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05DEZ2023
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Wie viel Geld ist ein Mensch wert? Diese Frage erscheint auf den ersten Blick fast unmoralisch. Denn den eigentlichen Wert eines Menschen kann man nicht in Euros ausdrücken. Wie will man all das berechnen, was er kann, welche speziellen Fertigkeiten er hat; aber auch was ihn ausmacht, wie er andere zum Lachen bringt, welche Power er hat, wie hartnäckig er sein kann, wie liebevoll, fürsorglich, erfinderisch und kreativ er ist.

Und trotzdem wird immer wieder am puren Materialwert von uns rumgerechnet. Das Technologiemagazin „Wired“ hat das einmal genau zusammengezählt: Wie viel würde man für unsere Organe bekommen, wie viel für Haut und Knochen, für die vielen unterschiedlichen Körperflüssigkeiten und Chemikalien, die der Körper produziert. Und siehe da: allein die zwölf Gramm Thyrotropin – ein Hormon, das im Gehirn vorkommt – sind schon über eine halbe Million Euro wert. Und der ganze Mensch fast 40 Millionen – purer Materialwert, da sind die nicht-materiellen Dinge noch gar nicht eingerechnet. Das fühlt sich doch gut an!

Jammerschade ist nur, dass viele Menschen - außer Fußballstars vielleicht -  nicht so behandelt werden, als wären sie 40 Millionen wert. Ich denke dabei besonders an diejenigen, die auf der Flucht sind oder in Kriegsgebieten leben. An Minderheiten, an misshandelte Kinder, an Obdachlose, an hart schuftende Frauen oder an Gefangene.

Aber ich erlebe es auch hier in meinem Alltag. Mit teuren Autos zum Beispiel wird oft besser umgegangen als mit Menschen. Autos werden poliert, es wird ihnen gut zugeredet, sie werden gewaschen und gesaugt, und ab und zu gibt´s einen Ausflug ins Grüne. Sie bekommen feinstes Öl und auch mal Schmuck geschenkt – Duftbäume für den Rückspiegel oder Designer-Radkappen für die Räder. Und die Menschen? Ich erlebe immer wieder, dass sie ignoriert werden, dass sie angeschrien, abgespeist oder übers Ohr gehauen werden, dass sie verlassen, entlassen oder einfach links liegen gelassen werden.

Ich weiß nicht, ob´s helfen würde: ein kleines Preisschild, auf dem draufsteht „Minimum 40 Millionen“  – und das bei wirklich allen Menschen. Und vielleicht noch ein Aufkleber dazu, auf dem steht „keine Massenware, individuell mit viel Liebe gefertigtes Einzelexemplar“. 

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04DEZ2023
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Ein Ringkampf kann spannend sein. Ein Ringkampf mit Gott wohl eher nicht, denn Gott schlägt alle - könnte man meine, er ist stark und übermächtig, lässt beim Kräftemessen nichts anbrennen. In der Bibel wird von so einem Kampf erzählt, der aber völlig unerwartet ausgeht.

Jakob hat vor Jahren seinen Bruder übers Ohr gehauen. Es war so schlimm, dass sein Bruder ihn dafür umbringen wollte. Jakob konnte gerade noch ins Ausland fliehen und ist dadurch mit dem Leben davongekommen. Aber nach vielen Jahren zieht es ihn zurück in seine Heimat. Er hat zwar Angst vor seinem vielleicht immer noch zornigen Bruder, aber die Sehnsucht nach zuhause ist einfach größer.

In der Abenddämmerung kommt Jakob an den Fluss Jabbok, der ihn noch von seiner Heimat trennt. Und plötzlich – wie aus dem Nichts – ist da ein Mann der ihn angreift. Jakob wehrt sich, die beiden schenken sich nichts. Sie kämpfen und kämpfen - die ganze Nacht geht das so. Als der Morgen bereits dämmert stehen die beiden immer noch fest umklammert da. Da sagt der Angreifer zu Jakob: „Jetzt lass mich endlich los“. Mit diesen Worten gibt ihm voll einen aufs Hüftgelenk mit. Jakob stöhnt laut auf und presst einen eigenartigen Satz hervor: „Ich lasse dich nicht los, erst musst du mich segnen.“ Jakob muss wohl während des Kampfes eine Ahnung beschlichen haben, mit wem er es da zu tun hat.

Schließlich löst der Angreifer die Situation auf und sagt: „Jakob, du sollst ab jetzt „Gottesstreiter“ heißen, denn mit Gott und Mensch hast du gestritten und gesiegt.“ Und dann segnet er Jakob tatsächlich. Jakob ist fix und fertig und vor allem froh, dass es rum ist, denn es hätte auch anders laufen können. Er macht sich selbst klar: „Ich habe Gott von Angesicht zu Angesicht gesehen und bin doch mit dem Leben davongekommen.“ Dann zieht er hinkend der aufgehenden Sonne und seiner Heimat entgegen.

Was für eine Geschichte! Sie steht dafür, wie es ist, wenn man mit Gott ringt. Oft ist es ein Suchen, ein Hadern, es kann lange dauern und anstrengend sein. Und manche werden dabei auch enttäuscht oder tragen Blessuren davon. Ich nehme aus der Geschichte mit: Es lohnt sich zu kämpfen und zu ringen, es lohnt sich zu zweifeln und sich seinen Zweifeln zu stellen. Und manchmal kann es gerade dann, wenn man verletzt wird, zur entscheidenden Wende kommen. In all dem kann Gott sich zeigen. Manchmal als ein zäher Partner, manchmal kompromissbereit. Aber am Ende – da steht der Segen.

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02DEZ2023
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Plötzlich erscheint mir alles da unten irgendwie irrelevant: Die Menschen, die Autos, die Straßen. Alles ist zwar noch gut zu erkennen, aber doch auch ganz weit weg. Vor ein paar Tagen bin ich mit dem Riesenrad auf dem Stuttgarter Schlossplatz gefahren. Rein in die Gondel, zehn Sekunden nach oben gefahren: Und schon war ich in einer ganz anderen Welt. Faszinierend! Ein Überblick, den ich sonst nicht habe, wenn ich mitten im Gewusel stecke: Die Welt da unten ist spannend zu betrachten, aber ich fühle mich gar nicht mehr als ein Teil davon. Sie ist nur noch ein Anschauungsobjekt. Der Lärm, der Stress, die Anderen – geht mich scheinbar nichts mehr an. Ich schwebe über allem, dem Himmel näher als der Erde.

Vater unser im Himmel…

Das ist einer der wichtigsten Sätze im Christentum. Beginn des wichtigsten christlichen Gebets, Jesus selbst hat es gebetet und anderen nahe gebracht, dass sie so beten sollen. Vater unser im Himmel …

Wenn ich so im Riesenrad sitze, kommt mir das schon ziemlich hoch oben vor. Und wie weit mag Gottes Himmel davon noch entfernt sein? Da frage ich mich: Was bekommt er da überhaupt von uns mit? Klar, ich traue Gott zu, dass er in uns Menschen mehr sieht als die winzig kleinen Ameisen, wie ich sie aus dem Riesenrad von oben wahrnehme.

Aber interessant finde ich trotzdem: Gott kommt zu wichtigen Anlässen immer wieder auf die Erde. Zum Beispiel, um mit Mose zu sprechen. Da verirrt er sich in das Gestrüpp eines brennenden Dornbuschs, um ihm einen ganz wichtigen Auftrag zu geben, nämlich die Israeliten aus der Sklaverei zu befreien. Und natürlich auch an Weihnachten. Morgen geht es ja los mit der Adventszeit. Sie soll helfen, uns darauf vorzubereiten, dass Gott auf die Erde kommt. Dass er Mensch wird und alle menschlichen Erfahrungen mit uns teilt. Nein, dieser Gott ist keiner, der uninteressiert im Himmel sitzt. Er kommt zu uns und kommt uns nahe. Er bringt den Himmel auf die Erde. Gut, dass es jetzt wieder Zeit gibt, um sich darauf vorzubereiten.

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01DEZ2023
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Der Dezember ist für mich der Monat der Erwartungen. Ich habe zum Beispiel Erwartungen an mich selbst: Schöne Geschenke finden, einen geraden Weihnachtsbaum und überhaupt soll für Weihnachten alles gut vorbereitet sein.

Erwartungen gibt es auch bei der Arbeit: Jahresabschlüsse müssen vor dem Fest noch erledigt werden, Projekte sollen abgeschlossen sein, sodass man gut ins Neue Jahr starten kann. 

Grundsätzlich sind Erwartungshaltungen ja erstmal nichts Schlechtes. „Von dir erwarte ich nichts mehr“ – das will auch keiner hören. Dann ist man abgeschrieben, unwichtig.

Von wem etwas erwartet wird, der trägt Verantwortung für andere und für sich. Dem wird etwas zugetraut.

Aber mir verursacht das alles auch Stress. Denn manche Erwartungen von außen oder an mich selbst sind vielleicht auch ein bisschen überzogen. Ich spüre dann: Es gibt kaum noch Raum für Fehler, für schlechte Tage, für Müdigkeit.

In dieser Gemengelage hilft mir eine theologische Erkenntnis, die eigentlich kein gutes Image hat: „Alle Menschen sind Sünder“. So ein negatives Menschenbild will niemand vorgeführt bekommen: Der Mensch ist unvollkommen, macht Fehler, entfernt sich durch seine Verfehlungen von Gott.

Aber wenn man es mal andersherum betrachtet, kommt es bei mir so an: Wer Sünder, wer nicht perfekt ist, von dem kann man auch keine Perfektion verlangen.

Und das ist ja eine allgemein menschliche Erfahrung: Wir können nicht alles richtig machen, nicht allen Ansprüchen genügen. Diese Erkenntnis kann auch befreien. Befreien von dem Druck, überzogenen Erwartungen entsprechen zu müssen.

Wichtig dabei ist, finde ich, was Martin Luther auf die Formel simul iustus et peccator gebracht hat. Wir sind Sünder, aber gleichzeitig auch gerechtfertigt. Gott verzeiht uns unsere Unzulänglichkeiten, er verurteilt uns nicht für das, was wir nicht perfekt hinbekommen.

Ich finde, das befreit davon, mich an übertriebenen Erwartungen abmühen zu müssen. Ich muss mich nicht dafür fertig machen, dass manches nicht so klappt, wie andere sich das vielleicht vorstellen: in der Schule, bei der Arbeit, in der Familie. Und nehme mir vor: genauso wenig von anderen zu verlangen, dass sie alles perfekt hinbekommen. Vielleicht versuche ich es dieses Jahr mal mit dem Dezember als Monat der Unperfektheit. Und ich bin mir sicher: Weihnachten und das neue Jahr werden trotzdem schön.

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30NOV2023
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Wir wurden ganz schön durchgeschüttelt. Und gewackelt hat es. Vor den schmalen Fenstern – ein undurchdringliches Grau. Ich saß im Flugzeug, und der Landeanflug auf Stuttgart war ganz schön turbulent. Richtige Flugangst habe ich nicht. Angenehm finde ich die Fliegerei aber auch nicht. Deshalb habe ich mich bei diesem Anflug wirklich unwohl gefühlt – und ein kurzes Stoßgebet in den Himmel geschickt: Ach lass uns doch sicher landen … und Gott sei Dank, es hat gewirkt. Wir sind sicher gelandet. Mein Gebet wurde erhört. Oder ist das in Wirklichkeit eine Augenwischerei?

Ich glaube nicht an eine direkte Gebetserhörung. Ich glaube nicht, dass ich mir eine Wunschwelt zusammen beten kann nach dem Motto: Was ich mir erbete, tritt ein, weil Gott dafür sorgt.

Mir hilft beten trotzdem. Zum Beispiel dann, wenn ich mich einsam fühle. Wenn mir niemand einfällt, der mir helfen könnte, kann ich mich an Gott wenden. Oder wenn ich Angst habe. Zum Beispiel, wenn ich eingequetscht in einem wackelnden Flugzeug sitze.

Beten hilft in diesem Sinne erst einmal mir selbst. Aber ich glaube, dass es noch mehr kann.

Ich denke zum Beispiel an die ganzen Friedensgebete, die gerade regelmäßig in vielen Kirchen und Städten stattfinden. Frieden für die Ukraine, im Nahen Osten – das wünschen sich viele. Wie gesagt: Leider geht das nicht auf Knopfdruck, wir beten und dann kommt der Frieden. Aber ich finde, wer für Frieden betet, hat die Hoffnung auf ihn noch nicht aufgegeben, der glaubt noch daran, dass sich Gottes Frieden irgendwann überall durchsetzt.

Ja, ich denke, erst, wenn der Letzte aufgehört hat, an die Möglichkeit eines Friedens zu glauben, dann gibt es wirklich keine Hoffnung mehr. Beten hält diese Hoffnung wach. Es lenkt die Aufmerksamkeit auf das, was um mich herum geschieht. Für wen oder was muss ich beten? Wer kann Hilfe brauchen? An wen sollte ich denken? Darüber nachzudenken, hält den Blick wach für andere; und für eine gerechte und friedliche Welt.

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29NOV2023
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Wenn jemand einen Sieg errungen hat, sagt man im Deutschen manchmal auch: „Er hat den Sieg davongetragen.“ Der österreichisch–israelische Schriftsteller Elazar Benyoëtz ist ein Sprachkünstler. Er fasziniert mich mit seiner Lyrik schon lange. Worte wie diese – „Er trug den Sieg davon“ – bürstet er gegen den Strich. Aus „Er trug den Sieg davon“ wird bei ihm »Alle Siege werden davon getragen.«*
Davongetragen, weggetragen? Und wohin bitte?

Beschädigen Siege womöglich das Miteinander?  In aller Regel sieht man ja glückliche Sieger und enttäuschte Verlierer. Sieger haben es leicht. Verlierer tragen schwer an einer Niederlage. So die landläufige Meinung. Elazar Benyoëtz hinterfragt diese Sichtweise: Sind die Sieger auch die Gewinner?

Zweifel daran kommen bei mir schon im Kinderzimmer auf: Mein Enkel ist bei Spielen gerne der Sieger. Ich helfe ihm dabei. Doch er spürt offenbar auch: Das ist nicht gut, wenn der Opa andauernd verliert. Darum tut er manchmal trickreich sogar einiges dafür, dass auch mal der Opa der Sieger ist.

»Alle Siege werden davongetragen«
Für Elazar Benyoëtz ist das eine Lebensweisheit, die mit eigenen Erfahrungen zu tun hat. 1937 in Wien geboren sind seine Eltern mit ihm noch vor Kriegsbeginn nach Palästina geflohen. Er ist so dem „Sieg Heil!“ der Nationalsozialisten entkommen. Kriege hat er später auch in Israel erlebt.

Im Schatten des Ukraine Krieges wurde er im vergangenen Jahr gefragt, was ihm die Schrecken von Krieg und Vertreibung sagen. Benyoëtz hat aphoristisch geantwortet:
„Kriege sind Versäumnisse des Nachkriegs.  ... in der Tat gibt es nur Kriegs- und Nachkriegszeiten - Frieden gibt es nur dann, wenn die Menschen nicht bloß gegen den Krieg, sondern auch gegen das Siegen sind.“** Für mich hört sich diese Lebensweisheit an wie eine zentrale Botschaft von Jesus:
Wer sich gegen das Siegen stellt, wer verlieren – also loslassen und unterliegen kann –, der kann wirkliches Leben gewinnen. Ich frage mich: Wie könnte dieser Umgang mit Siegen und Niederlagen zu einem Gewinn für unser Leben und unsere Kultur werden?! Auf den Kriegsfeldern dieser Tage und auch in persönlichen Streitereien?! Benyoëtz Aphorismus ermutigt zu einer Abkehr von Siegesbilanzen: Denn da hat er wohl recht: »Alle Siege werden« – zuletzt –  »davongetragen.«

* Elazar Benyoëtz, Alle Siege werden davongetragen, München 1998
** Interview Deutsche Welle – 24.3.2022
 

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28NOV2023
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Eines Morgens auf dem Gehweg vor meinem Haus: Ein älterer Mann bewegt sich mit seinem Rollator am Gartenzaun entlang – langsam und vorsichtig. Der Kopf ist gesenkt.  Von der anderen Straßenseite ruft ihm ein Bekannter zu, der etwas jünger ist: „Und? Wie geht es dir?“ Darauf die einsilbige Antwort des Mannes: „Muss!“

Kein Innehalten, nur ein kurzer Blick zur anderen Straßenseite – und der alte Mann schiebt seinen Rollator weiter. Wie es ihm geht? Nicht gut, nicht schlecht. Nur: „Muss!“
Das Wort hat mich getroffen. Es kann für so vieles stehen. Vielleicht für sein derzeitiges Befinden? „Ich will eigentlich gar nicht mehr, aber ich muss?“ Oder steht das „Muss“ sogar für sein ganzes Leben? „Alles war schon immer nur ein Müssen. Und jetzt natürlich erst recht - im Alter.“

Ja, was gibt es nicht alles, von dem Menschen sagen, sie müssen es: Aufstehen, Zähneputzen, zur Arbeit gehen. Für manche ist das ganze Leben ein ununterbrochenes „Müssen“. Bis hin zur Heirat und zur Familiengründung, sogar im Ruhestand. Das „Muss“ lastet auf manchen Menschen wie ein Joch, wie ein Zwang, dem sie sich nicht entziehen können. Auch mir ist dieses Lebensmuster in die Wiege gelegt worden: Pflichten erfüllen – arbeiten! Das macht das Leben aus.

Erst später habe ich an Christinnen und Christen eine andere Dimension von Leben kennengelernt: Es gibt auch etwas, das muss ich mir nicht mühevoll erarbeiten – das bekomme ich einfach geschenkt: Anerkennung, Liebe, Zuwendung, Trost. Wertvoller als alles andere. Diese Geschenke haben mein Erleben von Grund auf verändert.
Ich  m u s s  nicht mehr aufstehen, nein, ich wundere mich und staune:
ein  neuer Tag beginnt. Und ich bin wieder im Leben dabei!
Ich  m u s s  nicht die Augen öffnen – nein, ich kann es. Ich bin gespannt, welche Menschen ich sehen und hören werde. Was für eine Gnade ist das!

Die Adventsgeschichten in der Bibel, die von der Geburt von Johannes und Jesus erzählen, sind voll solcher Erfahrungen. Da werden zwei Frauen schwanger, ein junge und eine alte, ohne dass sie je damit gerechnet hätten: Elisabeth und Maria! Die beiden Frauen begegnen einander und tauschen sich über ihre Erfahrungen aus. Beide Kinder kommen zur Welt, Mütter und Kinder wohlauf – pure Gnade. Nicht das „Muss!“ durchwirkt diese Adventsgeschichten – sondern das überraschende Geschenk, die Gnade.

Schön, wenn wir unser Leben immer wieder als ein Geschenk erleben. Und nicht nur als permanenten Zwang. Auf dem Weg zum Weihnachtsfest kommt es wohl auch darauf an, genau dies zu spüren. Auch für diesen alten Mann. Ich wünsche uns wache Sinne für die großen Geschenke des Lebens.

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27NOV2023
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Heute beginnt eine besondere Woche. Ich mag diese Tage zwischen Totensonntag und dem 1. Advent. Zwei Sonntage mit so verschiedenem Gesicht. Gestern noch Grabschmuck und nächsten Sonntag schon das erste Licht am Adventskranz. Was für eine Spannung ist das! Hier Trauer und Schmerz über den Verlust lieber Menschen. Und da die frohe Erwartung: Mit der Geburt eines Kindes beginnt neues Leben, eine neue Zeit bricht an: Gott ist in Jesus zur Welt gekommen. Ein Licht in finsteren Zeiten.

Mich fasziniert genau diese Spannung zwischen den beiden Sonntagen. Und die Tage in dieser Woche bedeuten mir viel. Totensonntag und 1. Advent verweisen nämlich aufeinander. Der eine Sonntag steht gewissermaßen im Licht des anderen. Denn die Kerzen, die ich gestern für meine liebe Verstorbene angezündet habe, sie kündigen auf eine Weise auch die Geburt des neuen Menschen an. Und die Lichter am Adventskranz sind zugleich Hoffnungslichter für Verstorbene.

Das hängt mit dem Hoffnungsträger – dem Christus aus Bethlehem – zusammen. Sein Leben war von Anfang an bedroht, von den ersten Stunden in der Krippe bis zum Kreuz. Bedroht und verfolgt von König Herodes. Der wollte das Kind als unliebsamen Konkurrenten umbringen lassen. Und schließlich gekreuzigt unter Pontius Pilatus – als Aufrührer.

Doch sein Tod war nicht das Ende. Christen glauben: Gott hat diesen Jesus auferweckt zu neuem Leben. Ein Licht für Lebende und Verstorbene. Diese Hoffnung trägt mich. Besonders in diesen Tagen.

Ich erlebe darum die Tage in dieser Woche als Brückentage - als Brückentage der Hoffnung. Ein Vers aus einem Lied von Jochen Klepper begleitet mich auf dieser Brücke:  »Auch wer zur Nacht geweinet, der stimme froh mit ein...«
Am Totensonntag empfinden wir Leid und verstecken unsere Tränen nicht. Wir spüren Schmerzen – die eigenen und die Anderer. Doch Schmerz und Leid stehen vom Advent her im Licht ihrer Überwindung.

Umgekehrt hilft mir der Totensonntag, dass die Adventszeit nicht zur banalen zuckersüßen Heile-Welt-Inszenierung verkommt. Vielmehr steht das im Vordergrund: Wie erlösungsbedürftig ist unser Leben, wie erlösungsbedürftig sind diese Zeiten!

In einer unerlösten Welt voller Konflikte ist dies meine Hoffnung: der Christus, der von Gott her zur Welt gekommen ist, wird einst die Mächte des Todes überwinden. Diese Hoffnung steht radikal gegen alle Verzweiflung und Mutlosigkeit.

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25NOV2023
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Der Film „Der Club der toten Dichter“ hat mich als Jugendlicher sehr berührt. Ein Zitat aus dem Film ist mir geblieben. Es geht so: „Im Wald zwei Wege boten sich mir dar, ich wählte den, der weniger betreten war, und das veränderte mein Leben.“ Es sind die letzten Zeilen aus dem Gedicht „The Road Not Taken“ des US-amerikanischen Dichters Robert Frost – zugegebenermaßen in einer sehr freien Übertragung.

Das Zitat habe ich lange Zeit so verstanden: Immer wieder im Leben werde ich an Abzweigungen kommen, wo ich nur einen der beiden Wege nehmen kann. Spannender scheint es zu sein, denjenigen zu nehmen, der etwas weniger betreten ist, d.h. mich für das zu entschieden, was außergewöhnlicher ist, etwas, das nicht so viele Leute machen.

Bei meinem letzten Spaziergang im Wald ist mir noch was dazu eingefallen. Immer wieder in meinem Leben komme ich in ähnliche Situationen, wo ich mich entscheiden muss, wie ich mich verhalte. Ich ärgere mich zum Beispiel wie sich ein Kollege mir gegenüber verhalten hat. Entweder schlucke ich wie üblich meinen Ärger runter, denke, was soll‘s, reg dich nicht auf, das ist es nicht wert. Das wäre der Weg des geringeren Widerstandes. Oder aber ich probiere etwas Neues, vielleicht auch etwas Unangenehmeres: Ich spreche ihn darauf an und sage ihm, dass ich mich über ihn geärgert habe.

Einer der beiden Wege ist in der Regel der, den ich häufiger betrete. Ich nehme ihn, weil ich mich auf ihm sicher fühle, weil er mir entspricht oder weil ich meine, dass ich bisher auf ihm auch nicht die schlechtesten Erfahrungen gemacht habe. Aber tatsächlich verzichte ich dadurch auf den zweiten Weg und damit auch auf die Chance, zu entdecken, was mich auf ihm erwartet.

Möglicherweise stellt sich der Weg als viel angenehmer heraus als ich gedacht habe: Mein Kollege entschuldigt sich; er wusste gar nicht, dass mich sein Verhalten so nervt. Oder aber der Weg bietet mir einen neuen Ausblick: Mein Kollege vertraut mir an, dass er privat gerade sehr unter Druck steht, und ich kann ihn jetzt besser verstehen. Oder im Gespräch merke ich, welche Anteile ich an unserem Konflikt habe. Vielleicht fordert der Weg viel von mir, aber am Ende bin ich stolz, wenn ich merke. Wow, ich hab’s geschafft.

Eine Erfahrung mache ich auf alle Fälle: dass ich tatsächlich eine Wahl zwischen diesen beiden Wegen habe. Dass ich nicht auf den einen ausgetretenen festgelegt bin. Und zwischen zwei Wegen entscheiden zu können, gibt mir innere Freiheit und das verändert mein Leben.

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24NOV2023
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Ich kenne Boulos seit er sechzehn ist. Wir sind uns im Jahr 2000 zum ersten Mal in seiner Heimat Syrien begegnet. Immer wenn ich zu Arabischkursen in Damaskus war, habe ich ihn in Aleppo besucht. Inzwischen lebt er in Belgien und sagt: „Belgien hat mich gerettet.“

Sein Weg dorthin verlief in etwa so: Zu Beginn der Arabischen Revolution in Syrien reist Boulos mehrmals aus geschäftlichen Gründen zu einer Partnerfirma nach Belgien. Er hofft, dauerhaft in Belgien bleiben zu können, das funktioniert aber nicht. Zurück in Syrien entscheidet er, in den Libanon zu flüchten, um nicht in die syrische Armee eingezogen zu werden. Von dort aus beantragt er ein Visum für Deutschland, wo er studieren möchte. Die Deutsche Botschaft in Beirut aber verweigert ihm ein Visum, obwohl er zu einem Uni-Sprachkurs mit anschließendem Studium an einer deutschen Universität zugelassen ist. Die Botschaft glaubt ihm nicht, dass er wirklich studieren will. Wenig später wird er dann willkürlich im Libanon verhaftet. Wegen absurder Anschuldigungen kommt er in ein Militärgefängnis, wo er gefoltert wird.

Als er auf Kaution aus dem Gefängnis herauskommt, gelingt es ihm, bei der belgischen Botschaft ein „humanitäres Visum“ zu erhalten. Er kann den Libanon verlassen und in Belgien Asyl beantragen.

Dort lebt er nun, arbeitet im Hafen von Antwerpen, lernt die flämische Sprache und versucht sich ein neues Leben aufzubauen. Vor einiger Zeit hat Boulos mich besucht. Wir haben viel über die Zeit im Libanon geredet. Er hat gesagt: „Ich habe immer gedacht, dass ich, wenn ich mich unpolitisch verhalte, auch in einem Unrechtsstaat vor Verhaftung und Folter geschützt bin. Im Libanon habe ich die bittere Erfahrung gemacht, dass ich mich geirrt habe.“ Deshalb ist Boulos jetzt so froh, in Belgien zu leben. Er fühlt sich dort sicher und vertraut darauf, dass er die belgische Staatsbürgerschaft erwerben kann, sobald er die notwendigen Bedingungen erfüllt. Und er möchte gerne allen Belgiern sagen: „Ich bin eurem Land unendlich dankbar, weil es mir das Leben gerettet hat.“ Es war sein Glück, dass der belgische Staat in seinem Fall Menschlichkeit gezeigt und ihm ein humanitäres Visum ausgestellt hat.

Wir diskutieren gerade in unserem Land, wie viel Menschlichkeit wir uns noch leisten können. Die Botschaft, die ich von Boulos gehört und verstanden habe lautet: Spart nicht mit eurer Menschlichkeit!

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