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Vor Kurzem habe ich die Wieskirche in der Gemeinde Steingaden im Allgäu besucht. Ihr vollständiger Name lautet: „Wallfahrtskirche zum gegeißelten Heiland auf der Wies“. Im Zentrum der Verehrung steht also, wie der Name schon sagt, der gegeißelte Christus, der dort auch dargestellt ist. Er steht da, in Ketten gelegt. Er ist gebeugt und verletzt. Man sieht ihm die Folter an. Es wird die ganze Gewalt, die Menschen einander antun können, gezeigt. Eine Geißelung ist wirklich nichts Schönes, sie ist blutig und brutal. Ich persönlich habe trotzdem etwas für solche Darstellungen übrig. Ich finde es gut, wenn die Wirklichkeit gezeigt wird.
Im angrenzenden Wirtshaus allerdings wurde ich Zeuge eines Gespräches. Eine Frau, die das offensichtlich ganz anders sah, unterhielt sich mit einer alten Ordensschwester. Die Frau war unheimlich aufgebracht und schimpfte über den „Geißelkult“, wie sie es genannt hat. Sie hat sich verärgert über den Katholizismus ausgelassen, der mit seiner Todessehnsucht und seinen gewaltverherrlichenden Darstellungen den Menschen nichts als Angst machen würde. Was sei das denn für ein Leben, in ständiger Angst vor dem Tod und ständiger Erinnerung an das Leid, sagte sie. Das Leben biete doch viel mehr und sei doch viel bunter und schöner, als die Katholiken glauben machen wollten. Die Ordensschwester ließ die Frau ruhig ausreden, lächelte und sagte nur: „Sie haben recht, das Leben ist schön ... Aber das Leid ist eben auch da.“
Das hat mich bewegt. Es stimmt: Das Leid ist eben da. Das Leben ist mit Schmerzen, mit Verlust, mit Krankheit, Trauer und Angst verbunden. Wir können versuchen all das zu lindern, aber wir können uns ihm nicht entziehen. Da ist mir wieder die Bedeutung des gegeißelten Heilands aus der Kirche wirklich bewusst geworden. Von Jesus, der die Passion durchlitten hat. Von Gott, der geblutet hat und in den Dreck geworfen worden ist. Der Tränen vergossen hat. Der ist ein Gott, der das Leid, der unser Leid, nicht ausspart. Der es sieht und selbst trägt. Es ist kein entrückter mystischer Gott, den man nur erahnen kann, der irgendwo in einem sterilen Himmelreich sitzt und sich anbeten lässt. Sondern einer, der mitgeht, mitfühlt, mitleidet. An dem die ganze Fülle und Herrlichkeit des Seins sichtbar wird, aber eben auch die Kehrseite: Der Makel, die Schwäche, das Leid. Der Gedanke ist nicht neu und er hätte mich nicht so sehr bewegt, wäre er nicht aus dem Munde dieser alten Ordensschwester gekommen, die ihr Leben in den Dienst dieses Gottes gestellt hatte. Wie sie da gesessen ist, klein und gebeugt, dazu noch ein großes Glas Bier vor sich. Wie sie gelächelt hat und wie sie gesagt hat: „Das Leben ist schön. Aber das Leid ist eben auch da“.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=41530Eine Ausstellung über Bücher, die nie erschienen sind? Die gibt es zurzeit in New York. Im traditionsreichen Grolier Club. Ein Buch von Hemingway ist da zusehen, dessen Manuskript ihm gestohlen wurde. Die Liebesgedichte des großen Theologen Abelaerd an Heloise aus dem Mittelalter, die man damals hat verschwinden lassen. Vermutlich aus Anstandsgründen. . Oder es sind Bücher, die in einem anderen Buch genannt werden, die es aber gar nicht gibt.
Der Initiator der umfangreichen Ausstellung hat nun versucht, diese Bücher im Stile ihrer Zeit liebevoll herzustellen und ihnen auch einen Titel zu geben. Dabei sind wunderschöne Exponate herausgekommen. Man möchte sie am liebsten sofort in die Hand nehmen und darin blättern. Aber die Seiten der Bücher sind leer. Es sind gewissermaßen potemkinsche Bücher. Schöne Außenansichten. Überwiegend leere Hüllen.
Und mit uns Menschen ist es ja ganz ähnlich wie mit den Büchern. Das eine ist der Umschlag, das Cover, die Hülle. Das andere ist der Inhalt. Beide müssen am Ende bestenfalls zusammenkommen. Das Äußere ist das, was andere Menschen als Erstes wahrnehmen. Meine Außenansicht. Es lohnt sich, ihrer Aufmachung die notwendige Aufmerksamkeit zu schenken. An ihr zu arbeiten. Das andere ist der Text in meinem Lebensbuch. Was steht drin? Jeder Mensch fängt ab dem ersten Tag damit an, das Buch seines Lebens mit Inhalt zu füllen. Das Buch wird nie fertig. Jeden Tag kommen neue Seiten dazu. Manche bleiben erst einmal nur Skizzen. Andere arbeite ich ganz genau aus. Ich weiß nicht, wie mein fertiges Lebensbuch einmal aussehen wird. In einem kleinen Brief der Bibel heißt es: „Es ist noch nicht erschienen, was wir sein werden!“ (1. Johannes 3,2) Ganz fertig werde ich in diesem Leben nie. Mein Buch bleibt Fragment. Mit Lücken und leeren Seiten. Fortsetzung folgt. Aber auch mit wunderbaren Geschichten und farbigen Bildern.
Die ungeschriebenen Kapitel, die lassen sich immer noch anfangen. Und die Seiten, die leer geblieben sind, füllen sich vielleicht dann noch, wenn mein Lebensbuch seinen endgültigen Ort findet. Nicht in New York. Sondern da, wo mein Leben aufgehoben bleibt. Und das Buch meines Lebens gewürdigt und als schön befunden wird. Von Gott. Bei dem mein Lebensweg ans Ziel kommt. Und dem, und davon bin ich fest überzeugt, jedes Lebensbuch kostbar ist.
Imaginary Books: Lost, Unfinished, and Fictive Works (https://grolierclub.omeka.net/exhibits/show/imaginary-books)
https://www.kirche-im-swr.de/?m=41576Schwimmen zwei junge Fische nebeneinanderher. Kommt ihnen ein alter Fisch entgegen und sagt: „Morgen, Jungs. Wie ist das Wasser?“ Und schon ist er wieder weg. Sagt der eine junge Fisch zum andern: Was ist das eigentlich: Wasser?
Diese kurze Fabel hat der amerikanische Schriftsteller David Foster Wallace in einer Rede zur Abschlussfeier an einem College vorgetragen. Seine Botschaft an die jungen Menschen verstehe ich so: Nehmt die Welt um euch herum mit wachen Augen und mit klarem Verstand wahr. Stellt die richtigen Fragen. Und vor allem: Lasst euch selbst in Frage stellen. Gerade leben wir ja in sehr unsicheren Zeiten. Alte Wahrheiten sind am Zerbrechen. Und was sich da an Neuem bemerkbar macht, lässt es mir manchmal schon kalt den Rücken herunterlaufen. Ich glaube, da hilft es, sich über manche Dinge ganz grundsätzlich Gedanken zu machen.
Was ist eigentlich Wasser? Für mich ist klar: Das Wasser, der Lebensraum, in dem ich leben möchte, muss eine klar nachzuvollziehende Zusammensetzung haben: Werte der Mitmenschlichkeit und der Humanität sind das. Die Bereitschaft, andere Menschen wahrzunehmen, ihnen zuzuhören, von ihnen zu lernen. Der Verzicht darauf, andere kleinzumachen und auszugrenzen.
Wenn ich einer der jungen Fische wäre, würde ich mich vielleicht doch auch fragen: In was für einem Element bewege ich mich eigentlich? Was „umgibt mich“ in meinem Leben „von allen Seiten?“ wie es in einem Psalm heißt? Meine eigene Antwort hängt ganz eng mit meinem Glauben an Gott zusammen. Von allen Seiten möchte ich mich von Gott umgeben fühlen. Es gelingt mir längst nicht immer. Und es macht das Leben auch nicht einfacher. Man muss da nämlich auch mal in die Gegenrichtung schwimmen wie der alte Fisch in der Fabel. Man muss sich vor Raubfischen in Acht nehmen. Manchmal kann auch der Sauerstoff knapp werden. Aber wenn ich weiß, in welchem Lebensraum ich mich bewege, dann finde ich meine eigene Antwort auf die Frage: Wasser – was ist das eigentlich? Dann nehme ich das Wasser wahr als meinen Lebensraum, in dem ich mich bewegen und bergen kann. Wenn es Gott ist, der mich umgibt, lässt mich das hoffentlich gestärkt und zuversichtlich im Leben unterwegs sein.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=41575„Wonach ist dir?“ Diese Frage habe ich auf einem dieser kleinen Zettel entdeckt, die zurzeit überall kleben. Auf Laternenmasten. Oder an den grauen Stromverteilerkästen, die an der Straße stehen. . Kein Hinweis, von wem die Zettel stammen. Diese Frage hat mich angesprochen: „Wonach ist dir?“ Sie hat mich die nächsten Tage nicht mehr losgelassen. Ja, wonach ist mir eigentlich?
Dabei hab‘ ich gar nicht an meine allgemeine Wunschliste gedacht. Denn da könnte ich mich wahrscheinlich mit vielen Menschen schnell einigen: Einigermaßen gesund durchs Leben kommen. Bewahrung vor Katastrophen. Frieden – nicht nur bei uns. Ein anderer politischer Umgangston. Gerade jetzt im Wahlkampf. Mehr Miteinander als Gegeneinander. Es gibt noch einiges, was mir da spontan einfällt.
Aber wonach ist mir wirklich? Die Frage hat mich viel grundsätzlicher angesprochen. So als meinte sie: Worauf kommt es dir zentral in deinem Leben an? Was ist dein tragender Grund, wenn um dich herum alles ins Wanken gerät? Antworten gibt es derzeit viele. In Krisenzeiten – und die haben wir ja - sind die Menschen ja noch mehr auf der Suche als sonst. Wie finde ich einen Sinn in meinem Leben? lautet dann die Überschrift. Oder: Glücklichsein – wie geht das? Unlängst habe ich sogar gelesen: Kehrt die Religion zurück? Ich bin mir sicher: Es ist gut, wenn solche Themen wieder gelesen und diskutiert werden. Aber eine wirklich hilfreiche Antwort muss jeder, jede für sich selbst finden.
Ich beantworte mir die Frage so: „Mir ist nach Menschen, denen ich eng verbunden bin. Menschen, die sich dafür interessieren, wie es mir wirklich geht. Mir ist aber auch danach, dass ich meinen Glauben an Gott als tragfähigen Grund erlebe. Dass ich in diesem Glauben Wurzeln schlagen kann. Immer wieder neu. Nach einer Quelle ist mir, zu der ich immer wieder zurückkehren kann, um meinen Durst nach Lebendigkeit zu stillen. Ein offenes Gespräch tut mir da manchmal gut. Oder einfach einmal nichts tun, um Atem zu holen. Mir ist nach Worten, gelesen oder gehört, die mich ins Herz treffen. Die meinen Blick weit machen. Und meine Zuversicht stärken. Ich wüsste zu gern, wer den Zettel geschrieben hat. Es könnte ein richtig gutes Gespräch mit der Person werden. Aber das könnte ich heute ja auch mit jemand anderem führen. Mal sehen, wer mir über den Weg läuft.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=41574„Ein Ungläubiger schreibt über den Glauben“. Mit diesem Satz beginnt das Buch, das ich gerade zu Ende gelesen habe. Sein Titel „Was vom Glauben bleibt“ hat mich neugierig gemacht. Der Autor, Bernd Stegemann, ist kein Kirchenmann, sondern kommt vom Theater. Er hat Philosophie studiert und als Dramaturg an verschiedenen Theatern gearbeitet.
Also: Wie schreibt ein Ungläubiger über den Glauben? Nach den ersten Seiten habe ich festgestellt: voller Respekt. Und zugleich voller Traurigkeit und Sehnsucht. Er leidet darunter, dass der christliche Glaube in der modernen Gesellschaft zerbröselt. Und Menschen sich aus dem, was davon übriggeblieben ist, aus den „Glaubenspartikeln“, wie er sagt, ein Weltbild nach eigenem Geschmack zimmern. Da steht dann aber nicht mehr Gott im Mittelpunkt. Sondern nur noch das Interesse der verschiedenen Einzelnen, die sich die Rolle Gottes anmaßen.
So entstehen gefährliche Allmachtsphantasien. Der Mensch, der nur noch sein eigenes Spiegelbild als Gegenüber hat, verliert das ihm gesetzte Maß. Und überschreitet seine Grenzen.
Dass der Glaube das verhindern kann, ist mir kürzlich deutlich geworden beim Blick nach Amerika. Und zwar in dem vom Fernsehen übertragenen Gottesdienst anlässlich der Amtseinführung des amerikanischen Präsidenten.
In ihrer Predigt hat die anglikanische Bischöfin von Washington um Erbarmen und Mitgefühl gebeten. Für die Menschen, vor allem Minderheiten, die von der künftigen Politik des amerikanischen Präsidenten betroffen sein würden.
Mit klaren Worten hat sie als jemand geredet, für die nicht das eigene politische Handeln die letzte Instanz und Richtschnur bildet. Sondern die Verantwortung vor Gott. Die demütig macht.
Eben das ist der Unterschied. Dass ich frei werde von dem Irrglauben, mich ständig selbst beweisen und mich selbst zelebrieren zu müssen. Weil ich aus einer anderen Quelle schöpfe als aus meinem Ego.
Weil ich auf eine Gegenwart und eine Gemeinschaft hoffe, in der Menschen einander nicht als Rivalen, sondern als Geschöpfe Gottes und Geschwister begegnen. Das ist, glaube ich, was vom Glauben bleibt.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=41489„Zerreiß deine Pläne! Sei klug und halte dich an Wunder!“, notiert die jüdische Lyrikerin Mascha Kaléko. „Sie sind lang schon verzeichnet im großen Plan. Jage die Ängste fort und die Angst vor den Ängsten!“
Vor fünfzig Jahren ist Mascha Kaléko in Zürich gestorben. In ihrem bewegten Leben hat sie viele Pläne gemacht. Freiwillig und unfreiwillig. Viele Pläne, die sie gefasst hatte, gingen nicht auf. Weil es für sie als Jüdin in Deutschland ganz anders gekommen ist. Unvorhersehbar, bitter.
Ihre Worte regen mich anzufragen: wie ist das mit den Plänen in meinem Leben? Ob es einen großen Plan gibt? Ich meine nicht so einen Plan, den ich mir selbst mache. Oder den man am Reißbrett erstellen kann. Nach dem Motto: bis dann und dann will ich das erreicht haben, bis dann das Nächste, und so weiter.
Eigentlich mache ich gerne Pläne. Aber ich kenne auch das Problem damit. Wenn plötzlich alles durcheinanderkommt. Es läuft anders als geplant! Eine Krankheit. Eine Beziehung, die zerbricht. Die Verhältnisse ändern sich.
Dann muss ich beweglich sein. Mich von meinem Plan lösen und umplanen können. Manchmal hilft es mir dann zu wissen, dass in der Bibel noch von einem ganz anderen Plan die Rede ist. Einem Plan, in den mein Leben von Anfang bis Ende eingebettet ist. Den ich vielleicht nur ahne. Manchmal. Oder vielleicht im Rückblick. Am Ende meines Lebens.
In einem Psalm heißt es: „Deine Augen, Gott, sahen mich, als ich noch nicht bereitet war, und alle Tage waren in dein Buch geschrieben, die noch werden sollten, und von denen keiner da war.“
Darauf vertrauen können! Und hoffen können, dass ich aufgehoben bin im großen Plan Gottes. In seinen guten Händen. Das schenkt, finde ich, Bewegungsfreiheit. Auch im Hinblick auf meine eigenen Pläne. Weil ich weiß, jenseits davon gibt es jemanden, der mich sieht und auf mich Acht gibt.
Vielleicht ist es das, was Mascha Kaléko sagen will. Dass meine Pläne nicht das Letzte sind, auf das ich mich verlassen muss. Sondern, dass sie aufgehoben sind im großen Plan Gottes. „Zerreiß deine Pläne. Sei klug und halte dich an Wunder.“
https://www.kirche-im-swr.de/?m=41488Wie mit Verlusten leben? Wenn zu spüren ist, vieles wird nicht so weitergehen wie bisher. Wenn vermeintliche Sicherheiten dahinschmelzen wie Schnee in der Sonne. Wie damit fertig werden, wenn das Gefühl schwindet, dass das Morgen besser wird als das Heute?
Der Soziologe Andreas Reckwitz hat neulich gesagt: „Die Moderne hat kein kulturelles Skript für den Umgang mit Verlusten.“ Kein Drehbuch also für den Umgang mit Verlusten!
Weil wir jahrzehntelang in der Gewissheit gelebt haben, dass alles immer bergauf geht. Dieser Optimismus habe einen Knacks bekommen.
Eine naheliegende Reaktion, die ich auch von mir kenne, ist es, andere dafür verantwortlich zu machen. Andere sind schuld: die Politiker, die Ausländer, sogar die Demokratie. Auf alle Fälle: die anderen.
Ich fände es aber besser, sich selbst zu befragen. Ob da nicht vielleicht auch etwas bei mir falsch gelaufen ist. Ob ich nicht manches in meinem Leben neu bedenken muss. Ob die Werte noch stimmen, die wir für den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft, für eine gemeinsame Zukunft, brauchen.
Wäre das nicht so etwas wie gesellschaftliche Trauerarbeit? Verluste benennen, aber nicht einfach nur beklagen. Denn es gibt ja Anhaltspunkte für eine neue Ausrichtung, die hilfreich wären in unserer Situation. Ich finde sie auch in der Bibel.
„Sammelt euch nicht Schätze auf Erden, wo sie die Motten und der Rost fressen,“ sagt Jesus einmal. „Sammelt euch aber Schätze im Himmel, wo sie weder Motten noch Rost fressen. Und wo die Diebe nicht einbrechen und stehlen.“
Jesus meint damit nicht eine Vertröstung auf eine jenseitige Welt. Sondern er lenkt meinen Blick auf Ziele, die nicht dahinschwinden. Die haltbar sind und gültig bleiben. Auf Haltungen und Überzeugungen, die sich für ein gutes Miteinander in Zukunft bewähren.
Etwa so: Haltet euch nicht auf bei gegenseitigen Vorwürfen! Geht aufeinander zu! Lernt wieder, den Schatz zu entdecken, den ein Mensch für den anderen darstellt! Und stärkt den Zusammenhalt und das Miteinander gerade dort, wo Verluste spürbar werden! Ich glaube, dann kann es gelingen, den Schmerz über Verluste in Hoffnung zu verwandeln.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=41487Oswiecim, eine sympathisch wirkende polnische Kleinstadt unweit des märchenhaft schönen Krakau. Ganz normales Leben findet hier statt und doch steht in Oswiecim eine Gedenkstätte, deren Namen sich als Synonym für den Holocaust und Inbegriff des Bösen weltweit ins Bewusstsein eingebrannt hat. Oswiecim heißt auf Deutsch: Auschwitz. Diese Woche begingen wir am Holocaustgedenktag den 80. Jahrestag der Befreiung des früheren deutschen Konzentrationslagers.
Neben der Gedenkstätte und dem Museum gehört das "Zentrum für Dialog und Gebet" sicher zu den bemerkenswertesten Einrichtungen vor Ort. Gegründet wurde es 1992 von der katholischen Kirche in enger Absprache mit Vertretern jüdischer Organisationen. Hier, in fußläufiger Nähe des Stammlagers Auschwitz, sollte ein Ort geschaffen werden, der einlädt sich zu besinnen, zu begegnen, zu lernen und zu beten – und zwar für alle Menschen, die erschüttert sind von dem, was dort geschehen ist, unabhängig von ihrer religiösen Orientierung.
Ideengeber für das Zentrum war vor allem Manfred Deselaers, Priester des Bistums Aachen, der seit über 30 Jahren dort lebt. Inzwischen fast 70-jährig begleitet er bis heute Gruppen beim Besuch der Gedenkstätte. Deselaers bietet sich selbst an, um mit den Besucherinnen und Besuchern die Gedanken, Eindrücke, Tränen, Trauer, Wut und Ohnmacht zu verarbeiten und zu besprechen – oder auch nur zu schweigen. "Manchmal genügt es schon, wenn man einfach nur da ist." "Das Zeugnis der Kirche an der Gedenkstätte Auschwitz“, so erklärt Manfred Deselaers, „ist vor allem ein Glaubenszeugnis: Die Macht des Bösen und des Todes hat nicht das letzte Wort. Das letzte Wort hat Gott, der Liebe ist." Dabei hat er in seiner akademischen Dissertation selbst ganz tief in den Abgrund geschaut, als er sich mit Gott und dem Bösen beschäftigte – im Hinblick auf die Biografie und die Selbstzeugnisse von Rudolf Höß, dem Kommandanten von Auschwitz. Höß war ein Mann, der die Ermordung und Vernichtung generalstabsmäßig organsierte und durchführte. Gewohnt hat er als liebender Ehemann und Vater vierer Kinder direkt hinter der Mauer des Lagers. Manfred Deselaers steht dafür, solch perfider Verdrängung nicht das letzte Wort zu geben, und vor allem nicht dem Hass. Und er weitet die Perspektive auch auf die heutige politische Landschaft in Europa und auf die Tatsache, dass faschistische und völkische Ideen immer stärker werden, wenn er sagt: "Auschwitz steht als Symbol des Bösen an sich; als Symbol einer Welt ohne Gott; als Symbol für entartete Religion, als Symbol für die Folgen von Rassismus, Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit, Faschismus, politischem Machtmissbrauch".
https://www.kirche-im-swr.de/?m=41491Migration. Das ist das Hauptthema im derzeitigen Wahlkampf. Am Mittwoch fand dazu im Bundestag eine Abstimmung statt, die als historisch eingestuft wird. Damit verbunden sind Begriffe wie: Brandmauer, Tabubruch, Zeitenwende. Mich interessieren diese Begriffe nicht, weil sie zwar Emotionen wecken, aber von den Inhalten wegführen. Mich interessiert in erster Linie, worüber der Sache nach abgestimmt wurde, und ich mache mir Gedanken, wie ich als Christ dazu stehe. Denn heute wird es im Bundestag eine weitere Abstimmung dazu geben, aus der dann ein Gesetz werden soll. Es heißt: „Zustrombegrenzungsgesetz“. Ein hässliches Wort, wo es doch um Menschen geht. Menschen wie mich, auch wenn sie nicht in Deutschland geboren sind. Aber sie suchen Schutz hier, weil sie verfolgt werden oder nichts zu essen haben. Weil sie als Familie zusammen sein wollen und nicht Tausende von Kilometern getrennt. Was alles zu beweisen wäre. Ganz einverstanden. Aber solange gilt bei uns das Asylrecht, das in unserer Verfassung verankert ist. Ein Recht, das auch tief mit meinem Glauben verbunden ist. Weil vor Gott jeder Mensch gleich ist und es bei ihm keine Rolle spielt, welche Nation oder Herkunft jemand hat. Im Gegenteil: Nicht die Gesunden brauchen den Arzt, sondern die Kranken[1], sagt Jesus. Weil sie schwach sind oder verwirrt oder hoch traumatisiert. So ein Kranker hat in Aschaffenburg ein kleines Kind aus Marokko ermordet und den Mann, der dazwischenging. Da gibt es nichts zu entschuldigen. Da braucht es Recht und Gesetz. Wo Menschen andere in Gefahr, gar um ihr Leben bringen, gehören sie in Gewahrsam. Und zwar rechtzeitig, bevor etwas Schlimmes geschieht.
Aber das alles ist für mich kein Grund zur Scharfmacherei und nun alle, die als Fremde zu uns kommen über einen Kamm zu scheren. Es ist erst recht kein Grund, das aufs Spiel zu setzen, was unsere Demokratie seit achtzig Jahren stark gemacht hat. Und es darf nicht dazu führen, mit denen gemeinsame Sache zu machen, die völkisch-national denken. Auch nicht, wenn man damit pragmatisch seine Interessen durchsetzen kann. Da steht für mich ganz klar meine christliche Überzeugung über der politischen Taktik.
[1] Matthäus 9,12
https://www.kirche-im-swr.de/?m=41523Ein Kollege von mir joggt morgens immer ins Büro. Noch ziemlich verschwitzt hält er mir einen gelben Zettel unter die Nase, darauf steht eine Frage: „Tut es gut, was du machst?“ Auf dem Weg zur Dusche ruft er mir noch zu: „Das hat an einem Laternenmast geklebt.“ Ein bisschen verwirrt lässt er mich zurück – und auch nachdenklich, denn die Frage wirkt nach: „Tut es gut, was du machst?“
Manche Sachen tun vielleicht nur mir selbst gut: Ein Buch lesen, schwimmen gehen oder ein Feierabendbier trinken zum Beispiel. Aber es gibt auch Dinge, die anderen gut tun: Tischtennis mit meinen Jungs spielen, wenn ich als Seelsorger Menschen in einer Krise beistehen kann. Oder wenn das, was ich im Radio zu sagen habe, auf offene Ohren trifft. Und manches tut wahrscheinlich auch gar nicht gut: Laute Musik bis spät in die Nacht hören, Billigklamotten kaufen oder noch gute Lebensmittel wegwerfen. Wahrscheinlich ist es wichtig, da eine gute Balance hinzukriegen.
Als mein Kollege frisch geduscht am Schreibtisch sitzt, recherchieren wir ein bisschen. Denn ganz klein steht am unteren Rand des Zettels „die Erinnerungsguerilla“. So nennen sich die Leute, die überall diese kleinen gelben Zettel hinkleben. Sie können rückstandsfrei entfernt werden, was mein Kollege ja schon ausprobiert hat. Und auch woanders wieder hingeklebt werden. Das habe ich gleich gemacht, und die Frage prangt jetzt an meiner Pinnwand.
Man kann auch Teil der Erinnerungsguerilla werden und Klebezettel mit Fragen bestellen: auf Spendenbasis und immer in 25-er Blöcken. Das sind dann Fragen wie: „Wann singt dein Herz?“, „Wie viel ist Dir genug?“ oder „Was ist Dir wirklich wichtig?“
Die „Erinnerungsguerilla“ schreibt, sie glaubt an die Kraft der Fragen. Stimmt, bei mir hat es auf jeden Fall gewirkt. Und deshalb kleben diese Leute ihre Fragen an Fahrradlenker, Bushaltestellen, Bankautomaten, Mülleimer, Ampeldrücker oder Fensterläden. Und dann kann es sein, dass mich beim Joggen oder beim Brot holen oder beim Busfahren oder beim Rauchen ganz unvermittelt eine Frage trifft. Zum Beispiel die hier: „Was bleibt wenn du gehst?“
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