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Ob ein Mensch als Erwachsener in der Bibel liest, entscheidet sich vor allem zwischen seinem 4. und 14. Lebensjahr. Dabei lesen heute immer weniger Leute in der Bibel. Am häufigsten noch Menschen ab 70. Und Männer mehr als Frauen. Das habe ich auf einer Tagung erfahren. Dort wurde eine wissenschaftliche Untersuchung zur Nutzung der Bibel in Deutschland vorgestellt. Fast alle, die befragt wurden – Menschen aller Konfessionen und Überzeugungen - halten die Bibel für wichtig. Obwohl nur noch die Hälfte der Menschen überhaupt eine besitzt. Ein Drittel der Menschen schaut mindestens noch einmal im Jahr hinein. Immerhin!
Natürlich sind solche Untersuchungen immer mit Vorsicht zu genießen. Vor allem, wenn darum geht, sie zu interpretieren. Aber ich mache mir schon meine eigenen Gedanken, warum gerade die Menschen über 70 am meisten in der Bibel lesen. Unter anderem sicher deshalb, weil sie in einer Zeit aufgewachsen sind, in der die Bibel und die Kirche noch eine größere Rolle gespielt haben. Vielleicht hängt das auch noch mit den kleinen Lebensbilanzen zusammen, die mit zunehmendem Alter mehr werden. Ich bin dankbar, dass sich in meinem Leben sehr viel Schönes ereignet hat. Und erinnere mich an Bewahrung und an Glück. Sucht nach einem Sinn Umgang mit Krisen, Brüchen, die es in jedem Leben gibt. Da liegt der Griff zur Bibel im Regal womöglich wieder näher. Gerade auch für Männer, die diese Themen vorher womöglich erfolgreicher verdrängt haben.
Es könnte aber noch einen weiteren Grund dafür geben, dass ältere Menschen eher in der Bibel lesen. Der hängt mit dem anderen spannenden Ergebnis der Untersuchung zusammen. Dass sich meistens schon zwischen dem 4. und 14. Lebensjahr entscheidet, ob jemand in seinem späteren Leben auch zur Bibel greift. Die Mehrzahl der Menschen, denen die Bibel heute etwas bedeutet, hatten in dieser frühen Lebensspanne zum ersten Mal etwas mit der Bibel zu tun. Das war bei denen, die heute als ältere Menschen in der Bibel lesen, sicher eher der Fall als bei den Kindern, die heute zwischen 4 und 14 Jahre alt sind. Da steckt also eine ganz schön große Herausforderung drin. Gerade auch für Eltern und Großeltern. Nämlich die, etwas weiterzugeben von dem, was anderen ihnen als Kinder vermittelt haben.
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Die Ergebnisse der Untersuchung der Universität Leipzig kann man im Internet finden:
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In einem großen, wassergefüllten Brunnenbecken steht ein Vulkan. Um den Krater herum tanzen fünf bronzene, beinahe lebensgroße Figuren. Eine hat ein Mikrophon in der Hand und singt. Am Fuß des Vulkans steht ein Klavier aus Granit. Der Klavierspieler mit Hufen an den Füßen. Mitten im Wedding in Berlin habe ich diese Skulptur entdeckt. Sie hat mich gleich in ihren Bann gezogen.
Ich hab‘ mich dann kundig gemacht. Seit 1988 gibt es diesen Brunnen. Die Skulptur in seiner Mitte heißt „Tanz auf dem Vulkan“. Entworfen hat sie die Künstlerin Ludmilla Seefried-Matejkova. Die Skulptur im Brunnen zeigt ihren Blick auf die Lage der Menschheit: Sie tanzen und feiern. Und nehmen gar nicht wahr, wie nah sie am Abgrund stehen. Die Figur am Klavier, die die Gruppe so sorglos leben und tanzen lässt, ist ein Satyr – ein menschlich-tierisches Mischwesen aus der griechischen Mythologie. Aus dem Gefolge des Dionysos. Wie ein Verführer wiegt er die Menschen in Sicherheit. Und lässt sie dem Abgrund entgegentaumeln.
Und wohl gemerkt: Der Brunnen ist schon 40 Jahre alt! Heute haben wir uns noch viel näher an den Abgrund herangetanzt. Schade, habe ich gedacht, dass man an einem Kunstwerk nichts verändern kann. Wäre mir das erlaubt, würde ich es gerne weitergestalten. Auf der anderen Seite des Vulkans, dem Klavierspieler gegenüber, würde ich einen Engel platzieren. Er ist dabei, ein Netz über den Krater des Vulkans zu spannen. Die Situation der Menschheit ist nicht einfacher geworden. Aber das Netz würde verhindern, dass die Tanzenden in den Krater hineintaumeln.
Meinen Glauben verstehe ich wie dieses Netz. Er ändert zunächst nichts am Zustand der Welt. Aber er ahnt und hofft: Ich bin gehalten. Wenn ich in die Irre gehe. Wenn ich taumle. Wie von einem unsichtbaren Netz. Darauf verlasse ich mich. Wie die Menschen, die in der Geschichte nach der Sintflut der Zusage Gottes vertrauen: „Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.“ Ich verstehe das nicht als Beschwichtigung. Sondern als Angebot, in meinem Leben mit diesem Netz zu rechnen. Und mit der Möglichkeit, dass am Ende Gott am Klavier sitzt. Und uns nicht dem Verderben, sondern dem Leben entgegentanzen lässt.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=42342Ich sitze im Bahnhof von Erfurt am Gleis. Eine Frau setzt sich neben mich. Schnell kommen wir ins Gespräch. Ich erwarte den üblichen kleinen Small Talk. Aber das Gespräch wird sehr schnell, sehr ernsthaft. Und mit einem Mal bringt mir die Frau in wenigen Minuten ihre ganze Lebensgeschichte zu Gehör. Es ist die schnellste Lebensbeichte, die ich je erlebt habe. Sie gipfelt in dem Satz: „Die letzten sieben Jahre waren für mich verlorene Jahre.“ Der Frau ist wirklich viel weggebrochen in den letzten Jahren. An materieller Sicherheit. Und an persönlichen Beziehungen. Zu ihrem Mann. Und ihrem Sohn.
Sieben verlorene Jahre? Sofort muss ich an die sieben mageren Jahre in der biblischen Josephsgeschichte denken. Da sagt Joseph dem ägyptischen Pharao voraus, dass auf sieben reiche Erntejahre sieben schlechte, magere Jahre folgen werden. Mit der Konsequenz, dass die Menschen in den sieben fetten Jahren Vorräte anlegen können, von denen sie in den sieben mageren Jahren leben können.
Genau darum war’s mir in dem Gespräch mit der Frau am Gleis gegangen. Mit ihr auf ihre Ressourcen zu schauen, auf die Vorräte aus früheren Jahren, von denen sie jetzt noch zehren könnte. Ganz ohne entlastende Wirkung schien unser Turbo-Austausch dann auch nicht gewesen zu sein. Voll dankbarer Worte hat mich meine Gesprächspartnerin ziehen lassen. Ich fuhr davon. Sie blieb am Gleis zurück. Was für intensive Minuten waren das. Die Bank am Gleis als kurzfristig eingerichteter Beichtstuhl.
Sieben Lebensjahre von dem vernichtenden Urteil zu befreien, sie seien am Ende nur verlorene Jahre gewesen. Ganz fremd ist mir dieses Gefühl nicht. Auch ich kenne Tage, die mir im Rückblick als verloren erscheinen. Wenn ich am Ende eines Tages feststelle, dass das, was ich mir vorgenommen hatte, nicht gelungen ist. Aber dann entdecke ich manchmal doch noch einen Weg, dem Tag etwas abzugewinnen. Auch wenn einiges anders gelaufen, als ich es mir vorgestellt habe. Aber die anderen Spuren, auf die er mich geführt hat, haben womöglich auch ihren Sinn gehabt. Und ein schlechter Tag ist leichter zu ertragen, wenn ich mich erinnere, wie gut der letzte gewesen ist.
Ich müsste, so denke ich, von den Tagen, die mich zufrieden zurücklassen, immer auch etwas in meine kleinen Lebensscheunen einlagern. Um andere Tage besser überstehen zu können. Damit kein Tag ein verlorener bleiben muss.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=42341„Was hilft aller Sonnenaufgang, wenn wir nicht aufstehen?“ Eine berechtigte Frage, die uns heute Morgen der Physiker und Schriftsteller Georg Christoph Lichtenberg stellt.
Morgens aufzustehen, das fällt ja nicht immer ganz leicht. Im Sommer geht es noch, finde ich, wenn es morgens schon hell ist. Aber im Winter, im Dunkeln, ist das Aufstehen für mich eine größere Herausforderung.
Wie auch immer: Aufstehen, meint Lichtenberg, der ein aufgeklärter Kopf war, ist in jedem Fall mehr, als sich nur aus dem Bett heraus zu quälen. Aufstehen betrifft den ganzen Menschen: Leib und Seele, Herz und alle Sinne.
Darum ist Aufstehen auch ein wichtiges Thema der Religion und des Glaubens. Es wird erzählt, dass Jesus immer wieder die Hand eines Menschen ergriffen hat und ihm oder ihr gesagt hat: „Stehe auf!“ Zum Beispiel der sterbenskranken Tochter des Jairus. Oder einem Gelähmten in Jerusalem. Dem sagt er: „Nimm dein Bett und geh los.“
Jesus selbst hat es vorgemacht, an Ostern. Da hat Gott ihn auferweckt aus dem Tod. Auferstehung! Ich glaube, so mancher Aufstand in späteren Zeiten erklärt sich von daher. Dass Menschen dagegen aufstehen, wenn andere niedergedrückt und klein gehalten werden.
Aber ich muss mich auch selbst fragen. Natürlich habe ich mich heute Morgen aus den Federn erhoben und bin aus dem Bett gesprungen. Aber bin ich auch wirklich aufgestanden? Mit allem, was mir gegeben ist an Begabung, an Lebendigkeit, an Ausstrahlungskraft? An Fähigkeit, auch andere zum Aufstehen zu ermutigen?
Das Aufstehen beginnt zwar am Morgen, aber letztlich ist es eine ständige Aufgabe. Nicht liegen bleiben auf dem Bett meiner Enttäuschungen. Sich nicht befreunden mit den Trostlosigkeiten, die mir aus den Nachrichten entgegenschallen. Sich nicht wegdrehen oder einkapseln nach einer Kränkung.
„Was hilft aller Sonnenaufgang, wenn wir nicht aufstehen?“ Jesus sagt: „Mache dich auf und geh los!“ Er sagt es zu allen, die sich daran gewöhnt haben, liegenzubleiben. Nimm das, worauf du meinst, festgelegt zu sein. Fasse Mut und geh los!
Vielleicht ergreifst du die Hand, die sich nach dir ausstreckt und wagst so die ersten Schritte in den jungen Morgen.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=42318„Raus aus dem Bett, und mit gespitztem Blei das wabernde Nichts lichten“. Diesen Appell an sich selbst hat Günter Grass einmal notiert. Und seinen Satz betitelt mit „Nach endloser Qual“.
Ich stelle mir vor, dass der Schriftsteller schlecht geschlafen hat. Alles Mögliche ist ihm in der Nacht durch den Kopf gegangen. Vieles hat ihn gequält, was im Dunkel der Nacht bedrohlicher aussieht als am Morgen.
Darum begrüßt er diesen Moment: „Raus aus dem Bett, und mit gespitztem Blei das wabernde Nichts lichten“. Für Grass als Schriftsteller ist das eine passende Methode, um Klarheit in seine Gedanken zu bringen: das Schreibwerkzeug zur Hand zu nehmen und aufzuschreiben, was ihn beschäftigt.
Ich kenne das auch: Schlecht geschlafen. Schlecht geträumt. Der neue Tag sieht wenig verheißungsvoll aus. Und auch mir helfen Worte, um das wabernde Nichts zu lichten. Ich schreibe sie nicht auf, ich lese sie in der Bibel. So ein Wort kann meinen Horizont weiten und meinen Alltag heller machen. Und nimmt mir dann die Sorge vor dem, was alles kommen könnte.
Denn auch die Bibel beginnt ja mit dem Gedanken, dass Gott ganz am Anfang Licht und Ordnung bringt in „das wabernde Nichts“. Auf den ersten Seiten der Schöpfungsgeschichte lese ich, wie in eine ungeordnete und chaotische Welt Licht, Klarheit und Schönheit kommen.
Das ist, was der Glaube kann: dem Leben Klarheit und Struktur geben. Viele Menschen beginnen darum den Tag mit einer stillen Zeit, die freigehalten ist von allem, was später kommen wird.
Der Theologe Bonhoeffer hat geschrieben: „Jeder Morgen ist ein neuer Anfang unseres Lebens. Mitten in einem Leben mit Gott täglich ein neues Leben mit ihm beginnen zu dürfen, das ist das Geschenk, das Gott mit jedem neuen Morgen macht.“
Mit dieser Gewissheit will ich versuchen, dem wabernden Nichts entgegenzutreten. Will unterscheiden zwischen dem, was lebensdienlich ist und dem, was mir und anderen schaden kann. Will auch dankbar zurückschauen auf das, was gestern gelungen ist und was gut war. Und daraus die Zuversicht schöpfen, dass mir Gott auch für den heutigen Tag das Quantum an Kraft gibt, das ich für den neuen Tag brauche.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=42317Weil es ein schöner Sonnentag war und ich Zeit hatte, habe ich mich auf mein Fahrrad gesetzt und bin ein paar Stunden durch die Gegend gefahren. In Dinkelsbühl, einer kleinen Stadt bei mir in der Nähe, habe ich eine Pause eingelegt. Die Stadt ist wunderschön. Die Verheerungen des Krieges sind an ihr vorbei gegangen, es gibt viele historische Gebäude, eine Stadtmauer und vor dieser einen schönen Park. Dort hab ich mich hingesetzt, mein mitgebrachtes Brot gegessen und die Sonne genossen. Eine Frau saß neben mir auf der Bank. Sie hatte Ähnliches im Sinn. Auf der nächsten Bank saß ein junger Mann, der beständig auf sein Handy geschaut hat. Das hat die Frau neben mir irgendwie gestört. „Sehen Sie den?“ hat sie zu mir gesagt „Der kommt von dem Ding nicht mehr weg. Der schaut die ganze Zeit nur auf sein Handy. Der sieht doch gar nichts sonst“. Genau wie der junge Mann auf sein Handy, schaute die Frau jetzt auf den jungen Mann. Sie konnte den Blick nicht mehr von ihm lassen. Sie war nicht verärgert, war nicht eine von denen, die über die Jungen schimpfen, die nur noch ihr Handy im Kopf haben. Nein, sie machte sich ernsthaft Sorgen. Es schien ihr leid zu tun, dass der Mann all das Schöne um sich herum gar nicht wahrnehmen konnte oder wollte. Schließlich ist sie zu ihm hingegangen und hat ihn freundlich angesprochen. „Entschuldigen Sie, aber ich muss Ihnen dass jetzt sagen: Sie schauen ja nur auf den Bildschirm. Sie sehen ja gar nicht, wie schön es hier ist, die Sonne, der Fluss, die Bäume, die Vögel. Schauen Sie sich doch mal um. Legen Sie das Ding doch mal weg. Das raubt Ihnen doch die Welt.“ Der junge Mann lächelte. „Sie haben ganz recht, aber sehen Sie: Ich arbeite gerade. Normalerweise müsste ich in meinem tristen Büro sitzen. Aber durch dieses Ding hier“, er hob sein Smartphone hoch, „kann ich hier draußen sein. Kann ich die Sonne spüren, die Vögel hören und das Rauschen in den Bäumen. Das Ding raubt mir nicht die Welt. Es schenkt sie mir.“
Die Frau hat sich dann zu dem Mann gesetzt und sie haben sich noch eine Weile leise unterhalten. Ich hab ihnen zugeschaut. Sie saßen da, die Vögel haben gesungen, in den Bäumen rauschte ein leichter Wind. Der Bildschirm des smartphones spiegelte sich in der Sonne. So oft sind die Dinge ganz anders, als sie zunächst aussehen.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=42299Ich habe den Soldatenfriedhof in Colleville-sur-mer besucht. Dort liegen die meisten amerikanischen Soldaten, die am 6. Juni 1944 bei der Landung der Alliierten in der Normandie und in den darauffolgenden Kämpfen gefallen sind. Scheinbar endlos reihen sich dort die weißen Kreuze aneinander. Allein die schiere Masse der Kreuze zeigt die Monstrosität der Ereignisse dort vor über 80 Jahren. Der Friedhof liegt etwas oberhalb des als Omaha Beach bezeichneten Strandes. Man hört, wie die Wellen anbranden. Die waren 1944, nach dem sogenannten D-Day Berichten zufolge vom Blut der Soldaten rot gefärbt. Es ist ein Ort, der mich sehr aufgewühlt und ratlos gemacht hat.
Also brauchte ich eine Verschnaufpause und habe mich etwas abseits auf eine Bank gesetzt. Irgendwann habe ich gemerkt, dass hinter dem Gebüsch neben mir ein Liebespärchen zugange ist. Zwei Junge Leute. Sie kicherten und alberten herum, küssten und neckten sich. Das hat mich gestört. Ich bin weggegangen. Ja, ich war entsetzt über dieses respektlose Verhalten an einem so geschichtsträchtigen, würdevollen Ort. Ich bin dann weg und durch die Reihen der Kreuze gegangen. Schließlich ist mir aufgefallen. wie jung die meisten der gefallenen Soldaten waren. Viele 18 oder 19 Jahre alt. Sie sind aus dem Landungsboot gesprungen und über den Strand gerannt mitten ins Maschinengewehrfeuer der Deutschen. Wie ich gelesen habe, waren die ersten Angriffswellen wohl hauptsächlich mit jungen und unerfahrenen Soldaten besetzt, weil die nicht wussten, was auf sie zukommen würde. Man hat wohl geglaubt, dass man sie leichter ins Feuer schicken kann. Dann musste ich wieder an das knutschende Liebespaar von eben denken, das etwa im gleichen Alter sein musste, wie die meisten der Soldaten hier. Die etwas taten, was denen verwehrt geblieben war. Viele dieser dort am Strand Gefallenen haben niemals ein Mädchen geküsst, waren niemals verliebt gewesen. Haben keine Chance dazu gehabt, weil sie den Strand in der Normandie stürmen mussten. Da wurde ich etwas milder in meinem Urteil über das Liebespaar. Eigentlich freute ich mich, dass sie getan haben, was sie getan haben. Dass sie sich verhalten hatten, wie sich junge Leute in diesem Alter verhalten sollten. Dass sie nicht wie ihre Altersgenossen mit einem Gewehr in der Hand auf den Atlantikwall zustürmen mussten, sondern turtelten und knutschten. Und ich war froh, dass sie das konnten. Auch an diesem Ort. Und vielleicht ist es das Beste, was man an so einem Ort tun kann. Sich küssen.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=42298Immer wieder gibt es Bücher oder Spekulationen darüber, wie er ausgesehen haben könnte. Ich erinnere mich an eine Theorie, nach der er groß und schlank gewesen sein soll. Auch an eine, nach der er eher rundlich und klein war und eine Knollennase gehabt hat. Jenseits ihres vermutlich fragwürdigen wissenschaftlichen Werts irritieren mich solche Untersuchungen immer. Weil ich die Frage gar nicht nachvollziehen kann. Mir ist es eigentlich egal, wie Jesus ausgesehen hat. Außerdem glaube ich es schon zu wissen.
Ich bin einmal durch Südtirol gewandert, wo es in den Bergen viele Wegkreuze gibt. Das sind oft sehr schöne Schnitzarbeiten, die ich mir gerne ansehe. Auf dieser Wanderung bin ich an besonders vielen davon vorbeigekommen. Außerdem bin ich unterwegs auch mit vielen Bewohnern der Region ins Gespräch gekommen. Alles kräftige, drahtige Bergbauern. Schließlich hatte ich den Eindruck, dass der Gekreuzigte der Wegkreuze genauso ausgesehen hat. Jesus sieht dort aus wie ein Südtiroler Bergbauer. Aber als ich einmal im Schwarzwald war, hatte ich den Eindruck, Jesus sieht genauso aus wie die Menschen dort im Schwarzwald. Ich war noch nie in Afrika, aber ich habe in einer Ausstellung einmal Kreuze aus Äthiopien gesehen und der Mann, der daran hing, sah aus, wie ich mir Menschen in Äthiopien vorstelle. Ich weiß nicht, ob es so ist, aber ich könnte mir vorstellen, dass Jesus in China aussieht, wie ein Chinese und in Peru, wie ein Peruaner.
Und das finde ich sehr treffend. Wenn die Künstler, die die Kreuze herstellen, sich an den Menschen ihrer Umgebung orientieren, dann ist das ein schönes Bild: Jesus als der Sohn Gottes, der Mensch geworden ist, sieht eben aus wie Menschen aussehen, das ist mal so und mal so. Mal hat er die eine Hautfarbe, mal eine andere, mal trägt er die Haare so, mal so, mal hat er einen Bart, mal keinen. Für mich sind all diese Darstellungen völlig in Ordnung. Jede versucht Jesus zu beschreiben und zu zeigen. Es gibt eben verschiedene Möglichkeiten, wie wir Menschen aussehen. Nimmt man alle zusammen, dann sind in den Jesusdarstellungen alle vertreten. Und dann lässt sich erkennen, wie er ausgesehen hat: Wie einer von uns.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=42297Ob es auch heute noch stimmen würde? Wenn Jesus den Leuten erklären wollte, wie das geht mit dem Glauben und mit dem Gottes-Reich, wie seine Botschaft ankommt bei den Menschen und sich in ihren Herzen ausbreitet, dann hat er das mit Geschichten aus dem Leben getan. Den Alltag, die alltägliche Erfahrung greift er auf und macht sie zu Bildern der Hoffnung.
Da ist einmal der Sämann; der geht über den Acker und wirft das Getreide mit vollen Händen auf den Boden. Klar – den hat er vorher umgebrochen. Aber trotzdem fallen die Körner außer auf fruchtbaren Boden auch auf den Weg nebenan und werden zertreten, fliegen bis unters Gestrüpp und ersticken, landen auf steinigen Flächen und vertrocknen. Insgesamt aber – so verstehe ich diese Bildrede – insgesamt wird die Ernte reichlich sein. GOttes Reich eben, Liebe und Freundschaft und Solidarität schon auf der Erde und dann erst recht im Himmel…
Das Bild geht noch weiter: Nach der Aussaat geht der Bauer heim, schläft, wacht auf, schläft wieder… – und auf dem Acker wächst die Ernte ganz von selbst heran; muss er sie nur noch einbringen – hoffentlich hat er genug Platz im Speicher.
Wer einem Bauern heute zuhört – egal, ob hier im Land oder gar weltweit, könnte beinah verzweifeln angesichts dieser Zuversicht. Wieder steht überall – und vermutlich auch in Europa – ein heißester und trockenster Sommer aller Zeiten bevor. Dürre durchdringt alle Bodenschichten; die Wälder sterben vor sich hin. Und Äcker bringen nur noch Ernten hervor, wenn die Farmer sie großzügig bewässert haben – solange noch Wasser da ist. Und dabei haben viele schon sehr gezielt ausgesät; künstliche Intelligenz und GPS-Steuerung bestimmen, wo und wie viel gesät und gedüngt wird. Das hilft – aber ob es genug ist angesichts der rapiden Erwärmung oder gar Erhitzung der Erde?
Trotzdem: Was Jesus über Aussaat und Ernte sagt und damit auch über Gott und sein kommendes Reich, macht mir Hoffnung. Weil es davon erzählt, wie großzügig Gott ist. Gott sät ja aus ohne Rücksicht auf mögliche Verluste; Gott lädt ein – auch wenn Menschen gerade eher auf andere zu hören scheinen. Darum gibt es für jede und jeden und für alle die fröhliche Aussicht auf ein gutes Ende, auf eine reiche Ernte. Und für diese Hoffnung will ich gern auch weiter mitarbeiten: mit meinen kleinen Kräften gegen die Klimakatastrophe; das gehört für mich dazu, wenn ich die Gute Nachricht von Jesus und Gottes Reich verbreiten will.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=42284Kurz nacheinander waren der Patenonkel unseres Ältesten und seine Frau gestorben – beide in hohem Alter, beide eigentlich schwach und krank; aber eben doch sehr traurig, dass sie die Familie und uns als Freunde verlassen mussten.
Nach Auferstehungs-Gottesdienst und Beisetzung waren wir eingeladen zum Beerdigungs-Kaffee – ist ja immer schön, dass sich da Menschen treffen, die sich lange nicht mehr gesehen hatten – und jetzt gleich zweimal kurz hintereinander. Anderseits schade; weil: wir könnten uns doch eigentlich auch zu schöneren Anlässen wiedersehen, einfach so, ohne traurigen Anlass…
Aber gut – wenigstens jetzt ein paar Kontakte aufgefrischt, Erinnerungen ausgetauscht, noch mal gefragt, wie wichtig wir einander waren und sind. Und dabei lagen Papier-Servietten auf dem Tisch – mit einem dezenten Blumen-Schmuck und dem kurzen Satz: „Trauer ist liebevolle Erinnerung“. Ich fand das eine schöne Botschaft – einen freundlichen Hinweis oder sogar mehr: Trost vielleicht; oder sogar eine Einladung. Jede und jeder wird ja mit dem Tod eines lieben Menschen anders umgehen – eigentlich trauern die Menschen alle unterschiedlich. Manche wehren Trauer ab – weil sie das ein irgendwie schwächliches Gefühl finden; und wer mag sich schon schwach vorkommen oder sich aus dem Alltag herausreißen lassen. Viele zerfließen geradezu, verlieren eine Zeit lang jeden Halt, weil der oder die liebe Verstorbene so etwas wie die Mitte ihres Lebens war. Und die haben sie verloren…
Und dann gibt es die neunmalklugen Ratgeber, die dir sagen: Kopf hoch, geht vorbei, kommst du bald drüber hinweg. Solche Ratschläge eben – und das Wort Schläge ist da ganz richtig: Trauer braucht ihre Zeit – und da darf niemand dreinschlagen mit noch so gut gemeinten Hinweisen oder eben Rat-Schlägen.
Ich wünsche den Überlebenden oder Hinterbliebenen, dass sie sich alle Zeit nehmen und geben lassen, die ihre Trauer eben braucht. Die kann kurz sein – oder auch lang. Manche Trauer hört eigentlich nie auf – aber sie wird sich verändern. Wer aus diesem Leben gegangen ist, mit der oder dem bleibst du verbunden; mehr oder weniger, ein bisschen ähnlich wie die Verbindung auch im Leben schon war. Bald wird die Trauer aufhören, dich zu erdrücken; sie bleibt und wird – hoffenlich – zu liebevoller Erinnerung. Kann sein, dass die Papierserviette auf dem Beerdigungs-Kaffeetisch ein bisschen zu früh dran war – aber sie hat auf Dauer einfach recht: Trauer – auch bleibende Trauer – ist liebevolle Erinnerung.
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