2023
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Ich bin nicht schwindelfrei. Und bei anstrengenden Bergtouren komme ich schnell an meine körperlichen Grenzen. Aber ich beneide die Bergsteiger, die sich in den Bergwelten wie in ihrem Zuhause bewegen. So wie den jungen Mann, den meine Frau und ich unlängst als Anhalter mitgenommen haben. Spät am Vorabend, erzählt er, fast um Mitternacht, war er bei einer Berghütte angekommen. Um drei Uhr in der Frühe war er am Vortag mit zwei anderen Bergsteigern aufgebrochen. Drei Gipfel hintereinander haben sie dann bestiegen. Auf einem Grat, den in diesem Jahr bisher noch niemand vorher gegangen war. Der Stolz steht dem jungen Mann ins Gesicht geschrieben, als er davon berichtet.

Ob das nicht doch sehr gefährlich gewesen sei, habe ich ihn gefragt. „Ich glaube, die Fahrt hier auf der Autobahn ist viel gefährlicher!“, gab er zur Antwort. „Man muss sich halt nur immer gut absichern und darf keine Angst haben.“ Und er hat dann noch hinzugefügt: „Das Wichtigste ist nicht der Umgang mit dem Berg und seinen Herausforderungen. Das Wichtigste passiert im Kopf. Ich muss immer präsent sein. Und hellwach. Damit ich genau weiß, was als Nächstes zu tun ist. Und: Wir müssen uns als Gruppe blind aufeinander verlassen können.“

Die Begeisterung des jungen Bergsteigers hat für mich fast religiöse Dimensionen. Ergriffen wirkt er, wenn er von seinen Erfahrungen erzählt.  Darum wundert es mich auch nicht, dass in der Bibel immer wieder die Berge zum Ort der Gottesbegegnung werden. Auf dem Berg, so lesen wir, erhält Mose die Tafeln mit den Zehn Geboten. Und ein in Bedrängnis geratener Mensch betet: „Ich richte meine Augen hinauf zu den Bergen! Von wo anders soll ich sonst Hilfe erwarten? Meine Hilfe kommt doch von Gott, dem Schöpfer!“ (Psalm 121,1+2)

Die gewaltigen Bergmassive, ihre Schönheit, zugleich aber auch ihre riesigen Ausmaße – sie spiegeln für diesen Menschen die Größe und Erhabenheit Gottes wider. Da nehme ich als Mensch meine eigene bescheidenen Größe wahr. Und ein Gefühl der Ehrfurcht. Das hilft mir auch, wenn ich mich auf den Weg mache, um Gott zu suchen. Ich nehme mir vor, andere auch etwas von dieser Begeisterung spüren zu lassen – so wie der junge Mann. In meinem Glauben muss ich nicht einmal schwindelfrei sein. Es reicht, wenn ich mich darauf verlasse, dass da jemand ist, der mich hält.

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20SEP2023
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„In unserem Flüchtlingslager habe ich einen Mann gesehen, der hat ein Kreuz um den Hals getragen. Ich hab ihn angesprochen. Er war sehr freundlich und hat uns geholfen. Wegen ihm haben wir es geschafft“, sagt ein Iraner in einem Interview.

Da war ein Mann, der hat ein Kreuz getragen. Offenbar hat sich der Mann auf der Flucht was erwartet von dem Mann mit dem Kreuz, genau weil der Christ war. Mich freuen diese Sätze. „Dazu ist Kirche doch da!“, denke ich.

Wenig später lese ich von evangelikalen Gruppierungen in den USA. Ihnen sei Jesus zu links und liberal. Predigten über Jesus seien nicht stark und konservativ genug (FR vom 23.08.). Sie zensieren auch Jesus-Worte: Die andere Wange hinhalten, Feinde lieben – alles, was irgendwie mit dem Kreuz zu tun hat, passt nicht in ihr Weltbild und wird weggekürzt.

Originäre Jesusworte als Teil christlicher Cancel-Culture, das finde ich pikant.

Jesus hat es den Leuten tatsächlich noch nie leicht gemacht. Viele Jesusforscher sagen: Je unkonventioneller und anstößiger Sätze sind, die die Bibel Jesus in den Mund legt, desto wahrscheinlicher ist es, dass es sich um echte Jesusworte handelt. Ihm solche Sätze anzudichten hätte sich keiner getraut.

Christinnen und Christen kommen um den historischen Jesus nicht herum – und der hat immer wieder den Rahmen gesprengt, in den man ihn stecken wollte. Genauso wie das Kreuz. So angepasst es als Halskette daherkommen mag: Es ist alles andere als das. Schon Paulus nennt das Kreuz einen Skandal. Es bricht mit der Logik von Gewalt und Gegengewalt – wie Jesus auch in seinen Worten damit gebrochen hat.

Manchen passt das nicht. Vor allem denen, die die gesellschaftliche Ordnung gerne hätten, wie sie immer schon war: Die Reichen oben, die Armen unten. Die Einheimischen oben, die anderen irgendwo – oder noch besser nirgendwo.

Wenn Menschen sich bewegen lassen von dem, was Jesus gesagt hat, dann rückt der einzelne Mensch in den Blick. Wie der Mann mit dem Kreuz sich hat berühren lassen von dem, was ihm begegnet ist.

Eine Kollegin hier in Heidelberg ist für mich auch so eine Person. Jede Woche arbeitet sie im Ankunftszentrum für Geflüchtete. Gerade organisiert sie ein Bildungsangebot für Kinder. Erwachsene versorgt sie mit Kleidung, Hygieneartikeln – und Hoffnung. Auch über sie sagen bestimmt einige: „Sie war sehr freundlich und hat uns geholfen – wegen ihr haben wir es geschafft.“ Genau dazu ist Kirche doch da!

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19SEP2023
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Diesen Sommer habe ich ein Fotobuch erstellt. Zum ersten Mal eine gedruckte Variante: Schöne Momente des Sommers, Wandern in den Alpen, ein Familienfest – alles ist festgehalten zum Anfassen und Aufschlagen. Wenn ich das Büchlein zur Hand nehme, spüre ich, wie sehr die Erinnerungen zu mir gehören – egal, was im Alltag gerade los ist.

Dieses Lachen, jenes Glas Sekt, „weißt Du noch?“ – schöne Augenblicke werden dadurch so wertvoll, dass sie einmalig sind. Ihren Geschmack und ihren Geruch, ihr Licht und ihren Klang auskosten und genießen – dabei helfen mir die Bilder.

„Was bleibt ist die Erinnerung“ heißt es in oft in Todesanzeigen oder in Trauergesprächen. Manchmal schwingt darin etwas Antireligiöses mit – so als würde eine religiöse Sicht der Dinge bloß davon ablenken wollen, dass das Leben endlich ist und manches unwiederbringlich vorbei.

Bei Navid Kermani habe ich gerade schöne Sätze dazu gelesen: „Wir sind sterblich und damit menschlich, aber in unserer Einzigartigkeit – ja, ausgerechnet in unserer Einzigartigkeit und Unverwechselbarkeit und Undwiederholbarkeit – sind wir Teil einer unendlichen Vielfalt und damit göttlich.“ (Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen, 14) Ja, denke ich: Diesen einen Augenblick gibt es nur in meinem Leben. Diese eine Berührung passiert nur zwischen mir und dir. Die Eindrücke meines Sommers sind der eine kleine Ausschnitt aus einer unendlichen Zahl von Konstellationen, die möglich gewesen wären. Geworden sind es diese. Meine.

Weil es so schön war, bin ich dankbar dafür. Manchmal staune ich darüber. Im Danken und im Staunen binde ich das, was war, zurück an die unendliche Vielfalt, an Gott. Das ist der Wortsinn von Religion: Religio, das heißt im Lateinischen zurückbinden, anbinden – an etwas Größeres. Darin steckt das Vertrauen darauf, dass auch das Größere sich an uns gebunden hat.

Was bleibt ist die Erinnerung. Ja, stimmt. Aber nicht bloß meine. Was bleibt ist unsere und Gottes Erinnerung. Er kennt die unendliche Vielzahl seiner Möglichkeiten und gibt keine davon verloren. Er bewahrt sie in sich und hat damit auch für meine Erinnerungen und Erfahrungen Raum. Der Gedanke hilft mir, wenn ich Menschen beerdigen muss, an die sich keiner erinnern wird. Es hilft mir auch, wenn ich daran denke, dass in nur wenigen Generationen die Erinnerung an jeden von uns verblasst sein wird.

Aber das ist weit weg – erst einmal freue ich mich an meinem Fotobuch und wandere in Gedanken noch einmal zurück in einen herrlichen Sommer. Was bleibt ist die Erinnerung.

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18SEP2023
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Manchmal bügele ich Geschirrhandtücher. Dann wird es kritisch. Das passiert an Tagen, da wünsche ich mir mein Haus ordentlicher, als es ist, und die Welt übersichtlicher. Ich wünsche mir Ordnung – und wenn es die schon im großen Ganzen nicht gibt, dann bitte wenigstens in meinem Küchenschrank.

Den Wunsch, die Welt möge einfacher sein als sie ist – den nehme ich zur Zeit vielerorts wahr. Manche hören einfach keine Nachrichten mehr. Andere stürzen sich in eine kleine, überschaubare Aufgabe. Ich habe den Eindruck: Auch wenn Menschen plötzlich rechtspopulistisch wählen, steckt dahinter – neben manchem anderen – ein Wunsch nach Klarheit. Aber die hat dann einen hohen Preis.

Das, was die Welt so kompliziert macht, blenden Populisten nämlich aus. Als wäre alles in Wirklichkeit ganz einfach. Oder am besten so wie früher. Kein Wort fällt dann zu dem, was früher gar nicht besser war. Manchmal wird die Suche nach einer ewigen und einfachen Ordnung geradezu gefährlich. 

Die Theologie hat damit ihre Erfahrungen gemacht. Anfang des 20. Jahrhunderts war die Rede von „Schöpfungsordnungen“ unter lutherischen Theologen beliebt. Ehe, Obrigkeit und Kirche galten als in die Grundordnung der Welt eingeschrieben. Im Nationalsozialismus haben manche Theologen die Zahl der Schöpfungsordnungen dann erweitert – um so etwas wie Volk und Rasse. Biblisch findet sich das nicht. Aber viele Menschen haben es geglaubt.  Was gottgegeben schien, entpuppte sich auf fatale Weise als willkürlich gesetzt. Auf eine Schöpfungsordnung, auf der ich mich ausruhen kann, hoffe ich also lieber nicht.

Trotzdem: Die biblische Schöpfungsgeschichte spricht mich gerade dadurch an, dass sie davon erzählt, wie Gott die Welt ordnet: Er scheidet Licht und Finsternis, Himmel und Erde, Wasser und Land. Aus Tohuwabohu entsteht eine Ordnung, die Grenzen hat und gut tut. Sie dient dem Leben. Was dort erzählt wird, setzt einiges an Kreativität voraus – und es setzt große Kreativität frei. Kein Wunder also, dass die Wörter Schöpfung – „creatio“ – und unsere Kreativität in einem direkten Zusammenhang stehen. Gottes Schöpferhandeln ist kreativ: Es erschafft Neues – und es ermutigt uns Menschen kreativ zu sein.

Meine liebevoll gebügelten Geschirrhandtücher – sie geben mir eine Pause, Klarheit und Ordnung. Damit helfen meiner Kreativität auf die Sprünge. Und die wird gerade gebraucht – meine, Deine, Ihre. Damit die Welt wieder etwas mehr in Ordnung kommt. Die Handtücher sind aber bloß Mittel zum Zweck. Man sollte sie nicht zum allgemeinen Gesetz machen wollen. Auch wenn das früher immer so war.

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16SEP2023
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Ich liebe die Comics über den kleinen Jungen Calvin und seinen Stofftiger Hobbes. Ein Thema, das in den kurzen Bildergeschichten immer wieder auftaucht, sind Monster, die abends oder nachts in sein Zimmer kommen. In einer dieser Geschichten sitzt Calvin auf seinem Bett und fragt: „Sind heute Nacht irgendwelche Monster unter meinem Bett?“ Da hört er eine unbekannte Stimme unter dem Bett: „Nein, nö, nein!“. Und Calvin fragt weiter: „Falls irgendwelche Monster unter meinem Bett wären, wie groß wären sie dann?“ Und die Stimme unter dem Bett antwortet: „Sehr klein, geh jetzt schlafen!“. Daraufhin ruft Calvin laut nach seiner Mama.

Calvin ist mir sehr sympathisch, weil auch ich nachts manchmal Besuch von Monstern bekomme, die es eigentlich gar nicht gibt. Oder besser gesagt, die in Wirklichkeit keine Monster sind, aber nachts als solche daherkommen. Es sind Gedanken an Dinge, die mich beschäftigen und am Einschlafen hindern: ein Telefonat, das ich schon längst hätte führen sollen; ein Abgabetermin, der näher rückt, die Steuererklärung, die noch nicht gemacht ist.

Wenn ich mich selbst frage, ob das wirklich Monster sind, dann lautet die Antwort natürlich: Nein. Aber nachts überzeugt mich diese Antwort nicht immer. Wenn ich mich dann frage, wie groß diese „Monster“ sind, dann weiß ich eigentlich: sie sind nicht so groß, dass sie nicht zu bewältigen wären. Aber trotzdem haben sie nachts die Macht und die Größe, mir den Schlaf zu rauben.

Was dann tun? Wie kann ich gegen Monster kämpfen, die gar keine echten Monster sind? Manchmal hilft es mir aufzustehen und mir die Dinge, die mich nicht zur Ruhe kommen lassen, genauer anzuschauen. Sie alle einzeln auf ein Blatt Papier zu schreiben und mir zu überlegen, wie und wann ich sie am Tag angehen werde. Wenn das nicht hilft, dann liege ich gemeinsam mit meinen Monstern wach und versuche zu akzeptieren, dass sie jetzt gerade da sind und mich nicht schlafen lassen. Ich werde morgen früh vermutlich müde und gerädert sein, aber auch die Monster werden sich dann wieder in Herausforderungen verwandelt haben, die ich schon irgendwie bewältigen werde.

Ich habe gelernt, dass ich die Monster der Nacht nur tagsüber besiegen kann. Dadurch sind ihre Besuche deutlich seltener geworden, und ich kann inzwischen gut mit ihnen leben. Wenn das nicht der Fall ist, dann gibt es noch die Strategie von Calvin: Jemanden zu Hilfe rufen; vielleicht nicht meine Mutter, sondern meine Frau, einen vertrauten Kollegen oder sogar professionelle Hilfe. Menschen, die mich dabei unterstützen, die Dinge anzuschauen und zu verändern, die mir nachts den Schlaf rauben.

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15SEP2023
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Der griechische Philosoph Heraklit sagt: „Niemand kann zweimal in denselben Fluss steigen, denn alles fließt und nichts bleibt.“ Er fasst damit seine Einsicht zusammen, dass alles um uns herum ständig in Bewegung ist und sich verändert. Heraklit blickt auf den Fluss. Das Gleiche gilt aber auch für die Person, die in den Fluss steigt. Im Bild gesprochen: „Niemand kann in den Fluss steigen ohne als ein anderer wieder herauszukommen.“ Auch wir Menschen verändern uns ständig. Ich lerne jeden Tag Neues dazu, anderes vergesse ich wieder. Meine Gefühle und Stimmungen wandeln sich, nach einem guten Gespräch oder einer interessanten Lektüre sehe ich Dinge anders als zuvor. Auch heute Morgen bin ich anders aufgewacht, als ich gestern eingeschlafen bin.

Manchmal merke ich, dass ich mich verändert habe. Oftmals geschieht diese Veränderung aber unscheinbar und unbemerkt. Aber ich glaube, es kann sich lohnen, sie wahrzunehmen. Daher nehme ich mir manchmal am Ende eines Tages einen viertel Stunde Zeit, um zu überlegen: wie habe ich mich heute verändert?

Dazu helfen mir bestimmte Fragen – zum Beispiel was ich heute gelernt habe. Da wird mir klar, dass ich jetzt weiß, wie eine leckere Gazpacho geht. Ein guter Freund hat mir sein Rezept verraten.

Oder ich suche nach etwas, was mich bereichert hat und mir fällt ein: meine Tochter hat von sich aus angeboten, mir beim Unkraut jäten zu helfen. Das hat mich gefreut, und außerdem hatten wir noch ein nettes Gespräch dabei.
Oder ich überlege mir, welche Herausforderung ich heute gemeistert habe. Ich habe es z.B. geschafft, „Nein“ zu sagen zu einem weiteren Termin, der mir zusätzlich Stress bereitet hätte.  

Manchmal fällt es mir leichter etwas zu finden, manchmal schwerer. Meistens aber entdecke ich etwas und mir wird klar, dass ich an diesem Tag ein kleines bisschen gewachsen bin.

Manchmal wird mir aber auch bewusst, dass ich heute hinter meinen eigenen Erwartungen zurückgeblieben bin. Dass ich nicht alles geschafft habe, was ich mir vorgenommen habe. Dass ich zum Beispiel in einer heiklen Situation nicht so ruhig reagiert habe, wie ich es mir wünschen würde. Ich nehme es wahr und versuche es gut sein zu lassen. Auch diese Erfahrung hat mich verändert. Und morgen kommt ein neuer Tag, an dem ich erneut in den Fluss des Lebens steige. Eine neue Chance mich zu verändern und dabei zu wachsen.

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14SEP2023
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Es war eine besondere Siegerehrung beim Abschlussfest der Klasse 4a. Ausgezeichnet wurden nur erste Plätze – zweite oder dritte Plätze wurden nicht vergeben. Trotzdem hat jede Schülerin und jeder Schüler am Ende eine Urkunde bekommen: alle den ersten Platz für eine besondere Leistung im vergangenen Schuljahr. Der Klassenlehrer hatte sich für jeden etwas überlegt: Einer bekam den ersten Platz dafür, dass er trotz Höhenangst im Sportunterricht auf eine hohe Plattform geklettert ist. Eine andere für die besten Schönheitstipps an den Klassenlehrer. Ein dritter wurde ausgezeichnet, weil er immer bereit ist, anderen zu helfen.

Als Vater habe ich die Idee des Lehrers super gefunden. Es war schön mitzubekommen, dass er die Einzelnen im Blick gehabt hat und jedem Kind durch den ersten Platz gesagt hat: Dich zeichnet etwas aus, was du ganz besonders gut kannst. Aber die Botschaft dahinter war für mich noch einmal eine andere: es ist schön, dass es dich gibt. Du bist wichtig und wertvoll. Ohne dich hätte in unserer Klasse etwas gefehlt.

Ich finde es schön, so etwas im Kontext von Schule zu erleben. Dort, wo wenige Tage später Zeugnisse verteilt wurden. Im Zeugnis steht dann schwarz auf weiß, wie gut die Leistung eines Kindes in einem Fach ist – und es weiß dann, wer darin besser oder schlechter ist.

Solche Leistungsmessungen gehören zu unserer Gesellschaft dazu. Das kann ich gut oder schlecht finden. Ganz entziehen kann ich mich ihnen nicht. Aber ich kann für mich immer wieder entscheiden, auch eine andere Haltung einzunehmen – mir und anderen gegenüber. Ich kann überlegen, wofür ich mir gerade einen ersten Platz geben würde: dafür, dass ich meinen Kindern heute aufmerksam und geduldig zugehört habe oder dass ich endlich den Keller ausgemistet habe.

Und ich kann andere Menschen für etwas auszeichnen, was sie fantastisch gemacht haben. Meine Frau dafür, dass sie die besten Geburtstagsgeschenke für unsere Kinder besorgt hat. Unsere Kinder dafür, dass sie bei strömenden Regen ausdauernd auf dem Trampolin gehüpft sind. Meinen Kollegen dafür, dass er im Dienstgespräch immer einbringt, was an Aufgaben gerade ansteht.

Das muss nicht mit einer Urkunde für einen ersten Platz versehen sein. Es reicht, wenn ich aufmerksam wahrnehme, was andere Wertvolles leisten, und es sie auf eine gute Weise spüren oder wissen lasse.

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13SEP2023
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Ich bin ein echtes Landei. Umso erstaunter war ich bei meinem letzten Besuch in Münster, als ich neue Varianten der „Ampelmännchen“ gesehen habe. Wenn es an der Ampel grün wird, zeigen mir diverse grün leuchtende Liebespaare an, dass ich losgehen kann. Mal zwei Frauen, mal Frau und Mann, mal Mann und Mann - immer durch die Hände und ein Herzchen miteinander verbunden. Ich bin begeistert von den queeren Ampelfiguren.

Ich bin vermutlich die Letzte, die es mitbekommen hat: die Ampelpaare gibt es natürlich schon länger in deutschen und europäischen Städten. Ich finde sie aber auch jetzt toll. Mit den Ampelfiguren zeigen die Städte, dass es ihnen wichtig ist, vielfältig zu sein. Dass das Leben in ihnen bunt ist, und sie offen sind. Und dass ihnen jede Lebens- und Liebesform recht ist.

Es ist schon bemerkenswert, dass solche Zeichen überhaupt nötig sind. Dass Menschen darüber sprechen oder diskutieren müssen. Denn klar, als die ersten queeren Ampelpärchen aufgetaucht sind, gab es heftige Reaktionen in jede Richtung. Leute, die die Aktion klasse fanden, und Leute, die sich sehr darüber aufgeregt haben.

Für mich sind die Ampelpaare kein Symbol. Sie sind schlicht und ergreifend Realität. So sind wir Menschen. Unterschiedlich, bunt und vielfältig, so wie wir leben und lieben.
Ich bin überzeugt davon, dass wir Menschen von Gott so gedacht sind. Wir sind seine Geschöpfe. Die Bibel findet dafür klare Worte. Im Buch der Weisheit steht: „Gott, du liebst alles, was ist, und verabscheust nichts von dem, was du gemacht hast; denn hättest du etwas gehasst, so hättest du es nicht geschaffen. Wie könnte etwas erhalten bleiben, das nicht von dir ins Dasein gerufen wäre? Herr, du Freund des Lebens.“ (Weish 11,24-26)

Ich wünsche mir noch viel mehr, dass wir solche Symbole nicht mehr brauchen, die mit großem Tamtam eingeführt werden, sondern völlig wertfrei und selbstverständlich abbilden, was menschliches Leben ausmacht: zusammen durchs Leben zu gehen. Mit den Menschen um mich herum, die mir etwas bedeuten.



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