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SWR Kultur Wort zum Tag

20NOV2021
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Und am Ende wartet das Jüngste Gericht! Bedrohlich hört sich das an. Wenn aufgelistet und bewertet wird. Zumindest in der Vorstellung vieler Menschen im Laufe der Geschichte. Der niederländische Schriftsteller Maarten ‘t Hart hat diesen Gerichtsgedanken schon als Zwölf- oder Dreizehnjähriger ausgehebelt. In seiner Familiengeschichte „Magdalena“ stellt er folgende Überlegungen an: „Wenn alle Menschen, die jemals gelebt haben, der Reihe nach abgeurteilt werden müssen, haben wir es mit einer Aufgabe von beispiellosem Umfang zu tun. Selbst wenn man für jedes Urteil nur eine Stunde veranschlagt, dauert es rund anderthalb Millionen Jahre.“ (1)

Sein Fazit: So etwas wie ein Jüngstes Gericht kann es nicht geben. Auch keine göttlichen Mega-Speicher, die alles über mich festhalten und mich am Ende gläsern machen. Die mein Soll und Haben, mein Gelingen und Versagen gegeneinander aufrechnen und mir dann mein Urteil zukommen lassen. Nicht nur bei dem kleinen Maarten regt sich da Widerspruch. Bei mir auch. Dennoch bleiben Fragen. Bekommen die Opfer zumindest am Ende ihr Recht? Was wird aus den Verursachern grausamer Verbrechen, den Kriegshetzern? Was wird aus denen, die zeitlebens auf Kosten anderer gelebt haben? Was wird aus mir mit alldem, wie ich gelebt habe?

Im Apostolischen Glaubensbekenntnis heißt es: „Von dort“ - nämlich vom Himmel – „wird er kommen, zu richten die Lebenden und die Toten!“ Gemeint ist Christus, dem diese Aufgabe des Richtens zugeschrieben wird. Nirgends ist sie besser aufgehoben, denke ich. Indem Gott menschlich wird, lässt er den Menschen nicht außen vor. Damit ist mein Urteil doch längst gesprochen. Ich stehe in einer Reihe mit allen, für die gilt: In diesem Gericht Gottes, fällt am Ende niemand durch die Maschen. Auch wenn es nicht egal ist, wie jemand gelebt hat. Als Schurke oder als Verbrecher. Als Wohltäterin oder als Wohltäter. Als Mensch, der sein Leben zugunsten anderer riskiert hat. Wie das geht? Ich weiß es nicht. Aber dass am Ende die Gerechtigkeit die Oberhand behält, da bin ich mir ganz sicher. Weil Christus dieses Richteramt innehat. Und die Welt zurechtbringt. In aller Unterschiedlichkeit. Auch der zwischen Tätern und Opfern.

Auf diese Einsicht brauche ich keine eineinhalb Millionen Jahre zu warten. Sie verändert mein Leben schon heute. Weil Gottes Richten meinem Menschsein seine Würde gibt. Mich menschlich macht. Und mich leben lässt.

(1) Maarten ‘t Hart, Magdalena. Eine Familiengeschichte

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SWR Kultur Wort zum Tag

19NOV2021
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Davor. Und danach. Fast alle Menschen, die ich kenne, haben solche Zäsuren in ihrem Leben. „Das war, bevor ich den schweren Unfall hatte.“ Oder: „Das ist mir jetzt erst im Ruhestand möglich.“ Manchmal auch: „Damals hat mein Mann noch gelebt.“

Auch Gesellschaften kennen solche Einschnitte, die das Leben in ein davor uns ein danach einteilen. „Vor dem Zweiten Weltkrieg!“ Oder: „Nach dem 11. September 2001!“ Wahrscheinlich werden wir irgendwann auch einmal sagen: „Das war noch vor Corona.“ Oder dann eben: „Das gab‘s erst danach.“

Das danach beschreibt mehr als eine bloße Zäsur. Meist ist eine grundlegende Änderung damit verbunden. Eine Änderung der Einstellung. Des Verhaltens. Der grundlegenden Sicht auf das Leben.

Die Bibel beschreibt an einer Stelle auch eine grundlegende Zäsur in der Geschichte der Menschheit - mit einem davor und einem danach. Ich meine die Geschichte von der großen Flut. Gott hatte seine Lust und seine Freude an den Menschen verloren. Und setzt einen Neuanfang in Gang. Ganz unbeschwert konnte ich diese Geschichte schon als Kind nicht hören. Diesen Bericht von der großen Flut, die alle und alles mit sich in den Tod reißt. Nur die Menschen um Noah und die in die Arche geretteten Tiere haben überlebt.

Was mir diesen Bericht über die Sintflut dann doch immer wieder erträglich macht, ist: Nicht nur Noah und seine Familie fangen danach neu an. Einen neuen Anfang wagt auch Gott selbst. Es reut ihn, dass er so mit der Welt und dem Leben auf der Erde umgegangen ist. Gott sagt: „Nie mehr will ich so etwas wieder tun. Ich lege meinen Kriegsbogen aus der Hand. Lege ihn über den Himmel wie ein schützendes Dach.“ So haben sich die Menschen danach jedenfalls die wunderschöne Erfahrung des Regenbogens erklärt. Dieser bunte Bogen ist der sichtbare Beweis, dass die Erde Zukunft hat. Und Gott verspricht: „Säen und Ernten, Hitze und Kälte, der Zyklus der Jahreszeiten, der Wechsel von Tag und Nacht – ich werde sie nie mehr aussetzen.“ (1. Mose 8,22)

Was für ein danach! Mich tröstet dieser grundlegende Neuanfang Gottes mit den Menschen und mit der Schöpfung. Er macht mir Mut, auch selber auf solche Wechsel im Denken und im Verhalten zu setzen. Nicht nur die gegenwärtige Pandemie lässt sich dann besser ertragen. Sondern noch manch anderes Verzweifeln über menschlichen Irrsinn.

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SWR Kultur Wort zum Tag

18NOV2021
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Ein Grenzübertritt: Eigentlich keine große Sache in unserer globalen Welt: Meist bemerkt man das gar nicht mehr. In vielen Nachbarländern meist sogar noch dieselbe Währung, in manchen dieselbe Sprache. Nur die Straßenschilder haben eine andere Farbe. Seit Beginn der Pandemie ist diese Selbstverständlichkeit plötzlich in Frage gestellt! Doch wieder: Ausland! Risikogebiet. Geschlossene Unterkünfte wegen Corona. Kurzzeitig vereinzelt sogar wieder Absperrungen. Und ich habe die Landesgrenzen eineinhalb Jahre lang nicht mehr übertreten.

Unlängst war ich doch wieder in einem unserer Nachbarländer. In Frankreich. Gar nicht weit weg. Aber eben zum ersten Mal wieder seit Beginn der Pandemie. Ohne besondere Vorkommnisse zwar. Aber trotzdem: Irgendwie war dieses Mal alles anders. Ein wenig jedenfalls. So wie es sich eben anfühlt, wenn das ganz Alltägliche nicht mehr selbstverständlich ist. Ein wenig Fremdheit. Allein schon der anderen Sprache wegen. Ein wenig Staunen über das, was doch anders ist: im Restaurant, im Museum, auch bei den Regeln im Umgang mit Corona.

Jesus war ein begeisterter Grenzüberschreiter. Auch im Blick auf Landesgrenzen. Von Galiläa nach Jerusalem. Nach Samarien. In die Dekapolis, das Land der Zehn Städte. Und nicht selten thematisiert er diesen Grenzübertritt. Erweitert ihn vom Geographischen ins Programmatische. Wagt sich nach Jerusalem, obwohl er weiß, dass es ihn sein Leben kosten wird. Weitet einer Frau aus Samaria den Blick auf das, was ihren Durst nach Leben wirklich stillt. Befreit einen Mann aus dem Land der zehn Städte von seiner psychischen Krankheit.

Ein Grenzüberschreiter war Jesus aber auch, ohne Landesgrenzen zu überschreiten. Den Armen gilt seine bedingungslose Zuwendung. Den verachteten Zolleinnehmern. Den Frauen, die in der Gesellschaft am Rande standen, ob wegen ihrer Krankheit oder weil sie Prostituierte gewesen sind. Diese Grenzüberschreitungen haben Menschen aus der bisherigen Spur ihres Lebens herausgerissen. Und zu einer neuen Haltung, zu einem neuen Verhalten gebracht.

Solche Grenzen zu überschreiten, kann ich auch im eigenen Land üben. Am eigenen Wohnort. Im eigenen Bekanntenkreis. In der Familie. Einfach einmal aussteigen aus vertrauten Rollenzuweisungen. Kein „Du machst das immer so!“ Oder „Nimm dich mal nicht so wichtig!“ Ein Grenzübertritt aus meiner eingeübten Erwartungshaltung hin zur Bereitschaft, mich von einem Menschen überraschen zu lassen. Und das vermeintlich Fremde als Bereicherung zu sehen. Da komme ich aus dem Staunen gar nicht mehr heraus.

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SWR Kultur Wort zum Tag

22SEP2021
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Gerade leben wir in Zeiten des Wahlkampfs! Überall Plakate. Gesichter. Situationen. Daneben kurze Sätze. Slogans. Komprimierte Botschaften, die mich auffordern, dieser oder jener Partei, diesem Kandidaten oder jener Kandidatin meine Stimme zu geben.

Es gibt eine kleine Textpassage in der Bibel, bei der muss ich immer an Wahlplakate denken. Da sagt Jesus Sätze über sich, die direkt aus einer Werbeagentur stammen könnten. „Kommt doch zu mir, wenn euch das Leben schwerfällt oder wenn ihr Lasten zu tragen habt. Ich will euch erquicken. Ich sorge dafür, dass es euch wieder gut geht. Mein Joch ist leicht!“ (Matthäus 11,28+29)

Immer, wenn ich diese Sätze lese, stelle ich sie mir auf große Plakate geschrieben vor. Wenn ich nicht wüsste, wem sie zugeschrieben werden, da wäre ich – ehrlich gesagt – ganz schön skeptisch. Die Zeitgenossinnen und Zeitgenossen von Jesus wussten doch auch schon, was das heißt: Druck. Und auch Unterdrückung. Die Römer als Besatzer im Land. Ungerechte Abgaben, die in den falschen Taschen landen.

Da klingen diese Worte doch eher wie die üblichen haltlosen Versprechen. Große Worte, nichts dahinter! Verstehen kann ich das nur, wenn ich mir klarmache: Jesus beschreibt hier ein Grundsatzprogramm. Aber keines, für das er um Stimmen kämpft, mitten auf dem Markt verschiedenster Anbieter. Jesus lässt vor den Augen und Ohren derjenigen, die ihm zuhören, die Vision einer besseren Zukunft entstehen. Das Bild einer Welt, für die sich die Menschen dann schon auch selber stark machen müssen. Irgendwie wirbt Jesus auch für sich. Aber nicht aus Eigeninteresse. Sondern um den Menschen einen Weg zu eröffnen, Gott zu begegnen.

Die Sprache mag ja nach Wahlkampf klingen. Es geht aber doch noch einmal um etwas ganz anderes. Nicht um die Möglichkeiten der Menschen. Sondern um die Möglichkeiten Gottes. Wenn ich mich auf diese Möglichkeiten verlasse, kann ich mich dann aber auch einmischen. Mich einbringen in die Welt, in der ich lebe.

Ich weiß doch, dass nicht alles so weitergehen kann. Dass ich in meinem Leben einiges ändern muss, um für die großen Fragen der Menschheit Lösungen zu finden. Da ist es gut zu wissen, woher meine Kraft kommt. Und zu entscheiden, worauf es ankommt. Auch wenn das, worauf ich mich einstellen muss, ja wahrhaftig nicht nur leicht ist. 

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SWR Kultur Wort zum Tag

21SEP2021
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Marmelade müssen wir in unseren Urlaub nie von zu Hause mitnehmen. Wir kaufen sie am Straßenrand. Gekocht aus Früchten direkt aus der Region. Mit Sanddorn etwa. Oder mit Heidelbeeren. Auch Kartoffeln kann man so kaufen. Oder Schnittblumen. Neben dem Stand steht eine kleine Kasse. In die wird dann das das Geld geworfen. Vertrauenskasse nennt man diese Art der Bezahlung. Irgendwie scheint dieses System zu funktionieren. Sonst würde es nicht so oft praktiziert.

Mir geht es jedes Mal irgendwie nah, wenn ich in eine Vertrauenskasse bezahle. Ich erlebe hier eine Art des Umgangs miteinander, die auf Kontrolle verzichtet. Und das in einer Welt, die angeblich nicht mehr so gut ist. Da sind Vertrauensklassen eine Möglichkeit zu zeigen, dass das gut geht, dem anderen erst einmal Gutwilligkeit und Ehrlichkeit zu unterstellen. Oder mein Gegenüber dazu zu verlocken. Weil es kaum einen Menschen unberührt lässt, wenn jemand sagt: Ich misstraue dir nicht. Und du musst auch nicht erst beweisen, dass du’s ehrlich meinst. Diese Erfahrung kann einen Menschen ändern. Da bin ich ganz sicher. Und ich frage mich, warum das nur bei Marmelade funktionieren soll.

Seit dem Jahr 2002 ist jedes Jahr am 21. September der Weltfriedenstag. Ausgerufen von den Vereinten Nationen. Unterstützt vomkumenischen Rat der Kirchen, der jedes Jahr an diesem Tag dazu aufruft, Wege des Friedens zu suchen. Im konkreten politischen Handeln. Und im Gebet. Natürlich ist es beim Frieden nicht so einfach wie beim Kauf eines Glases voll Marmelade. Aber die Frage, ob sich eine friedlichere Welt leichter erreichen lässt mit Konzepten, die nur die eigene Sicherheit im Blick haben, stellt sich für mich schon ganz drängend. Meist führen sie nur zu immer neuen Spiralen des Vertrauens allein auf die Kraft militärischer Möglichkeiten. Die schrecklichen Bilder vom Flugplatz in Kabul haben das sehr leidvoll vor Augen geführt.

Es geht nicht um Blauäugigkeit, dazu ist die Weltlage zu komplex und zu angespannt. Es muss immer die Möglichkeit geben, Schwächere zu schützen. „Selig sind, die Frieden stiften“ (Matthäus 5,9), sagt Jesus in der Bergpredigt. Frieden stiften, das ist ein aktiver Prozess, bei dem ich auch in eine Art Vertrauenskasse einbezahle. Mit meinem Vertrauensvorschuss. Und mit der Bereitschaft, den Frieden auch anders zu wagen als nur im Vertrauen auf die eigene Stärke.

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SWR Kultur Wort zum Tag

20SEP2021
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Nein, nicht so schön! Da stehe ich auf dem Bahnsteig. Inmitten dicht gedrängter Menschenmassen. Die meisten wollen dem kommenden Bahnstreik entkommen. Fast alle sind mit einem Koffer unterwegs. Plötzlich die Durchsage: „Umgekehrte Wagenreihung!“ Wer ganz vorne steht, muss ans Ende des Gleises. Und umgekehrt. Aus der Ferne sehe ich schon den Zug heranrollen. Auf dem Bahnsteig geht‘s drunter und drüber. Unzählige Menschen drängeln und schubsen sich in beide Richtungen. Die vom Anfang ans Ende. Und umgekehrt.

Und noch am Gleis kommt mir dieser Satz aus der Bibel in den Sinn: „Erste werden Letzte. Und Letzte werden Erste sein.“ (Matthäus 20,16) Gottes neue Welt, in der ziemlich viel auf den Kopf gestellt wird, was bisher unsere Realität bestimmt. Diese totale Umkehrung der Verhältnisse ist in der Bibel immer wieder Thema. Bei Maria etwa, wenn sie singt: „Gott stürzt die Gewaltigen vom Thron und erhöht die Niedrigen. Den Hungrigen lässt er seine Gaben zugehen. Und die Reichen gehen leer aus.“ (Lukas 1,51+52)

Bei dem, was ich hier am Gleis erlebe, geht’s nicht ganz so himmlisch zu. Aber mit einem Mal geht mir auf: Diese Umkehrung von ganz vorne nach ganz hinten, auch die von oben nach unten – ganz so sanft und geräuschlos kann die auch nicht vonstatten gehen. Der Weg in diese neue Welt, in der Gottes Maßstäbe die unseren ersetzen, der verlangt uns schon Einiges ab. Da müssen vertraute Bilder in unseren Köpfen ersetzt werden. Da müssen Menschen gewonnen und überzeugt werden. Und so manche Machthaber räumen sicher nur mit Druck ihre Throne.

Von heute auf morgen wird das sicher nicht gehen. Oder gar in wenigen Minuten wie am Gleis. Aber womöglich geschieht das alles gar nicht erst in der Zukunft. Sondern hat längst schon angefangen. In Beteiligungsprozessen, die danach fragen, wie bisher Benachteiligte besser in das gesellschaftliche Leben einbezogen werden können. Jüngere oder Ältere. Menschen mit Einschränkungen. Vielleicht fängt dieser große Wechsel der Maßstäbe auch da schon an, wo ich mich schützend vor einen anderen Menschen stelle. Wo ich den Mund aufmache, wenn jemand Unrecht geschieht. Dass ich mitmachen kann in diesem großen Prozess der Veränderung und dabei mithelfen, Gottes neuen Maßstäben Raum zu geben in unserer Welt, das fasziniert mich schon.

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SWR Kultur Wort zum Tag

14JUL2021
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Als Schüler habe ich immer wieder geübt, die Unterschrift meines Vaters nachzumachen. Eingesetzt zu meinen Gunsten hab‘ ich sie nie. Die Ungeheuerlichkeit dieser Tat ist mir immer klar vor Augen gestanden. Vor kurzem bin ich zufällig auf das Lied „Zeugnistag“ von Reinhard Mey gestoßen. In diesem Lied geht es um einen Schüler, der sich genau das traut. Unter sein Zeugnis setzt er die gefälschte Unterschrift seiner Eltern.

Ein glatter Betrug – keine Frage! Der Rektor lädt die Eltern ein und konfrontiert sie mit der gefälschten Unterschrift. Was tun die Eltern? Beide bestätigen sie deren Echtheit. „Ohne Zweifel“ wie sie sagen. Der Schüler weiß schon, was davon zu halten ist: „Ich weiß nicht, ob es rechtens war, dass meine Eltern mich da rausholten.“ Das Lied will keine Anleitung sein, dieses Verhalten nachzuahmen. Es ist gesungen aus der Perspektive eines Zwölfjährigen, der die Erfahrung macht: „Meine Eltern lassen mich nicht fallen!“ Im Lied heißt der entscheidende Satz: „Wie gut tut es zu wissen, dass dir jemand Zuflucht gibt!“

Ich weiß nicht, ob sich die Geschichte so zugetragen hat. Aber in der Bestätigung der Eltern verbirgt sich so etwas wie eine barmherzige Korrektur ihrer Schroffheit, vor der der Junge so Angst hatte. Vorbildlich ist am Verhalten der Eltern, dass sie die Liebe zu ihrem Kind durchhalten, trotz seines Fehlverhaltens. Der Weg, den sie wählen, ist dagegen keiner, der Anspruch auf Wiederholbarkeit erheben kann.

Interessant finde ich, dass Jesus in einem Gleichnis auch einen solchen Weg wählt. Einem Gutsverwalter wird gekündigt, weil er schlecht arbeitet. Bevor er seinen Arbeitsplatz verlässt, rät er den Kunden seines Chefs, in ihren Schuldscheinen den Betrag zu ihren Gunsten zu fälschen. Wenn ich erst einmal nichts zum Leben habe, unterstützen sie mich vielleicht, denkt er. Jesus lobt das Beispiel dieses entlassenen Verwalters. Und lobt damit eigentlich einen Betrüger. Aber nicht der Betrug ist Anlass des Lobes. Vielmehr die Weitsicht und die Vorsorge für die Zukunft.  

Irgendwie ist das Lied von Reinhard Mey also auch eine Art Gleichnis. Ein Werbe-Gleichnis, die eigene Liebe durchzuhalten, in diesem Fall die von Eltern zu ihrem Kind. Aber der erste Blick auf den einzelnen Menschen bleibt immer der der Liebe. Bei Gott ist das so. Und es ist auch für mich immer neu den Versuch wert.

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SWR Kultur Wort zum Tag

13JUL2021
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Warten zu müssen steht in keinem guten Ruf. Ist doch unnütz. Verlorene Zeit. Längst nicht immer ist das so. Das Warten kann höchst aktiv sein. Auch produktiv. Und entscheidend. Wie vor genau zweihundert Jahren in Karlsruhe. Als sich dort die protestantische Generalsynode im Großherzogtum Baden versammelt hat. Die beiden evangelischen Konfessionen im Großherzogtum - Lutheraner und Reformierte - wollten sich zu einer Kirche zusammenschließen. Sie waren sich vor allem in der theologischen Deutung des Abendmahls längst noch nicht einig. Mit einem Katalog von 8 Fragen und Antworten hat ein Team von Experten Antworten vorgeschlagen, in denen sich die unterschiedlichen Denkweisen wiederfinden konnten.

„Welches sind beim Abendmahl die sichtbaren Zeichen?“ wurde etwa gefragt. „Brot und Wein“ war die Antwort, freilich mit dem Zusatz, „welche auch in dem Genusse Brot und Wein bleiben.“ Das war für die einen. Weiter wurde gefragt: „Welches sind die unsichtbaren Güter im Abendmahl?“ Antwort: „Alles, was uns Jesus Christus erworben hat, Vergebung der Sünden, Leben und Seligkeit.“ Das war für die anderen.

Aber wie sollte die Synode zu einem Beschluss kommen? Über das rechte Verständnis des Abendmahls einfach abstimmen? „In Sachen des Glaubens und des Gewissens geht das gar nicht“, – so der Präsident der Synode, Graf Berckheim. Das Ergebnis der Beratungen wurde also vorgestellt. Danach: Warten. Dichtes, intensives, hochemotionales Warten. Volle fünf Minuten. Dann erklärte der Vorsitzende das Ergebnis als angenommen. So ist im Warten eine neue vereinigte evangelische Kirche in Baden entstanden.

Grund zum Feiern ist das allemal. Weil die evangelische Kirche in Baden auf eine nun zweihundertjährige Geschichte zurückblicken kann. Aber auch Grund zum Hoffen! Mit diesem Modell könnte doch auch in Zukunft manches erschwiegen werden, was viele Menschen sehnlichst erträumen. Etwa eine Ökumene, die noch viel weitergeht als das im Moment vorstellbar ist. Auf jeden Fall sollte das Warten können auch hier ein höchst produktives sein. Und kein ängstliches Aussitzen.

Vor 200 Jahren hat sich eine bewährte biblische Weisheit des Jesaja durchgesetzt: „Im Abwarten und Hoffen könnt ihr Stärke gewinnen!“ (Jesaja 30,15) Der Wahrheitsgehalt dieses Satzes lässt mich auch für die Zukunft hoffen.

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SWR Kultur Wort zum Tag

12JUL2021
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Da stoßen in meinem Arbeitszimmer schon zwei Welten aufeinander. Auf der einen Seite der Computer auf meinem Schreibtisch. Gegenüber auf einer Staffelei zwei Seiten einer alten deutschsprachigen Bibel. Wunderschön gestaltet. Mit Initialen. Mit einem farbigen Bild. Mit rankenden Blättern um den Text herum. Alles mit Blattgold verziert. Es sind die Kopien von zwei Seiten aus der sogenannten Wenzelsbibel. Sie ist für den böhmischen König Wenzel IV. um 1400 geschrieben und verziert worden.

In den letzten Monaten hat sie ein wenig Karriere gemacht. Ist Menschen ins Auge gesprungen. Sie steht etwas versetzt in meinem Arbeitszimmer in meinem Rücken. Bei jeder Video-Konferenz ist sie bestens zu erkennen für die Menschen, die sie auf ihrem Bildschirm hinter mir sehen können. Ganz häufig hat mich jemand gefragt, was da für ein schönes Kunstwerk hinter mir zu bestaunen ist. Zwei Seiten der Bibel, so schön, so liebevoll fürs Auge komponiert, dass sie Menschen ins Auge fallen.

Auch wenn’s die Bibel längst auch digital gibt oder als App auf dem Handy – für mich ist sie ein analoges Buch. Etwas zum Anfassen. Zum Blättern. Schön aufgemacht. Weil es in ihr auch um die Schönheit geht. Um die Schönheit der Erde. Um die Schönheit des Menschen. Auch um die Schönheit Gottes. In der Bibel wird diese Schönheit Gottes immer wieder betont. „Schön bist du, mein Gott, und prächtig geschmückt.“ (Psalm 104,1). Die alten Bibelhandschriften sollten in ihrer Pracht und mit ihren kunstfertigen Verzierungen etwas von dieser Schönheit Gottes abbilden.  Die Schönheit, die menschliche Kunst zustande bringt, die Schönheit des Menschen selber, ist deshalb eine Art Spiegel für die Schönheit Gottes.

Diese Botschaft sendet für mich auch diese alte Bibelhandschrift. Die, die sie übersetzt und ihren Text in schönen Buchstaben gemalt haben, sie haben sich diese Schönheit übrigens auch etwas kosten lassen. Sie haben Künstler damit beauftragt. Haben teures Blattgold für die Ausgestaltung verwendet. Sie wollten, dass Gottes Schönheit ins Auge sticht. Sogar in diesen Buchseiten. Die Reaktionen der Menschen, die mir im digitalen Treffen gegenübersitzen, beweisen: Der Plan der Menschen vor mehr als 600 Jahren ist aufgegangen. Ihre liebevolle Kunst erweist sich bis heute als Hinweis auf die Schönheit Gottes. Ich bin dankbar, immer wieder auf Spiegel dieser Schönheit zu stoßen.

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SWR Kultur Wort zum Tag

06APR2021
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„Die Knotenlöserin“ - eigentlich ist es ein Kinderbuch. Um eine geheimnisvolle Frau geht es, die sitzt einfach am Brunnen. Die, die zu ihr kommen, Menschen, Tiere, alles, was sich bewegen kann, bringen mit, was in ihrem Leben verschlungen und verknotet ist. Jeder dieser Knoten könnte  für etwas ganz Konkretes stehen: eine Beziehung, die nicht mehr so recht weitergeht, ganz gewöhnliche Alltagsprobleme, die Angst vor einer bösen Diagnose, die Trauer um den Menschen, der so unerwartet gestorben ist. Die Knotenlöserin löst die Knoten auf, ganz sorgfältig und behutsam. Und alle gehen irgendwie gelöst und beschwingt davon.

Eine österliche Geschichte, finde ich. Jesus, um den es an Ostern ja geht - er ist den Menschen auch einfach nah gewesen. Wo immer er Menschen begegnet, da heilt, da löst er, was sie einengt. Doch die, die ihre Herrschaft sichern möchten, wollen ihn zum Verstummen bringen. Und am Ende ins Grab. Aber zuletzt ist auch der Tod entknotet. Und der Stein vor seinem Grab weggeschoben. Die Frauen, die das Grab leer vorfinden, fürchten sich. Zusammen mit den Jüngern bringen sie sich hinter verschlossenen Türen in Sicherheit. Die Begegnung mit dem Auferstandenen ändert mit einem Mal alles. Ihre Angst löst sich. Sie spüren, dieser Tod war nicht das Ende, sondern ein neuer Anfang.

Selten habe ich die Sehnsucht, dass sich der Knoten, der das Leben derzeit engmacht, löst, so sehr gespürt wie in diesen Ostertagen. Die Hoffnung darauf, einander wieder näher zu kommen. Die Erwartung, dass die Impfung so etwas wie einen Schutzmantel über mein Leben legt.

In den biblischen Berichten, in denen der Auferstandene Jesus seinen Freundinnen und Freuden erscheint, grüßt er sie mit den Worten: „Friede sei mit euch!“ Das ist mehr als ein Wunsch. Das ist eine Zusage, wie wenn er sagen wollte: „Ich löse die Knoten eures Lebens. Ich bringe euch mit, was euch fehlt.“ Frieden, ja. Aber für uns heute auch die Kraft, gut und bewahrt durch diese Zeiten der Pandemie zu kommen.

So könnte Ostern in meinem Leben ganz schnell konkret werden. Als Hoffnungsgeschichte, die mich in diesen schwierigen Zeiten trägt. Die mich aushalten lässst, was eigentlich über alle Kräfte geht. Und die im Gruß des Auferstandenen, in seinem „Friede sei mit dir“ auf die Spur der Gewissheit stößt: Sogar mitten in der Pandemie kann es Ostern werden.

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Lena Raubaum, Clara Frühwirth, Die Knotenlöserin

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