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„Martin Luther King ist tot!“ Ich kann mich noch gut an das Entsetzen meiner Mutter erinnern, als die Nachricht damals um die Welt ging. Dabei ist es lange her, 1968, ich war gerade in die erste Klasse gekommen. „Erschossen!“, hat sie ergänzt, und ich weiß noch, wie betroffen sie gewesen ist. Meine Eltern haben dann versucht, mir kindgerecht zu erklären, wer Martin Luther King gewesen ist und warum sie sein Tod so erschüttert hat. Ich glaube, ich habe an diesem Tag das Wort „Rassismus“ zum ersten Mal gehört. Was ich damals begriffen habe: Es ist ein großes Unrecht, Menschen wegen ihrer Hautfarbe zu benachteiligen. Und dass dieser Pfarrer, den sie erschossen hatten, gewaltfrei und mutig für die Gleichberechtigung aller Menschen eingetreten ist.
Meine Eltern und meine Großmutter haben sich aktiv mit dem Problem des Rassismus auseinandergesetzt. Das war in den 1960er Jahren alles andere als selbstverständlich, denn im Dritten Reich, als meine Großmutter eine junge Frau und Mutter war, gab es noch den Straftatbestand der Rassenschande. Wenn man einmal in diesem furchtbaren Gedankengut erzogen wurde, dann sitzt das tief. Man kann sich dann nur noch sehr bewusst davon distanzieren. Umso mehr erkenne ich an, dass meine Großmutter sich aktiv darum bemüht hat, dass ich Menschen aller Hautfarbe einmal offen gegenübertreten kann.
Martin Luther King hat für seinen Einsatz heute vor genau 60 Jahren den Friedensnobelpreis bekommen. Zwei Jahre später wurde er erschossen. Von Rassisten. Sein Traum von einer Welt ohne Rassismus, den mit ihm auch weiße Menschen wie meine Familie geträumt haben, der hat sich bis heute nicht erfüllt. Im Reich Gottes, in dem es keine Unterschiede gibt, sind wir noch nicht angelangt. Doch es hat sich immerhin einiges bewegt. In den USA hat es einen schwarzen Präsidenten gegeben. Und rassistische Regimes wie das Apartheidsystem in Südafrika sind Gott sei Dank Geschichte.
Meine kleine Enkelin liest in einer Kinderbibel, in der die Menschen nicht alle weiß sind, sondern unterschiedliche Hautfarben haben. Wenn alles gut geht, wird sie einmal Menschen nicht nach ihrer Hautfarbe unterscheiden, sondern danach, ob sie sich für Nächstenliebe und eine gerechte und friedvolle Welt einsetzen.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=40841Die Trierer Eintracht hat ein Problem – also der Fußball-Verein SV Eintracht Trier. Gleich vier Spiele in der Regionalliga Südwest sind Sonntags angesetzt – kurz hintereinander im Oktober und November. Schlecht für die Fans und für den Verein – schon allein deswegen, weil der Sicherheitsdienst Sonntagszulagen bekommt. Aber vor allem die Fans: sind ja häufig selbst aktiv, als Amateure in unteren Spielklassen; und die spielen eigentlich sonntags.
Moment mal – sonntags war doch mal noch was anderes dran!? „Tag des Herrn“ – Christenmenschen versammeln sich am Sonntag zum Gottesdienst und manchmal auch noch zum WeiterFeiern. Sonntags-Pflicht heißt das in der katholischen Kirche – darf auch am Vorabend absolviert werden, Samstag abends; also zur besten Bundesliga-Zeit…
Schon klar: das Argument zählt nur noch sehr bedingt. Obwohl immer noch mehr als doppelt so viele Menschen Samstag/sonntags zur Kirche gehen wie am ganzen Wochenende zur Bundesliga. Absehbar allerdings, dass die Kirchenbesucher-Zahlen noch schneller sinken als die anderen steigen… Aber es gibt ja durchaus Gemeinsamkeiten: Gottesdienst und Bundesliga sind eher freiwillig und weniger Pflicht; wenn’s gut läuft, dient auch ein schönes Fußballspiel der seelischen Erbauung. Manche Fan-Blocks feiern schon beinah richtige Liturgien – mit Gesang und Choreografie. Und wo es im Stadion Eintrittsgeld kostet, geht‘s in der Kirche um Kollekten und andere Geld-Sammlungen.
Jedenfalls gibt es aber auch Zeit-Konkurrenz – und nur selten wird die aufgelöst, so dass beides möglich wäre; dass die heranwachsenden Kinder Zeit für Kirche hätten und zum Sport auf’n Platz oder in die Halle gehen – ein Gewinn für alle… Wäre nur mit ein wenig Aufwand verbunden.
Beim Lamento um die Sonntags-Spiele der Trierer Eintracht geht es allerdings eher um eine interne Konkurrenz – die Profis könnten die Amateure kannibalisieren? Fußball Gucken gegen aktiv Spielen – und noch bisschen Familienzeit auch für die Profis. Na gut – werden die irgendwie hinkriegen.
Ich kümmere mich inzwischen mit anderen zusammen darum, dass der Gottesdienst in unserer Kirche wenigstens ein bisschen attraktiv bleibt, ansprechend für die Menschen – für junge und alte, alteingesessene und zugezogene, alleinlebende und Familien. Finde ich interessant und wichtig – auch für mich selbst; jenseits aller Sonntags-Pflichten lasse ich mich gern ansprechen von der Guten Nachricht des Jesus von Nazaret – auch morgen wieder.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=40820Eine „Übergangs-Regierung“ nannte Übergangs-Grünen-Chef Nouripour die Ampel-Koalition in Berlin. Vielleicht hat er schon schneller Recht gehabt, als ihm lieb war. Erinnert hat er mich an eine andere Art von „Übergang“ – einen in der katholischen Kirche; da allerdings sollte es mehr Übergang werden und dann auch noch viel länger dauern, als viele sich gewünscht hatten:
Heute erinnert der Heiligen-Kalender an Papst Johannes den XXIII. Als Angelo Roncalli war er schon 77 Jahre alt – und manche Kardinäle wollten ihn wohl als Übergangs-Papst wählen; und dann Zeit haben, die Konflikte im Vatikan und in der Weltkirche zu glätten. Schon damals gab es mehr als zuvor heftige Auseinandersetzungen zwischen den „Weiter so“-Fraktionen und anderen Männern, die ihre Kirche in Bewegung setzen wollten; „Modernisierer“ haben manche sie genannt.
Roncalli ist aus diesem Patt im Konklave als Papst Johannes herausgekommen – und hat in seinen nur vier Amts-Jahren seine Kirche auf einen Übergangs-Weg geschickt, auf dem sie heute noch unterwegs ist, sechzig Jahre danach. Im Heute ankommen sollte sie endlich – wieder sprachfähig werden für eine Welt, die sich nach der Guten Nachricht des Evangeliums sehnt. Dafür sollte die Kirche eine neue Sprache finden, die Sprache und den Stil von heute,; Anerkennung für andere Religionen und Konfessionen und viel mehr. Schließlich soll sie das Evangelium in die Welt hinein sagen und die Menschen sie hören und verstehen können.
Dazu hat Papst Johannes eine Sensation losgetreten; in einem Allgemeinen Konzil sollten alle Bischöfe der katholischen Welt beraten und beschließen, wie es mit der Kirche weitergehen kann – mit wieder besserem Kontakt zu der Wirklichkeit, zu den Menschen, zur ganzen Welt und ihren Problemen von heute. Aggiornamento, hat er das genannt – im Heute ankommen. meine Kirche ist immer noch dran, denke ich. Viel zu langsam – aber so ein Tanker braucht eben Zeit und vielleicht auch ein bisschen mehr Druck …
Mir ist Papst Johannes auch persönlich wichtig – schon mit der Mahnung, die er zuerst an sich selbst gerichtet hat: Giovanni, nimm dich nicht so wichtig, sagt er. Und hat vielleicht auch gemeint: Kirche, nimm dich weniger wichtig. Der RoncalliPapst hat das wohl für sich befolgt – ich übe noch dran. Schwierig – aber steht ja auch schon beim Apostel Paulus: „… in Demut schätze einer den andern höher ein als sich selbst“…
https://www.kirche-im-swr.de/?m=40819Herzlichen Glückwunsch, sage ich gelegentlich; manchmal schaut die Frau dann ein wenig ratlos. Kann ich aber erklären: Glückwunsch zu deiner Tochter oder deinem Sohn. Geburtstag haben die – und natürlich habe ich ihm oder ihr schon gratuliert oder werde es noch tun. Aber eben auch der Mutter – sie hat diesen Menschen ja zur Welt gebracht und schon einige Jahre oder auch viele Jahre begleitet und für das Leben stark gemacht…
Seltsam geschaut hat wohl auch Jesus von Nazaret, als eine Frau ihm zugerufen hat: Selig die Frau, deren Leib dich getragen und deren Brust dich genährt hat. Was ja eigentlich auch ein Glückwunsch an seine Mutter Maria war, auch wenn die gerade anderweitig beschäftigt sein mochte. Seltsam geschaut hat er vielleicht – und jedenfalls auch ein bisschen seltsam geantwortet: Selig sind vielmehr die, die Gottes Wort hören und es befolgen.
Ja gut – Jesus biegt den Glückwunsch ab; statt seiner leiblichen Mutter beglückwünscht er die Frauen und Männer und Kinder, die gerade um ihn herum sitzen und ihm und seinen Geschichten und seinen Lehren zuhören. Aus dem Glückwunsch für die Mutter macht er zugleich eine Aufforderung an sie: Schön, dass ihr mir zuhört; wichtiger noch, dass ihr dann bitte auch in die Tat umsetzt, was ihr davon verstanden habt und mitnehmen sollt.
Das passt ziemlich genau zu der anderen Szene: Da sagen sie ihm: Deine Mutter und deine Brüder stehen draußen und wollen mit dir reden – und er schaut in die Runde und sagt: Das hier sind meine Mutter und meine Brüder. Wer Gottes Willen tut, ist für mich Bruder und Schwester und Mutter. Könnte ja so klingen, als wäre sein Verhältnis zu seiner Mutter nun ja: ein bisschen beeinträchtigt. Als ob er gemeint hätte, Maria und seine Brüder seien vom richtigen Weg zu Gottes Reich abgekommen.
Das wäre Spekulation – und vermutlich falsch. Andersherum: Jesus erweitert den Glückwunsch. Selig nennt er einfach alle, die sich wenigstens bemühen, seine Gute Nachricht mit eigenem Leben zu füllen: da zu sein für andere, die dich brauchen; aufmerksam und couragiert, wo Menschenrechte bedroht sind; engagiert für Frieden und Gerechtigkeit in der Nähe und weiter weg.
Selig seid ihr: das gilt auch heute; und deswegen darf ich weiter sagen: Herzliche Glückwünsche der Mutter dieses Menschen – und Ihnen allen, der Verwandschaft von Jesus.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=40818Haben Sie vermutlich auch schon mal erlebt - dieses unangenehme, heftige, rötliche oder bläuliche Blitzlicht; es schlägt von vorne rechts zu oder von oben - aber es ist schnell vorbei. Das dicke Ende kommt erst. Als Brief mit Anzeige oder Verwarnung, ein Foto, die gemessene zu hohe Geschwindigkeit reinkopiert…
Schade, aber doch eigentlich gerecht. Wer zu schnell fährt, muss mit Blitz und Strafe rechnen. Weil - wenn alle immer ungestraft zu schnell fahren könnten, wäre das bestimmt schlecht für Gesundheit und Leben vieler Menschen. Also zähneknirschen und zahlen – wenigstens.
Besser wäre es natürlich, aus der Geschichte endlich zu lernen und von sofort an nur so schnell oder langsam zu fahren, wie erlaubt. Ist doch so selbstverständlich. Dachte ich. Aber dann war da mal wieder die Verkehrsrechts-Tagung; ein Automobilclub verhandelte mit Juristinnen und Juristen, wie der Autofahrer (viel seltener: die Fahrerin) sich möglichst effektiv wehren kann. (Natürlich nur mit Anwalt.) Bezweifeln, dass richtig gemessen wurde. Prüfen, ob das Radargerät sachgemäß aufgestellt war und genug Strom hatte. Fragen, ob vielleicht ein anderer Wagen zu schnell unterwegs war und ich nur per Zufall aufs Foto geraten bin…
Dabei weißt du doch eigentlich ganz gut: Ich war zu schnell; und wenn es mich an dieser Stelle mal falsch getroffen haben sollte: Wie oft hätten sie mich zu Recht zur Kasse bitten können!
Das Gewissen scheint irgendwie abgeschaltet, wenn der Mensch hinter einem Lenkrad sitzt. Ich weiß, dass ich da auch von mir selbst rede. Und hoffe, dass so eine gebührenpflichtige Verwarnung doch auch eine Lernhilfe ist – eben das Gewissen eingeschaltet zu lassen. Vorausschauende Nächstenliebe, ökologisch verantwortlich Fahren, Rücksicht nehmen auf die Schwächeren: Wie gut so was allen tun würde!
Katholiken im Erzbistum Freiburg feiern heute den seligen John Henry Newman. Der hat das menschliche Gewissen für einen Gottes-Beweis gehalten: Dass wir von Natur aus ein Gewissen haben, von Gott eingepflanzt als Gottes Bote und Wegweiser zum Leben, hat Newman gesagt. Und dass Eltern und Schule, Kirche und Gesellschaft den Menschen helfen sollen, das Gewissen richtig anzuwenden.
Und das, ergänze ich, tun eben auch Ordnungsamt und Polizei: treiben Gewissensbildung mit Blitz und Verwarnung…
https://www.kirche-im-swr.de/?m=40817„Ich bin aus der Kirche ausgetreten“. Das hat mir kürzlich bei einer Party eine Freundin erklärt. „Ich konnte ein System einfach nicht mehr länger unterstützen, das Frauen automatisch von Ämtern ausschließt und Homosexuelle als Menschen zweiter Klasse behandelt“. Ich bin immer wieder Adressat dieser Klagen, weil ich für die katholische Kirche arbeite. Obwohl ich kein Amt in der Kirche habe und kein Priester bin, so bin ich doch als gelernter Theologe regelmäßig derjenige, bei dem Menschen ihre Last mit der Kirche abladen. Und ich kann es verstehen, dass viele die Geduld verloren haben mit einer Kirche, in der Veränderung mehr als schleppend vorangeht, viele Reformen längst überfällig sind.
Warum ich trotz aller Kritik dennoch in der Kirche bleibe? Zum einen, so ist mein Argument, finde ich alleine keine geistliche Heimat, keine Gemeinschaft im Glauben. Es ist in meinen Augen eine Illusion, dass Glaube und eine Beziehung zu Gott nach einem Kirchenaustritt außerhalb der Gemeinschaft gelebt werden kann. Zum anderen argumentiere ich mit meiner beruflichen Erfahrung auf der internationalen Ebene. Durch einen jahrelangen Aufenthalt und tiefe Einblicke in das Leben von Menschen in afrikanischen Ländern habe ich erfahren, was kirchliche Strukturen den Menschen dort geben können, wo der Staat versagt. Katholische Schulen z.B. sind in vielen Ländern des globalen Südens die einzigen, die Wege aus der Bildungsarmut weisen, auch für Menschen, die gar nicht der katholischen Kirche, vielfach nicht einmal dem Christentum angehören. Das gleiche gilt für Gesundheitsdienste in entlegenen Gegenden Afrikas, Asiens oder Lateinamerikas. Dort bieten angehörige katholischer Orden oder engagierte katholische Christen einen Dienst an, der nicht auf Herkunft, Geschlecht, Religionszugehörigkeit schaut, sondern auf den bedürftigen Menschen. Trotz überkommener interner Machtstrukturen sind Kirchen vielerorts ein Ort der Freiheit, auch und vor allem für Bevölkerungsgruppen, die diskriminiert und entmenschlicht werden – ein Beispiel dafür sind die Dalits in Indien, die der Kaste der sogenannten „Unberührbaren“ angehören. In vielen Konflikten ist es die Kirche und ihr Personal, das schon vor dem Ausbruch eines Krieges vor Ort gewesen ist. Während des Ausbruchs der Gewalt bleiben sie dann standhaft an der Seite der Menschen, und nach Ende der bewaffneten Kämpfe sind sie da, um beim Wiederaufbau zu helfen.
Es ist die andere Seite von Kirche, die neben den vielen problematischen, oft skandalösen Seiten steht. Denn an vielen Stellen folgt sie tatsächlich und ganz konkret dem Geist ihres Gründers. Für die Welt ist das ein Segen.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=40808„Ich bin gekommen, um Feuer auf die Erde zu werfen. Wie froh wäre ich, es würde schon brennen!“ Jesus hat das nach dem Lukasevangelium so gesagt. Das hört sich nicht nach einem an, der nach Ausgleich sucht, sondern nach einem, der mit größter Leidenschaft Veränderung will. Und zwar nicht mit Diplomatie und Bedacht und langen Diskussionen.
Ich frage mich, wie das zusammengeht mit Jesu Botschaft der Liebe und der Demut. Wie erreicht man Veränderung? Dadurch, dass man kraftvoll und provokativ agiert oder durch diplomatisches Vorgehen, miteinander sprechen, erörtern, verhandeln?
Wir leben in einer Zeit, in der Veränderung dringend nötig ist, weil es etwa beim Schutz der Umwelt um sehr viel geht – um nichts weniger nämlich als die Zukunft des Planeten. Ist es vor diesem Hintergrund also richtig, mit voller Provokation diese Veränderungen zu fordern, wie dies die sogenannte „Letzte Generation“ tut? Sich auf die Straße zu kleben, um den Autoverkehr lahmzulegen ruft viel Empörung hervor, weil dabei auch so viele Menschen ausgebremst wurden, die auf ihr Auto angewiesen sind. Weil sie etwa Kinder zur Kita bringen oder rechtzeitig bei der Arbeit sein müssen.
Oder die Sache mit dem Kartoffelbrei auf dem Gemälde von Claude Monet in einem Museum in Potsdam. „Menschen hungern, Menschen frieren, Menschen sterben!“, rief die Aktivistin, die sich nach der Attacke an die Wand des Museums geklebt hatte. „Braucht es Kartoffelbrei an einem Gemälde, bis ihr zuhört?“ Aktionen, die bei Vielen nur Unverständnis und Kopfschütteln auslösen.
Meine Methodik ist das nicht, dieses Provozieren, um wachzurütteln. Ich glaube an die Macht des guten Arguments, an das miteinander sprechen, erklären und Bewusstsein bilden. Ich möchte Menschen überzeugen, dass Veränderung notwendig ist, in der Gesellschaft, im Umweltschutz, auf globaler und lokaler Ebene.
Aber ist mein Weg dabei der beste und effektivste, um Veränderung zu erreichen? Auch wenn die maximale Provokation nicht meine Sache ist, muss ich zugeben, dass es in der Regel nicht geht, ohne Aufmerksamkeit zu erregen. Frauen etwa haben auf ihrem Weg zu gleichen Rechten die Männer provoziert und deren erbitterten Widerstand hervorgerufen.
Veränderer wollen darum manchmal Feuer auf die Erde werfen und es brennen sehen. Wahrscheinlich braucht es für Veränderungen deshalb beides: Die Provokation ebenso wie Gespräche und Diplomatie.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=40807Vor einigen Wochen stand ich ganz oben auf einer Schanze. Der Skiflugschanze in Oberstdorf. Sie ist höher als die meisten Kirchtürme. Man steht da oben ganz schön ungeschützt im Freien. Die Schanze ragt schräg wie ein Pfeil in den Himmel hinein, ohne irgendeinen Pfeiler als Unterstützung. Es ist mir erst nicht leicht gefallen zu entscheiden: Traue ich mich da wirklich hoch?
Ich hab mir ein Herz genommen. Und bin in den Aufzug gestiegen. Oben wurde ich reich belohnt. Der Blick in die Bergwelt ist gigantisch. Am meisten hat mich der Blick vom Schanzentisch nach unten fasziniert. Ich hab mir vorgestellt, wie die, die sich das Skifliegen zutrauen, da auf ihren beiden Skiern hinunterrasen. Ich bin sicher, die müssen sich jedes Mal einen inneren Ruck geben. Es muss dann aber auch ein tolles Gefühl sein. Ob im Wettkampf überhaupt Raum bleibt, dieses Gefühl bewusst wahrzunehmen? Ich weiß es nicht.
In Gedanken bin ich dann auch die Anlaufspur hinuntergerast und hab mich in die Luft erhoben. Ein tolles Gefühl! So möchte ich manchmal ins Leben springen. Einfach Anlauf nehmen und dann geht’s los. Und „alles, was uns groß und wichtig erscheint, wird plötzlich nichtig und klein!“ Reinhard Mey hat das vor einem halben Jahrhundert mit diesen eindrücklichen Worten besungen. Für mich ist dieser Schanzenflug über alles hinweg und hinein ins Leben ein schönes Bild. Für das, was ich mit meinem Glauben verbinde. Dem Leben zu trauen und intensiv zu leben. Und dabei irgendwie zurechtzukommen mit dem, was mich in meinem Alltag belastet. Nein, durch den vertrauensvollen Sprung ist nicht einfach alles Schwere weg. Wie der Skiflieger lande ich auch irgendwann wieder auf der Erde. Mitten auf dem Boden der Tatsachen. Aber die Erfahrung des Fliegenkönnens. Der Perspektivwechsel durch den Blick von oben lässt mich auch auf der Erde anders an manche Dinge herangehen.
Das Bild des Fliegens ist gar kein neues. „Mein Glaube lässt mich aufsteigen wie ein Adler“ (Jesaja 40,31) – das beschreibt ein Poet und Prophet der Bibel schon vor zweieinhalbtausend Jahren. Da kannte also schon lange vor mir einer das Gefühl, was ich oben auf der Schanze hatte. Ich bin froh, dass ich mutig genug gewesen bin, ganz nach oben zu fahren. Jetzt kann ich mir zumindest besser vorstellen wie das sein könnte: einfach loszufliegen. Und ein wenig kann diese Vorstellung auch meinem Glauben Flügel verleihen.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=40783So etwas hatte ich vorher noch nie erlebt! Der Lärm war ohrenbetäubend. Ein paar hundert Kühe und Kälber drängten auf eine große Wiese. Alle mit Glocken um den Hals. Das Leittier vorne mit einem Blumenkranz geschmückt.
Viehscheid heißt dieses alljährliche Spektakel. Mit Festzelt und Blasmusik. Man kann es im Allgäu im September miterleben. So wie ich vor wenigen Wochen. Die Tiere kommen von ihren Sommerwiesen auf den Bergen zurück ins Tal. Und werden dann voneinander getrennt. Geschieden. Und ihren jeweiligen Eigentümern zurückgegeben.
Ein biblisches Gleichnis ging mir durch den Kopf, während ich gebannt zugeschaut habe. Auch eine Scheid. Die große Viehscheid am Ende. Da beschreibt der Evangelist Matthäus ein großes Trennungsspektakel. Dort werden die Tiere nicht nach ihren Besitzern geschieden. Sondern nach der Bewertung ihres Lebens. Die Schafe rechts und die Böcke links. Die Böcke werden ausgeschieden. Zukunft haben nur die Schafe. Dabei handelt das Gleichnis nicht einmal von einer Viehscheid. Sondern von einer Menschenscheid. (Matthäus 25,31-46)
Kriterium, ob ich Zukunft habe, ist im Gleichnis mein Engagement für die Schwächsten. Für die, denen es am Allernötigsten fehlt, um menschenwürdig leben zu können. Entscheidend für die große Scheidung am Ende ist die Frage, zu wem ich gehöre. Zu denen, die Menschen verachtend über andere hinweggehen. Oder zu denen, die es nicht ertragen, wenn andere kleingemacht werden. Und vom Leben abgeschnitten.
Die Menschenscheid ist manchmal sehr leise. Oft sehe ich gar nicht, wie ein Mensch anderen Menschen Gutes tut. Manchmal ahnt er es nicht einmal selbst. Manchmal ist es dagegen offensichtlich, dass jemand anderen Menschen das Lebensnötige bewusst vorenthält. Dann ist mein Wort des Widerspruchs gefragt. Und mein Eintreten für die Opfer. „Was ihr den Schwachen an Gutem angedeihen lässt, tut ihr mir selber an. Und was ihr euren Mitmenschen vorenthaltet, enthaltet ihr mir vor.“ Der König, der dies im biblischen Gleichnis sagt, ist ein Bild für Gott.
Dennoch ist diese Menschenscheid eine Vorstellung, die mir Mühe macht. Ich hoffe sehr, dass möglichst viele zu denen gehören, die Leben ermöglichen. Und damit zu denen, die gerettet und nicht ausgeschieden werden. Und ich bin heilfroh, dass es nicht meine Aufgabe ist, die Menschen auseinanderdividieren. Mit der Viehscheid im Allgäu ist es da einfacher. Die konnte ich deshalb auch genießen. Und hoffentlich nicht zum letzten Mal.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=40782Wie gut, dass der 3. Oktober ein Feiertag ist! Alles etwas geruhsamer um mich herum. Eine kleine Unterbrechung des üblichen Tagaus, Tagein – mitten in der Woche. Aber halt – da war doch was! Der 3. Oktober ist ja nicht ohne Grund ein Feiertag. Aber irgendwie rutscht er mir auch weg. So viel anderes hat sich in den Vordergrund gedrängt seit jenem Tag, an dem aus zwei deutschen Staaten einer geworden ist. Vor 34. Jahren. Ein gewaltiges Projekt, das immer noch nicht abgeschlossen ist.
Ich kann die Krisen seitdem aus dem Stehgreif gar nicht alle aufzählen. Die Corona-Pandemie. Die beiden Kriege, der in der Ukraine und der im Nahen Osten. Der Streit um den Umgang mit den Menschen, die weltweit auf der Flucht sind, beschäftigt viele sehr. Ganz zu schweigen von der Klimakrise, deren Folgen wir immer näher zu spüren bekommen.
Worum soll’s also heute gehen? Um ein Fest? Um Erinnerung? Wenn ich an die großen Gefühle denke, damals, an jenem 3. Oktober 1990, da denke ich: Schade! Euphorie und Glücksgefühle lassen sich leider nicht auf Dauer stellen. Aber wir können lernen, uns immer wieder an sie zu erinnern.
Feiertage haben den Sinn, der Erinnerung Raum zu geben. Eine Kultur der Erinnerung zu pflegen. In der jüdisch-christlichen Tradition gibt es das schon sehr lange. Erinnerung geschieht dadurch, dass die Ereignisse, an die erinnert werden soll, in der Vorstellung wiederholt werden. Bis dahin, dass sogar die alten Gefühle wieder entstehen können. An Passah wird an die Befreiung aus der Sklaverei erinnert. An Karfreitag an den Tod Jesu. An Ostern an seine Auferstehung. Der 3. Oktober ist kein kirchlicher Feiertag. Auch wenn sich die Kirchen damals sehr in den Protest gegen die alte Herrschaft eingebracht haben. Der 3. Oktober will die ganze Gesellschaft zu einer Erinnerungsgemeinschaft verbinden. Wir müssten dazu die Bauchgefühle von damals in unseren Kopf hinüberretten. Und staunen, was sich damals ereignet hat. Ein wahres Wunder. Eine politische Umwälzung ohne Blutvergießen.
Die aktuellen politischen Entwicklungen und die Wahlergebnisse zeigen deutlich: Der damals begonnene Prozess ist noch lange nicht abgeschlossen. Er wirkt immer noch nach. Damals haben wir erlebt: Wunder sind möglich. Auch im Bereich der Politik. Und wenn ein paar der Glücksgefühle von damals in mir auftauchen, können Sie auch meine aktuellen Hoffnungen stärken. Gerade die auf Frieden.
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