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SWR4 Sonntagsgedanken

19MAI2019
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Singen macht frei

Anfang Mai habe ich ein Weihnachtslied gesungen: „Maria durch ein Dornwald ging“. Zusammen mit einer alten Frau. Und das war gar nicht komisch. Irgendwie war es ganz selbstverständlich. Ich möchte Ihnen erzählen, wie es dazu kam.

Frau Volkmann ist fast 90. Die Beine haben nicht mehr die Kraft, die sie früher hatten. Sie friert oft. Die Augen sind auch nicht mehr so gut. Vieles, sagt sie, ist nicht mehr so schön. Aber ihren Verstand hat sie noch. Darauf ist sie stolz. Ich habe sie zum Geburtstag besucht. Wir haben Rummikub gespielt. Während des Spiels hat sie gesagt: „Sagen Sie mal, Herr Pfarrer, können Sie singen?“ Ich habe geantwortet: „Ja, es geht. Kirchenlieder kann ich singen. Für Schlager taugt meine Stimme nicht.“

Einen Moment war Frau Volkmann in sich versunken. Dann hat sie erzählt: „Mein Lieblingslied ist „Maria durch ein Dornwald ging“. Ich habe immer wieder gedacht: Das Leben ist wie ein Wald. Das Leben ist voller Dornen. Und wenn das Jesuskind kommt, tragen die Dornen Rosen. Darauf baue ich.“ Nach einer kurzen Pause haben wir gemeinsam gesungen. Frau Volkmann war glücklich.

Solche Geschichten begegnen mir oft im Berufsalltag. Singen verbindet die Menschen. Egal, ob ich mit Erwachsenen oder Jugendlichen Musik mache. Ich merke dabei immer wieder: Singen ist einer der schönsten Wege, um Gottes Spuren zu finden. In den Melodien, in den Texten und in der Gemeinschaft mit anderen Sängerinnen und Sängern. Und das geht nicht nur mir so, glaube ich. Vielleicht kennen sie das auch…

Beim Singen passiert ganz viel. Der Atem wird trainiert. Wer singt, atmet durch. Wenn ich singe, muss ich den Mitsängern zuhören. Oder ich kann mich an den guten Sängern orientieren. Sänger helfen sich gegenseitig. Der Rhythmus der Musik bringt den Körper in Bewegung. Gerade bei Kindern sind die Lieder oft von kleinen Choreographien begleitet, damit Musik und Text ihnen wortwörtlich in Fleisch und Blut übergehen. Zu singen bringt Körper und Geist in Bewegung. Und in Kirchenchören treffe ich Menschen, die zwar nicht an Gott glauben. Aber beim Singen spüren: Durch diese Welt zieht sich eine überirdische Melodie. Ich glaube: Wer singt, findet die Harmonie des Lebens.

Miteinander zu singen – auch wenn nicht jeder Ton passt – ist ein großes Geschenk. Wer gemeinsam singt, teilt miteinander die Stimme. Wer gemeinsam singt, teilt Zeit miteinander. Und ich finde: Wer singt, lässt sich nicht unterkriegen. Das erleben alle, die singen. Musik tut gut. Man fühlt sich freier und unbeschwert.

Singen setzt Energie frei

In der Bibel wird davon erzählt, dass Gesang sogar Fesseln sprengen kann. Es heißt: Paulus wurde mit seinem Mitarbeiter Silas in den Kerker geworfen. Um ganz sicher zu gehen, dass Paulus und Silas nicht fliehen, wurden den beiden Fußfesseln angelegt. Ihre Lage war aussichtslos und bedrohlich. Mit Fluchthilfe konnten sie nicht rechnen.

Trotzdem, erzählt die Bibel: Um Mitternacht beginnen beide, zu singen. Genauer heißt es: „sie lobten Gott“. Vermutlich haben sie religiöse Lieder gesungen. So, wie die Sklaven auf den Baumwollfeldern in Amerika. Oder wie die Anhänger der Reformation zur Zeit Luthers. Sie haben Lieder vom Vertrauen auf Gott gesungen. Und das hat ihnen Mut gemacht. Das hat ihnen Kraft gegeben.

Bei Paulus und Silas im Gefängnis ist ein Wunder geschehen. Die Erde bebt, die Ketten reißen, die Tür zum Kerker geht auf. Wie genau das möglich war? Keine Ahnung.

In der Bibel ist der Clou der Geschichte, dass der Kerkerwächter vom Gottvertrauen der beiden so beeindruckt ist, dass er sich mit seiner Familie taufen lässt.  Die Lieder vom Gottvertrauen haben also zwei Dinge bewirkt: Paulus und -Silas haben ihre Freiheit zurück. Und sie haben auch andere beeindruckt und ihnen Gottvertrauen vermittelt.

Ich weiß: Wenn ich heute mit Menschen singe, dann werden sie nicht wie durch ein Wunder gesund. Ich weiß: Körperliche oder seelische Fesseln zerspringen nicht einfach. Trotzdem mag ich diese Geschichte. Sie beschreibt, wie viel Energie im gemeinsamen Singen liegt. Zum einen will ein Kerkerwächter in Zukunft mitsingen. Zum anderen vertreibt Gesang die Hoffnungslosigkeit.

Letzte Woche habe ich mich mit Frau Schwertfeger unterhalten. Sie ist 55 Jahre alt. Sie arbeitet gerne und viel. Manchmal hängt ihr die Arbeit aber zum Halse raus. Dann wird ihr alles zu viel und am liebsten würde sie die ganze Arbeit einfach hinschmeißen. Sie hat mir erzählt: Wenn ich keine Energie mehr habe, dann singe ich ‚Der Himmel geht über allen auf. Das habe ich im Kindergottesdienst gelernt. Das ist jetzt über 40 Jahre her, aber damit lade ich immer noch meine Batterien auf. Dann wird der Himmel wieder weit über mir. Und dann geht es weiter.

Gerade so, als würde die Stimme die Seele aus der Hoffnungslosigkeit rausziehen. In diesem Sinne hat Martin Luther mal gesagt, dass die Musik ein Geschenk Gottes ist. Ich singe gern, weil ich das auch schon genauso erlebt habe.

Ich hoffe, ich konnte Sie mit meinen Geschichten ermutigen, heute das Singen mal auszuprobieren. Vielleicht haben Sie ja ein Lieblingslied. Vielleicht ist es sogar ‚Maria durch ein Dornwald ging‘, wie bei der Frau, die ich besucht habe. Ich weiß jetzt: Das kann man auch im Mai noch singen.

Ich wünsche Ihnen eine gesegnete und melodiöse Woche.

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SWR4 Sonntagsgedanken

Kirchenasyl Den Haag
Am 1. Februar habe ich eine wunderbare Nachricht gelesen: 2200 Stunden langer Gottesdienst beendet. Dieser Gottesdienst, der über 90 Tage gedauert hat, hat in Den Haag in den Niederlanden stattgefunden. Aber nicht, um ins Guiness-Buch der Rekorde zu kommen. Mit diesem Gottesdienst wurde einer Familie aus Armenien Asyl gewährt.

Ich erzähle Ihnen mal, wie es dazu kam. Vor 9 Jahren schon ist  Familie Tamrazyan aus Armenien geflohen. In den Niederlanden haben sie Zuflucht gefunden. Sasun Tamrazyan, der Familienvater, hat sich in seiner Heimat politisch engagiert. Er war ein Gegner nationalistischer Politik. Dafür wurde er verfolgt. 2009 war das.

Sasun Tamrazyan verließ mit seiner Frau und den drei Kindern Armenien. Die älteste Tochter war 12, der Sohn 10 und die jüngste 6. Alle sprechen heute fließend niederländisch. Die älteste Tochter Hayarpi studiert. Regelmäßig hat die Familie den Gottesdienst besucht. Alle fünf sind Christen. Wer die Vorgeschichte nicht kennt, könnte meinen: Die Familie Tamrazyan ist wegen eines Berufswechsels in die Niederlande gekommen.

Die Nachbarn sagen: Die Tamrazyans sind sehr gut integriert. Letzten Herbst sollte die fünfköpfige Familie trotzdem abgeschoben werden. Zuerst haben sie in ‚ihrer‘ Kirche in Katwijk Hilfe gesucht. Doch das konnte die Gemeinde nicht schaffen. In Den Haag ist dann die Idee zu dem monatelangen Gottesdienst entstanden. Die Polizei darf in den Niederlanden nämlich nicht in ein Gotteshaus, wenn dort gerade Gottesdienst gefeiert wird. Christliche Pfarrer aus den Niederlanden, Belgien und Deutschland waren rund um die Uhr im Einsatz.

Für die Familie wurden eine Küche und ein Bad eingerichtet. Nach drei Monaten ist das nun zu Ende: Die Familie darf bleiben. Und das nicht irgendwie aus Gnade. Man hat einfach ein geltendes Gesetz neu angewandt. Es heißt: ‚Kinderpardon‘. Wenn eine Familie in den Niederlanden ein Kind bekommt, darf die Familie bleiben. Für die Tamrazyans hat man gesagt: Die Kinder sind seit 9 Jahren hier, besuchen die Schule, studieren. Das soll auch gelten dürfen!
Auch für andere Familien in den Niederlanden spielt das eine Rolle: 600 weitere Familien sind nun genauso geschützt und dürfen bleiben.

Diese Geschichte geht mir zu Herzen. Sie hat ein gutes Ende. Und es ist eine internationale Geschichte. Pfarrerinnen und Pfarrer aus unterschiedlichen Ländern mit unterschiedlichen Sprachen haben zusammengearbeitet. Ja, im Grunde wünsche ich mir, dass die Kirche so ist. Sie überschreitet Grenzen für die Menschen, die Hilfe brauchen. Das geht nicht immer und überall. Aber es geht immer wieder.

Solche Grenzüberschreitungen gab es schon immer. In der Bibel wird eine Geschichte von Paulus erzählt. Paulus wollte im Nordwesten der heutigen Türkei das Evangelium von Jesus verbreiten. In der Nacht vor seiner Reise hatte er einen Traum. Er hat geträumt, dass ihn ein Mann aus Mazedonien ruft. „Komm rüber zu uns und hilf uns“, hat er gerufen. Am nächsten Tag ist Paulus mit seinen Mitarbeitern nach Europa gesegelt.

Für Paulus und seine Mitarbeiter war klar: Gott hat sie gerufen. Und Paulus sollte auch Erfolg haben. In Philippi hat sich eine Frau namens Lydia taufen lassen. Lydia wurde in der heutigen Türkei geboren. Ist dann aber wegen besserer Berufsaussichten nach Mazedonien gezogen. Lydia gilt als erste Christin Europas. In ihrem Haus hat sich die erste christliche Gemeinde in Europa zum Gottesdienst getroffen.

Ich mag auch diese Geschichte sehr. Auch sie liegt mir am Herzen. Lydia, die aus der Türkei kommt, wird die erste Christin. Paulus, der aus der Türkei kommt, erlebt seinen ersten Erfolg. Beide sind für die Stadt Philippi ein Gewinn. Zum Glück haben das die Menschen damals so gesehen und sich zu Herzen gehen lassen, was Paulus gesagt hat. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn sie gesagt hätten: Zieht weiter, wir wollen Euch hier nicht. So war es ja aber nun nicht. Paulus und Lydia haben eine Landesgrenze überschritten. Und sie durften bleiben. Ist das nicht eine wundervolle doppelte Grenzüberschreitung? Lydia und Paulus kommen aus der heutigen Türkei und mit beiden fängt das Christentum in Europa an. Bei ihnen merkt man: Woher sie kommen ist so wichtig gar nicht, weil die Botschaft zu Herzen geht. Und daraus entsteht dann eben großes. In diesem Fall eine 2000jährige Glaubensgeschichte.

Menschliche Grenzen, wohl auch menschliche Horizonte, spielen für Gott anscheinend nicht die wichtigste Rolle. Das lese ich aus der Geschichte von Paulus und Lydia. Diese Spur finde ich auch in der Geschichte der armenischen Familie in den Niederlanden. Die entscheidenden Grenzen liegen im Herzen. Die Menschen entscheiden im Herzen, was ihnen wichtig ist. Und Gott, so glaube ich, hat damals in Philippi und heute in Den Haag die Herzen bewegt. Schön, wenn Menschen das zulassen können.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen eine grenzenlose Woche.

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SWR4 Sonntagsgedanken

Nehmen ist seliger als Geben. Schon mal gehört? Ja, sagen Sie vielleicht, so verhalten sich viele. Die nehmen, was sie kriegen können. Aber schön ist das nicht. Schon gar nicht so kurz vor Weihnachten. Gerade da denkt man doch eher ans Schenken und sagt dazu: Geben ist seliger als nehmen. Anderen etwas schenken, das macht einem ja auch selber Freude.

Aber Nehmen ist seliger als Geben, das steht jedenfalls auch in der Bibel. Der Apostel Paulus hat das in einem Brief an die erste christliche Gemeinde in Rom geschrieben. In der Bibel kann man das nachlesen (Rö 15,7). Paulus denkt dabei allerdings nicht an Weihnachtsgeschenke. Er denkt an andere Menschen. Ich glaube, er meint: Wer andere annimmt, macht ihnen das größte Geschenk.

Paulus schreibt über Menschen, die sich im Alltag begegnen. Und er sagt: Nehmt jeden und jeden so an, wie er ist. So hat Jesus das auch gemacht. Das soll Euer Vorbild sein.

Ja, denke ich und: Das ist aber richtig schwer. Wenn ich aus meinem Büro auf die Straße schaue, dann sehe ich jeden Tag auf eine Bushaltestelle und auf einen Grünstreifen. Eine Frau an der Bushaltestelle trägt einen Pelzmantel. Ein junger Mann führt seinen Hund Gassi und zerrt an der Leine. Ein Punker spuckt auf den Gehweg. Ich sehe immer wieder Menschen, bei denen mir der Gedanke schwer fällt: Den nehme ich an, wie er ist.

Dafür müsste ich nämlich zuerst einmal den anderen ansehen, ohne ihn zu bewerten. Und dann braucht es auch Interesse am Gegenüber. An der Frau mit dem Pelz. Die könnte ich fragen: Warum tragen Sie noch Pelzmäntel? Den Punker könnte ich fragen: Was stört Dich an der Gesellschaft, dass Du anders sein willst? So könnte das klappen, den anderen anzunehmen. Interesse haben. Sich die Geschichten anhören, die der andere erzählt. Die Geduld mitbringen und signalisieren: Hier darfst Du offen sprechen. Hier darfst Du Du sein.

Ich frage mich das ja auch manchmal: Was sehen diese Menschen, wenn sie mich ansehen? Glatze, Brille, schiefe Zähne? Das fände ich ziemlich schlimm. Und ziemlich oberflächlich. Ich wünsche mir ja auch, dass man mich kennenlernt. Dass die Leute hinter die Oberfläche schauen und ich meine Geschichten und Gedanken erzählen kann. Weil das gut tut. Weil mich das ermutigt, so zu sein, wie ich bin.

Ich habe erlebt, wie das sein kann. Vor zwei Jahren habe ich an einem Friedensgebet teilgenommen. Wir standen unter einem Kreuz vor einer Kirche. Wir waren nur 6 Personen. Wir haben immer gehofft, dass noch andere kommen. Plötzlich kam ein Mann auf uns zu. Er hat eine vergilbte Armeejacke getragen. Er hat ziemlich streng gerochen. Er hat sich in unseren Kreis gestellt, aber mit uns gefremdelt. Wir haben uns angeschaut und uns mit Blicken gefragt: Was mag er wollen?

An einer Stelle im Friedensgebet durfte jeder laut Gedanken äußern. Da hat der Mann erzählt: Mein Vater hat damals dieses Kreuz gebaut. Er hat es nach dem Krieg aufgestellt. Als Zeichen, dass Gott stärker ist, als das, was die Menschen kaputt macht. Und ich danke Gott, dass ich die Kraft habe, trocken zu sein. Und ich danke Euch, dass ich mich zu Euch stellen durfte. Mit diesen Worten ist er gegangen. Ich weiß nichts weiter über ihn. Nur, dass er froh war, weil er anscheinend gemerkt hat: Hier bin ich angenommen.

„Nehmt einander an, wie Jesus Euch angenommen hat“ (Röm 15,7).  Paulus hat diesen Gedanken mit Jesus verbunden.

Für Paulus war klar: Jesus hat auf der Welt so gelebt, wie Gott es sich wünscht. Und Paulus hat sich gewünscht, dass das fortgesetzt wird. Deshalb hat er den Menschen erklärt, wie das geht. Eben: Einander annehmen. Ich finde: Das hat mit Advent ganz buchstäblich zu tun. Advent heißt übersetzt Ankunft. Und das heißt ja nicht nur, dass Weihnachten ankommt. Ankommen möchte auch jeder einzelne Mensch, der einem begegnet. Ankommen und angenommen werden. 

Wenn ich dann an den Mann denke, den ich beim Friedensgebet getroffen habe, dann merke ich: Jemanden anzunehmen, wie er oder sie ist, ist das größte Geschenk. Der Mann hat den Mut gefunden, seine Geschichte mit uns zu teilen. Und wir, die so ganz anders leben als er, waren ihm dafür die richtige Gruppe. Bei uns hat er sich wohl gefühlt. Wie gut, dass wir nicht von ihm abgerückt waren!

Ich glaube, das kann man üben. Mir hilft es, wenn ich mich immer mal wieder frage: Wie sehen mich die Menschen, wenn ich auf sie zukomme? Das verändert meinen Blick auf andere. Dann ist es gar nicht mehr so schwer, andere anzunehmen. Ich glaube, dass das wirklich das schönste Weihnachtsgeschenk ist: Jemanden annehmen, so wie er ist. In diesem Sinne ist Nehmen seliger als Geben.

Ihnen allen einen gesegneten 3. Advent und eine gute Woche.

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SWR4 Sonntagsgedanken

Es fällt leicht, sich zu schämen

„Ich schäme mich.“ Wer das sagt, weiß, dass er einen Fehler gemacht hat. Oder, dass er nicht so gut war, wie er sich es vorgenommen hatte. Wenn ein Mensch sich schämt, dann ist sein Gesicht gerötet. Die Augen sind auf den Boden gerichtet, damit bloß keiner dem Beschämten in die Augen schauen kann. Dass einer sich schämt, kann man wegen solcher Zeichen gut erkennen.

Dabei sind die Gründe, um sich zu schämen, sehr unterschiedlich. Schon Kleinigkeiten können der Anlass sein. Ich war selbst mal dabei: Auf einem 80. Geburtstag hat einer der Gäste ein Glas Rotwein umgestoßen. Der Wein hat sich über den Tisch und das Kleid der Gastgeberin ausgebreitet. Oh, das war peinlich! Der Gast hat es ja nicht beabsichtigt, es war ein Missgeschick. Aber fast eine Viertelstunde lang konnte er danach mit der Jubilarin nicht mehr sprechen. So geschämt hat er sich für seine Tollpatschigkeit.

Was hätte er jetzt tun können? Er konnte ja nicht so tun, als ob nichts wäre. Es hatte auch jeder gesehen, dass er es war. Am liebsten wäre er wohl weggelaufen. Aber das ging ja nun gar nicht

Die Feier hätte an dieser Stelle für alle unangenehm werden können. Jeder am Tisch hätte sich bemüht, die Rotweinflecken zu übersehen. Niemand hätte das Missgeschick angesprochen. Die Scham des Gastes hätte sich ausgebreitet. Den anderen hätte er leidgetan. Manche hätten sich für ihn geschämt.

Dann hat das Geburtstagskind schließlich gesagt hat: „Es ist doch nicht so schlimm!“ Da konnte die Feier ungetrübt weiter gehen. Ich nehme mal an, dass beide ein paar Tage später über diesen Zwischenfall lachen konnten. So kleine Missgeschicke eignen sich beim nächsten Geburtstag, um die Stimmung aufzulockern: „Weißt Du noch, wie ich damals den Rotwein verschüttet habe?“.

Tatsächlich ist es ja so, dass die meisten Menschen ziemlich genau wissen, was richtig ist. Oder auch was falsch ist. Meistens lehren einen ja Eltern und Großeltern Werte und Ideale. Wenn ich dann einen Fehler mache, dann schäme ich mich. Und da sind die Tischmanieren nur ein Beispiel.

Faszinierend oder? Ein schlechtes Gewissen oder Scham breiten sich über den ganzen Tisch aus. Gott sei Dank ist das ja dann nicht passiert. Und es ist deshalb nicht passiert, weil die Jubilarin es deutlich angesprochen hat: Ja, Du hast einen Fehler gemacht. Wir wissen es beide. Ich spreche es jetzt aus. Und damit helfe ich Dir aus Deiner Scham und wir verstehen uns weiter gut. Mit Scham kann man umgehen.

So offen damit umzugehen, wenn sich einer schämt, das hilft sehr. Es hilft, das schlechte Gewissen zu vertreiben. Für den 80. Geburtstag war das wie ein Neuanfang der Feier.

Es fällt leicht, Scham zu überwinden

Scham ist ein grundlegendes Gefühl. Seit Jahrtausenden ist es als Empfindung den Menschen vertraut. Schon in den allerersten Geschichten der Bibel kommt deshalb auch Scham vor. Und zwar als erstes Gefühl der Menschen überhaupt.

Die beiden ersten Menschen, Adam und Eva, bekommen von Gott zwei Regeln gesagt. Die erste Regel: Sie dürfen von allen Bäumen im Garten Eden essen. Die zweite Regel: Nur von einem bestimmten Baum dürfen sie nicht essen.

Aber natürlich: Das macht sie erst recht neugierig. Also essen beide von diesem Baum. Und gleich danach schämen sie sich. Denn mit ihrer Neugier und ihrer Eigenmächtigkeit stehen sie ganz schön nackt da.  Abends, erzählt die Bibel, geht Gott im Garten spazieren und unterhält sich mit Adam. Dieses Mal aber versteckt sich Adam, weil er sich schämt, nackt zu sein.

Ich finde ganz spannend, was dann passiert. Gott fragt Adam: Warum hast Du denn meine Regel nicht eingehalten? Und Adam sagt: Die Frau hat mir zu essen gegeben. Da fragt Gott die Frau: Warum hast Du das gemacht? Und Eva schiebt es auf die Schlange. Ich finde das interessant, weil es so realistisch ist: Wer sich schämt, der kann seinen Fehler nicht zugeben. Der versucht seine Schuld abzuschieben auf andere.

Um die Konsequenzen ihrer Tat kommen beide nicht herum erzählt die Bibel. Sie können nicht länger in dem paradiesischen Garten bleiben, wo man sich nicht zu schämen braucht. Nun leben sie in der realen Welt und kennen das Gefühl, sich zu schämen. Sie schämen sich vor Gott, voreinander und vor sich selbst.

In der Geschichte wird dann aber auch erzählt, dass Gott reagiert. Er lässt beide nicht nackt da stehen. Er hilft beiden aus ihrer Scham und macht ihnen Kleidung. Er zeigt damit: Ja, Ihr habt einen Fehler gemacht. Wir wissen es alle. Ich spreche es aus. Ihr müsst die Konsequenzen tragen. Aber ich helfe euch, mit der Scham umzugehen und wir verstehen uns weiter gut. Ein Neuanfang für die drei.

Mir macht diese Geschichte in zweierlei Hinsicht Mut. Erstens macht sie mir Mut, ehrlich zu sagen, wenn ich mich mal schäme. Das ist der erste Schritt zu einem Neuanfang. Und zweitens ermutigt sie mich auch, anderen aus der Scham heraus zu helfen. Das geht, wenn ich wie Gott in dieser Geschichte oder die Jubilarin auf dem Geburtstag ernst nehme, was den anderen beschämt.

Oft lässt sich das lösen. Mit Verständnis, mit einem Gespräch, und indem ich mich in den anderen hineinversetze. Mit Scham kann man umgehen. Es liegt an mir, ob ich den anderen nackt da stehen lasse oder sein Missgeschick anspreche und verzeihe.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen eine gesegnete Woche.

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SWR4 Sonntagsgedanken

Im Versteckspiel Vertrauen lernen
Kennen Sie das Kuckuck-Spiel? Neulich habe ich im Park eine Großmutter beobachtet, die das mit ihrem Enkelkind gespielt hat. Das kleine Kind hat im Kinderwagen gelegen. Seine Großmutter hat sich die Hände vors Gesicht gehalten. Und nach kurzer Zeit wieder von ihren Augen wegbewegt. Dabei hat sie gerufen: „Da ist die Oma!“

 

Das kleine Kind hat laut und fröhlich über den Platz gequietscht. Die beiden haben mir so viel Spaß gemacht bei ihrem Versteckspiel das ich eine Weile zusehen musste. Für das Kind war das anscheinend ein lustiger Wechsel: Mal ist die Oma weg und ganz plötzlich ist sie wieder da. Und auch die Großmutter hatte sichtbar Freude an dem gemeinsamen Spiel.

Ein bisschen mehr steckt aber in diesem Spiel: Denn das Kind lernt dabei Schritt für Schritt, dass die Oma eben doch da ist. Und nicht einfach verschwindet. Für ein sehr kleines Kind gilt nämlich das alte Sprichwort „Aus den Augen, aus dem Sinn.“ Wenn es sie nicht direkt vor Augen hat, dann ist für das Kind die Oma einfach nicht da. Ein  paar Monate später kann man dieses Spiel aber nicht mehr spielen. Da ist dem Kind klar: Die Oma ist bloß versteckt. Sie ist aber trotzdem ganz in der Nähe.

Und wenn das Kind noch älter wird, wird es eines Tages verstehen: Die Oma wohnt vielleicht in einem anderen Ort. Aber sie ist da, ich denke an sie und sie denkt an mich. Darauf kann ich vertrauen.

Diese kleine Beobachtung vom Heranwachsen hat für mich auch etwas mit mir und Gott zu tun. Den habe ich ja auch nicht jeden Tag vor Augen. Ich suche ihn. Und ich freue mich, wenn ich das Gefühl habe: Da ist er gerade. An einem besonders schönen Tag vielleicht. Wenn etwas gelungen ist. Wenn ich mich freuen kann. Diese Erfahrungen helfen mir zu glauben, dass er auch an den anderen Tagen ganz in der Nähe ist. Auch, wenn ich ihn nicht sehen kann.

Und es tut mir gut, wenn ich mich an diese Momente erinnere. Einen hatte ich vor ein paar Wochen in dem Park, wo die Großmutter gespielt hat. In diesem Park steht eine Bank am äußersten Ende. Zwei Bäume stehen rechts und links. Ich habe mich an einem stressigen Tag dort hingesetzt. Ein Brunnen plätscherte. Es ging ein leichter Wind. Und in dem Moment dachte ich: gerade ist alles um mich herum und in mir friedlich. In solchen Momenten spüre ich: Gott ist ganz in der Nähe.

Leider war dieser Augenblick nicht für die Ewigkeit gemacht. Jetzt warte ich schon wieder eine ganze Weile auf so einen Moment. Selber machen kann ich so einen nicht. Da heißt es, die Geduld bewahren. Gott wird sich schon wieder bemerkbar machen.

Trotz Versteckspiel weiter vertrauen
Ich glaube: Das lässt sich gut auf die Beziehung zwischen Menschen und Gott übertragen. Ich kann ihn zwar auch nicht sehen, manchmal fühlt er sich weit weg an. Trotzdem ist er da.

Dieser gute Gedanke ist aber nicht von mir. Ich leihe ihn mir von Jeremia aus dem Alten Testament. Jeremia war ein Prophet. Das heißt, er hat den Menschen gesagt, was Gott ihm gesagt hat. Einmal muss Jeremia die Menschen erinnern: Gott hat sich Euch schon ein paar Mal gezeigt. Er hat Euch aus Ägypten befreit. Er hat Euch die 10 Gebote gegeben. Vergesst nicht, wann und wo Ihr Gott schon getroffen habt. Und dann lässt Gott noch ausrichten: „Ich bin ein Gott, der sich weit weg anfühlt. Das heißt aber nicht, dass ich nicht da bin! Ich bin überall.“ (Jer 23,23f.)

Das ist, finde ich, bis heute ein guter Ratschlag: Nicht vergessen, wann und wo ich Gott schon einmal getroffen habe. Das hilft, nicht aufzugeben, auch wenn Gott sich ganz weit weg anfühlt.

Ich erinnere mich an ein Gespräch mit Peter. Peter ist 62, er hat zwei Kinder und ist gerade Großvater geworden. Er hat mir erzählt: „Es ist schon Wahnsinn. Mit so einem kleinen Menschen, das ist wie ein Wunder. Die Welt wird gleich viel schöner.“ Das ist doch nah an dem dran, was Gott sagt, oder? Ich bin überall. Und im Wunder der Geburt ist für Peter die Welt ganz wundervoll.

Ein bisschen später hat Peters anderer Sohn den Kontakt zu ihm abgebrochen. Peter fragt sich: „Warum muss das sein?“ Für Peter fühlt sich Gott weit weg an, wenn er daran denkt. Er sagt mir: „Ich fühle mich ganz allein gelassen.“ Dann erinnert er sich an die andere Erfahrung mit dem Enkel, wie schön die Welt sein kann. Und er denkt daran, dass Gott sich ihm gezeigt hat. Das macht ihm Hoffnung, dass alles besser wird. Das macht ihm Mut, den Kontakt zu seinem Sohn wieder zu suchen.

Das ist natürlich viel ernster als das „Kuckuck-Spiel“ von Oma und Enkel auf der Bank in der Stadt. Aber es geht in beiden Fällen ums Vertrauen. Das Enkelkind lernt: Die Oma ist da. Peter lernt: Gott ist da. Das Kind, weil es die Oma immer wieder findet und ihr vertrauen lernt. Peter, weil er in seinem Leben Gott schon einmal ganz nah gespürt hat. Wenn er sich daran erinnert, fasst er Vertrauen. Weil er weiß: Gott ist bei mir, auch wenn es sich gerade ganz anders anfühlt..

Erinnern Sie sich doch heute mal daran: Wo haben Sie Gott schon einmal getroffen? Ich glaube:  Es wird nicht das letzte Treffen gewesen sein. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen eine gesegnete und treffliche Woche.

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SWR4 Sonntagsgedanken

Ich möchte Ihnen heute Morgen erzählen, wie das bei meiner Freundin Inga war. Inga hat einen tollen Beruf. Sie bereist die ganze Welt. Wenn sie im Büro kreative Ideen hat, dann werden die übernommen. Immer wieder schickt sie Fotos per E-Mail an ihre Freunde. Auf denen schaut sie selbstbewusst und fröhlich in die Kamera. Manchmal ist es fast ein bisschen unheimlich: So ein tolles Leben! Und ab und zu denke ich: Inga lebt voll auf der Sonnenseite.

Aber es gab auch andere Zeiten. Ich erinnere mich: Inga war bis vor 10 Jahren überhaupt nicht selbstbewusst! Kreativ war sie damals schon, ja. Aber: Keine ihrer Ideen und Gedanken sind ihr wertvoll vorgekommen.

Jeden Freitag haben wir bis tief in die Nacht ihre Pläne besprochen. Das war immer nach Feierabend, nach dem Jobben. Inga hat dann zum Beispiel gesagt: „Am liebsten würde ich Kunst studieren. Oder nein: Noch lieber würde ich Architektur studieren.“ Eine Woche später hat sie dann neue Pläne mitgebracht. Plötzlich wollte sie Flugbegleiterin werden. Wieder eine Woche später hat sie sich ein Leben als Romanautorin vorgestellt.

Was sollte ich tun? Ich habe zu jedem Vorschlag gesagt: „Das ist eine gute Idee!“ Auch, wenn ich manche Idee überhaupt nicht gut gefunden habe. Aber irgendwie hatte ich das Gefühl: Jemand muss sie an die Hand nehmen. Damit sie nicht den Halt verliert. Ich habe das wenigstens einmal in der Woche versucht.

Damals hat mir Inga sehr leid getan. Ich habe gedacht: Was lastet sie sich da auf, wenn sie denkt, jetzt alles alleine schaffen zu müssen?
Einige Zeit später hat Ingas Cousine geheiratet. Ich habe Inga zu dieser Hochzeit begleitet. Ein bisschen Sorgen hatte ich natürlich. Wie würde das werden? Zwei Menschen versprechen einander, gemeinsam durchs Leben zu gehen. Genau das also, was Inga gefehlt hat.

Dann waren wir in der Kirche. Besonders gut haben wir das Fenster im Chorraum der Kirche gesehen. Zu sehen war Jesus. Er hat freundlich gelächelt und die Arme ausgebreitet. Ich fand: Er hat für eine positive Stimmung in der Kirche gesorgt. Diese positive Stimmung hat auch Inga gespürt. Wie positiv sich dieses Bild von Jesus auswirken würde, hätten allerdings Inga und ich nicht erwartet.

Inga wird an die Hand genommen

Nach dem Gottesdienst hat Inga vor der Kirche zu mir gesagt: „Ich habe die ganze Zeit auf das Fenster mit Jesus geblickt. Und da habe ich gemerkt: Gott begleitet mich auf meinem Weg. Ich habe viele, viele Möglichkeiten. Und Gott wird mich schon das Richtige finden lassen.“ Ich habe nichts geantwortet. Aber das war auch gar nicht nötig. In diesem Moment hat es nämlich begonnen, dass Inga zuversichtlicher und selbstbewusster geworden ist.

Immer, wenn ich Inga heute treffe, muss ich an diese Geschichte denken. Sie erinnert mich daran, dass Gott uns nah ist. Obwohl Inga gar nicht mit ihm gerechnet hat, hat er ihr weitergeholfen. Inga konnte endlich eine Entscheidung treffen: Doch Architektur. Einfach, weil sie wusste: Wenn das der falsche Weg ist, dann wird Gott mir einen neuen anbieten. Es war aber der richtige Weg!

Für mich ist diese Geschichte deshalb immer auch ein Hinweis auf Jesus. Der hat einmal zu seinen Jüngern gesagt: Ich bin bei Euch alle Tage. Denen ist es damals ähnlich zu Mute gewesen wie Inga. Sie haben auch nicht gewusst, welche Wege sie gehen sollen. Jesus hat ihnen mit seinen Worten Mut gemacht, sich auf den Weg zu machen. Sie wären ja nicht allein. Gott begleitet sie.

Inga hat das in der Stunde in der Kirche mit dem Bild von Jesus gespürt. Manche spüren Gottes Begleitung in einem guten Gespräch. Oder wenn ein anderer sie buchstäblich an die Hand nimmt. Oder wenn jemand sie bittet: Hilf mir, ich brauche Dich. Wo Menschen so etwas begegnet, da stimmt noch, was Jesus gesagt hat: Ich bin bei Euch alle Tage.

Das sind alles Beispiele, in denen einer für den anderen die Arme offenhält wie Jesus auf dem Kirchenfenster. Es sind Beispiele, die ausdrücken: Du musst es nicht alleine schaffen. Mit Inga habe ich erlebt: So finden Menschen den Weg, den sie gehen können. Denn Gott begleitet sie. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen eine gesegnete und begleitete Woche.

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SWR4 Feiertagsgedanken

Der Weihnachtsbaum für den Nachbarn

Weihnachten ist schon fast wieder vorbei. Wieder einmal. Schade eigentlich. Die Vorbereitungen in meiner Familie haben sich gelohnt. Es war ein schönes Fest, nicht ohne Anstrengung. Aber so ist Weihnachten eben. Jetzt werden die Geschenke langsam weggeräumt und im Radio kommen statt der Weihnachtsmusik wieder andere Lieder. Heute, am zweiten Weihnachtsfeiertag, da klingt Weihnachten langsam aus.

Einzig standfest für die nächsten zwei Wochen bleibt der Weihnachtsbaum. Der kommt erst aus der Stube hinaus, wenn die Feuerwehr in holt. Bis dahin erinnern die Christbaumkugeln noch an Heiligabend. Und die Nadeln auf dem Fußboden erinnern daran, dass nächstes Jahr der Baum länger haltbar sein sollte.  

Haben Sie einen Weihnachtsbaum? Also ich habe keinen. Ich habe nur ein paar Tannenzweige an meinem Adventskranz. Vermutlich ist das so, weil ich noch keine Kinder habe. Der Weihnachtsbaum ist eigentlich etwas für Kinder. An ihm haben früher nämlich die Geschenke gebaumelt. Alles, was man Kindern damals Gutes tun konnte: Kekse waren am Baum, Äpfel und – ganz wichtig – Dauerwurst!

Ja wirklich, Wurst am Weihnachtsbaum. Ein Winzer aus einem Dorf in Rheinhessen hat mir davon erzählt. Früher, in den ‚schlechten Zeiten‘ war das. Und der Weihnachtsbaum hat auch nicht in der Wohnstube gestanden, sondern in der Wirtschaft im Dorf. Am zweiten Weihnachtsfeiertag sind die Männer in die Wirtschaft gegangen und haben die Kinder mitgenommen. Die Kinder haben dann ein Lied gesungen oder ein Gedicht aufgesagt. Dafür durften sie sich etwas vom Baum pflücken. Da ist eine Wurst bestimmt sehr beliebt gewesen.

Der Wirt hat damals den Baum behängt. Er konnte sich übers Jahr den Schmuck für den Baum ansparen. Für die Erwachsenen im Ort war die Wurst am Baum natürlich kein Kinderspiel. Man hat sich ja früher im Dorf gut gekannt. Die Leute haben gewusst, bei wem kein Fleisch auf den Tisch kommt an Heiligabend. Und so ist der Weihnachtsbaum damals ein ganz praktisches Stück Nächstenliebe gewesen.

Ich finde das großartig. Das ist so handfest! Was für eine gute Idee: Seinen Baum so zu schmücken, dass andere davon etwas haben. Das ist ein ganz zentraler christlicher Gedanke: Die Wohlhabenden geben den Armen etwas ab. Das war im Dorf ganz konkret. Der Wirt hat den Familien am Weihnachtsbaum etwas zurückgegeben. Jeder sollte ein freudvolles Weihnachten feiern können.

Dabei hat der Weihnachtsbaum in den Kirchen einen schweren Start gehabt. Es hat den Geistlichen am Anfang überhaupt nicht gefallen, dass die Menschen für ihre Kinder einen Baum geschmückt haben. Im Grunde hatten sie Angst davor, dass der Baum in der Stube oder im Dorf Weihnachten ruiniert.

Wie der Weihnachtsbaum in die Kirche kam

Nicht alle waren mit dem Brauch einverstanden, einen Baum aufzustellen. Gerade in der Kirche
Und das kam so: In Straßburg, am Münster, war Johann Dannhauer als Pfarrer tätig. Er war ein kluger Mann und der Tannenbaum war ihm natürlich bekannt. Im Münster gab es schon seit Jahren einen Weihnachtsbaum. Das hat Pfarrer Dannhauer auch akzeptiert. Plötzlich aber haben auch reiche Familien einen Weihnachtsbaum in ihre Häuser gestellt. Das hat Pfarrer Dannhauer nicht gefallen.

Er hat befürchtet, dass die Menschen vor lauter Baum Jesus vergessen. Und so hat er auf die privaten Weihnachtsbäume geschimpft. Er hat sie eine Lappalie genannt. Ein Kinderspiel, von dem die Kinder ihre Geschenke schütteln können. Alles in allem, hat er gesagt, ist der Weihnachtsbaum ein schlimmer Brauch. Die Familien verwenden zu viel Zeit auf das Schmücken des Baumes. Das Wichtigste geht dabei verloren: Der Baum raubt den Menschen die Zeit, an Jesus zu denken.

Zum Glück, möchte ich sagen, hat sich Pfarrer Dannhauer nicht durchgesetzt. Die Familien, die sich für ihre Kinder einen Baum gekauft haben, sind sensibler gewesen als der Geistliche. Denn sie haben, finde ich, eines gemerkt: Im Zentrum von Weihnachten steht ein Kind, das alle Hilfe braucht, um groß zu werden und die Welt zu verändern. Der Weihnachtsbaum, das haben die Bürger in Straßburg früh gemerkt, hat in diesem Sinne sehr wohl mit Jesus zu tun.

So hat sich der Brauch, einen Baum zu schmücken letztlich durchgesetzt. Erst in den Wohnungen der ganz Reichen, dann in der Wirtschaft im Dorf, wo man die Kinder beschenkt hat, und schließlich ist er  in unsere Wohnzimmer gekommen. In der Bibel heißt es an einer Stelle: Lasst uns fröhlich sein an Gott. Schmückt das Fest mit Zweigen. Gottes Güte gilt ewiglich (Ps 118, 24.27.29). Ich finde: Der Weihnachtsbaum fasst das gut zusammen: Fröhlichkeit, Schmuck und liebevoll beschenkt zu werden.

Jetzt, wo Weihnachten ausklingt, bleibt bei vielen Familien der Weihnachtsbaum noch zwei Wochen stehen. Das ist schön so. Er erinnert an den fröhlichen Heiligen Abend. An die Geschenke. Und wenn Sie an die Würste denken, von denen ich erzählt habe: Dann erinnert er Sie jetzt vielleicht auch noch einmal daran, wie viele nicht das Nötigste zum Leben haben. Eine Wurst am Baum nützt da wenig. Aber vielleicht fällt Ihnen ja sonst noch etwas ein, wie Sie helfen können. Ganz konkret bei Ihnen im Ort vielleicht.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen noch gesegnete und herzhafte Weihnachtsstunden.

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SWR4 Sonntagsgedanken

Teil 1 – Holger fragt sich: War das alles ein glücklicher Zufall? 

Selbstvertrauen oder Gottvertrauen? Letztlich hängt das wohl am eigenen Standpunkt, ob ich denke: Da hatte Gott seine Finger im Spiel. Oder ob ich mit Gott eher nicht rechne und sage: Zufall! Oder auch Glück gehabt. Oder Pech gehabt. Wie verschieden man das sehen kann, das habe ich vor ein paar Tagen erlebt. Bei einem Besuch bei Holger und Ingrid. Sie sind jetzt Mitte 60. Wir haben gemeinsam im Garten gesessen. Es war ein warmer Tag, es gab Kekse und von der Veranda aus haben wir über die Weinberge geschaut. 

Das Paar hat zusammen einen Betrieb geführt. Sie haben sich etwas aufgebaut.  Aber jetzt, eben mit Mitte 60, haben die beiden sich zusammengesetzt und sich gesagt: „Wir wollen die Früchte unserer Arbeit genießen.“ 

Und Ingrid hat mir erzählt: „Wissen Sie mein Mann hat einen Herzinfarkt gehabt. Das war ein Warnschuss! Wir mussten einfach aufhören. Es war ein Segen, dass alles gut gegangen ist.“ Nach einem kurzen stillen Moment brummte Holger: „Nein, das war Glück.“ Gemeint hat er wohl: Das hätte auch anders ausgehen können. Was für ein Glück, dass der Notarzt schnell da war. 

Aber Ingrid hat ihm widersprochen. Sie hat das anders gesehen: „Nein, das war schon so gewollt!“, Warnschuss hatte sie ja gesagt. Da hat uns einer warnen wollen. Da wollte uns einer zeigen: Passt auf! Ihr seid nicht mehr die Jüngsten. Seid vorsichtig. Tretet kürzer!  Lasst die viele Arbeit. Genießt lieber euer Leben! So habe ich Ingrid jedenfalls verstanden. Und ihr Mann wohl auch: „Ei ja.“, hat er noch geantwortet. Dann haben mich beide angeschaut. So als wollten sie sagen: Herr Pfarrer, sagen Sie doch mal was dazu. 

Was sollte ich nun aber sagen?  Ich kann Holger ja verstehen: Er hat sich so viel aufgebaut, er war Jahrzehnte lang sein eigener Chef. Er hat die Fakten in seinem Betrieb gekannt. Er ist der gewesen, der bei Problemen eine Lösung gefunden hat. Wahrscheinlich hat er gewusst: Wenn ich mich nicht darum kümmere – dann macht es keiner. Da hat ihn die Meinung von Ingrid bestimmt nicht überzeugen können. Dass ein anderer sich um ihn und sein Wohl kümmert – für Menschen wie Holger ist das anscheinend ein komischer Gedanke. 

Noch bevor ich allerdings etwas sagen konnte, hat Holger gesagt: „Naja, irgendetwas wird es schon geben! Damit alles seinen Sinn hat.“ Holger hat damit eine höhere Macht gemeint. Und ich habe verstanden: ‚nur‘ Biologie und Medizin sind ihm dann doch zu wenig gewesen um sein Leben zu verstehen. Ein Gott, der den Dingen Sinn gibt, ist schon da, hat Holger gesagt. 

Ich denke, Holger steht auf einer Grenze. Auf der Grenze zwischen Selbstvertrauen und Gottvertrauen.

Musik. 

Teil 2 – Holger merkt: Was Sinn hat, muss ein Wunder sein. 

Selbstvertrauen oder Gottvertrauen – das ist die Frage. Holger, hat nach seinem Herzinfarkt gemerkt: Ich kann nicht alles allein regeln, obwohl es mir bisher so vorkam.  In den SWR 4 Sonntagsgedanken habe ich gerade davon erzählt.  Holger hat gemerkt: man braucht nicht nur Selbstvertrauen – man braucht auch Gottvertrauen. 

Für Holger war sein Herzinfarkt doppelt schlimm. Nicht nur wegen seiner Gesundheit. Sondern auch, weil er gemerkt hat: Ich habe nicht alles im Griff. Das war für ihn eine Grenzerfahrung. Und deshalb steht er jetzt auf der Grenze zwischen Selbstvertrauen und Gottvertrauen. Was soll nun gelten? 

In der Bibel gibt es eine Geschichte darüber. Ein Mann hat ein krankes Kind. Er kann ganz genau die Fakten über die Krankheit aufzählen. Das Kind fällt zu Boden. Es hat starke Speichelbildung. Es knirscht mit den Zähnen. Es wird starr. Aus dieser Beschreibung wird ziemlich klar, dass das Kind in der Geschichte Epilepsie hat. Das Tragische ist: All sein Wissen hilft dem Mann leider gar nicht. Er hat es nicht in der Hand, wann wieder so ein Anfall kommt. 

Er bringt sein Kind zu Jesus und spricht ihn an: „Wenn Du kannst, hilf ihm!“ Jesus ist verärgert darüber, dass der Mann sagt „Wenn Du kannst.“ Der Mann soll ihm etwas zutrauen – ohne Vorbehalt. Der Mann antwortet: „Ich vertraue ja. Hilf mir, noch mehr zu vertrauen.“ Und Jesus tut das. Er heilt sein Kind. 

Ich finde: Holger und der Mann aus der Bibel sind sich ähnlich. Beide sind selbstständig. Beide können ihre Situation gut beschreiben. Aber sie stehen auch beide auf der Grenze. Beide merken: Wir haben nicht alles in der Hand. Da braucht es Gottvertrauen. Der Mann in der Bibel geht zu Jesus. Er hofft, dass er dort Hilfe bekommt. 

Und Holger? Ich habe ihn kurz nach meinem Besuch in der Stadt getroffen. Da hat er gesagt: „Ich bin froh, dass die Chance bekommen habe, mich jetzt um andere Dinge zu kümmern als um die Arbeit.“ Haben Sie es gemerkt? Er hat auch eine Chance bekommen, hat Holger gesagt

Die hat er sich nicht selbst erarbeitet. Gott hat für mich gesorgt. Er hat mich behütet. Für Holger ist das eine neue Erfahrung.  Und die tut ihm gut. Er muss nicht mehr alle Probleme alleine lösen. Holger hat jetzt Zeit, sein Leben zu genießen. Dafür ist er dankbar. Und: Der Warnschuss hatte seinen Sinn. 

Auf der Grenze zwischen Selbstvertrauen und Gottvertrauen hat Holger entschieden: Gottvertrauen! So kann man gelassener leben. 

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen eine gesegnete Woche.

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SWR4 Sonntagsgedanken

Man lernt im Leben nicht aus. Das habe ich neulich mal wieder gemerkt und das kam so: Anfang Juni beginnt bei uns in der Kirche die Hochzeitssaison. 15, 16 Trauungen haben wir jedes Jahr. Einige davon sind meine Aufgabe. Manche Paare sind Anfang zwanzig, andere Mitte vierzig. Wieder andere möchten einen Dankgottesdienst zur Silberhochzeit. Oder sogar zur Goldenen.

Wenn ich die Paare vergleiche, dann merke ich immer: Je jünger das Paar, desto akribischer wird die Hochzeit geplant. Warum sie einen Gottesdienst wollen – um ihre Dankbarkeit auszudrücken für ihr gemeinsames Glück oder weil sie Gott um Segen und Beistand bitten wollen: das spielt anscheinend nur eine kleine Rolle. Hauptsache, der Tag wird der schönste Tag des Lebens. Dachte ich jedenfalls. Ein Paar zum Beispiel, das ich vor einiger Zeit getroffen habe: Die Braut und der Bräutigam sind zu mir ins Pfarrhaus gekommen; zum Traugespräch. Die Braut hat dann nach der Begrüßung aus einer großen Tasche einen dicken Ordner geholt. Er war voller Klebezettel für die verschiedenen Themen: Kleid, Location, Gästeliste, Musik, Gottesdienst, Fotoshooting.

Die Braut hat eine Reihe von Fragen gestellt: von wo aus darf der Fotograf Bilder machen? Wann kann die Hochzeitssängerin singen? Können die Gäste zuerst die Kirche verlassen, um uns dann mit Seifenblasen vor der Kirche zu begrüßen? Haben Sie einen Vorschlag für einen Trauspruch, in dem Gott nicht vorkommt?

Ich mag es, wenn die Leute fragen! Wirklich! Ich bin der Meinung, dass ein Gottesdienst zur Hochzeit zu dem Paar passen soll. Denn letztlich ist es ja ihr Tag. Ich schmunzle nur ab und zu, weil ich denke: Irgendwie wäre doch Gott ganz passend, wenn das Paar sich einen Gottesdienst wünscht.

Oder kommt es den Brautpaaren am Ende doch nur auf die Show an? Um all die Aaahs und Ooohs? Manchmal frage ich mich das. Aber sehen Sie – genau da hab‘ ich gemerkt, dass man im Leben nicht auslernt. Diesen Sommer haben sich die meisten Paare als Lesung aus der Bibel einen Text von Paulus gewünscht. Der geht so:

Die Liebe sei ohne Falsch. Hasst das Böse, hängt dem Guten an. Respektiert einander. Seid fröhlich in der Hoffnung, geduldig in Trübsal und beharrlich im Gebet!

Ich frage dann immer: Was gefällt Ihnen denn daran? Und alle Paare, die sich diesen Text aussuchen, sagen: Er beschreibt so lebensecht, wie man miteinander umgehen soll! Darauf kommt es doch an! Auf das Gute, auf Respekt, Hoffnung und Geduld!
Ach, habe ich da gedacht: Haben sie sich doch mehr Gedanken gemacht, als ich erwartet habe. Sie haben klare Vorstellungen davon, worauf es ankommt. Und mir hat der liebe Gott jemanden geschickt, der mich daran erinnert.

Anscheinend mögen die Brautpaare an diesem Text, dass er klar macht:  Auch Gott hat ein großes Interesse daran, dass die Menschen wissen, worauf es ankommt. Wie sie miteinander umgehen sollten, damit ihr Leben gelingt.

Deshalb schickt Gott uns Anregungen, wie unser Leben gut werden kann. Zum Beispiel solche Bibelworte, wie sie das Brautpaar ausgesucht hat. Aber Gottes Anregungen fallen nicht einfach so vom Himmel. Er braucht Menschen, die sie vermitteln. Den Pfarrer zum Beispiel, der so ein Bibelwort ins Gespräch bringt. Oder ein junges Paar, dass dem Pfarrer die Augen öffnet, dass er zwei Menschen unterschätzt hat.

Ich sehe das so: Ich bin Pfarrer von Beruf, Sie sind vielleicht Bäcker oder Lehrerin, oder Hausfrau. Jede und jeder ist in seinem Beruf gut eingeübt. Und was man häufig wiederholt, klappt immer besser. Man bekommt Erfahrung und Übung. Die Wahrscheinlichkeit, dass beim gleichen Handgriff etwas schiefgeht, wird ganz gering. Wer sich noch mehr Erfahrung und Möglichkeiten wünscht, macht eine Weiterbildung. Das regt an im Beruf und bringt einen weiter.

Das gilt genauso für Hobbys. Wer gerne grillt, kann heute an jeder Ecke Grillseminare besuchen. Wer gerne strickt, geht zum Strickabend. Wer gärtnert, hat sich vielleicht ein Gartenmagazin abonniert. Der Mensch kommt, so denke ich, immer gerne voran. Man lässt sich anregen und findet neue Ideen und Möglichkeiten.

Und das gilt auch fürs Menschsein: Für das Brautpaar war der Abschnitt aus der Bibel so eine Anregung und Erinnerung. Und ich habe gleich zweierlei gelernt: Ich dachte ja, es käme dem Paar nur auf die Show an. Dabei war das ganz falsch! Sie haben mich schließlich daran erinnert, worauf es ankommt im Zusammenleben.

Halten Sie doch mal diese Woche Augen und Ohren offen. Nehmen Sie eine Prüffrage mit: Gibt es Menschen, die mich quasi in Gottes Auftrag anregen? Nicht in jedem Satz wird Gott drinstecken. Keine Frage. Nicht jeden Menschen schickt der Himmel. Auch keine Frage. Aber es ist gut möglich, dass Sie etwas hören oder sehen, worauf es ankommt. Da ist Gott dann dabei.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen einen gesegnete und anregende Woche.

 

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SWR4 Sonntagsgedanken

Eine alte Dame steht jeden Morgen angstfrei auf

„Nein, Angst habe ich eigentlich nicht.“ Das hat mir eine alte Dame gesagt. Sie wohnt allein. Ihr Mann ist schon lange tot. Die Kinder wohnen weit weg. Sie hat gerade Geburtstag gefeiert. 85 Jahre ist sie alt geworden. Sie weiß, dass sie keine 30 mehr ist. Aber sie freut sich wie früher auf jeden neuen Tag. Wie macht sie das?

Wir sitzen in einer kleinen Ess-Ecke. Vor mir dampft eine Tasse Kaffee. Sie trinkt nichts, sie erzählt. „Ich nehme jeden Tag, wie er kommt.“, sagt sie. Und dann zählt sie auf, was sie an einem Tag so alles macht.

Jeden Morgen duscht sie fünf Minuten eiskalt. Das mache sie munter. Dann fährt sie mit dem Auto in die Stadt. „Auch jetzt im Winter“, sagt sie. „Die Straßen sind zwar glatt – man muss aufpassen. Aber ich bleib nicht gern den ganzen Tag zu Hause!“ Schon vor Jahren ist ihr Mann gestorben. Das war eine schwere Zeit. Aber aufgeben komme nicht in Frage.

„Wovor soll ich schon Angst haben?“, fragt sie mich. Ich nippe an meinem Kaffee und warte auf die Antwort. Ich bin mir sicher, diese Frau weiß die Antwort selbst am besten. „Wissen Sie, jeden Abend bete ich und sage Gott danke für den Tag. Für das, was ich erlebt habe. Für das, was morgen noch auf mich wartet.“ „Deshalb geht es mir gut.“, sagt sie noch.

Die alte Dame steht morgens auf und freut sich auf den Tag. Sie vertraut darauf, dass er gut wird. Beneidenswert, oder? Ich dagegen steh manchmal morgens auf und wälze gleich die Sorgen für den ganzen Tag in meinem Kopf. Das sind die Tage, an denen ich sage: „Hoffentlich ist bald morgen!“ Die Dame beschreibt ihre Tage genau anders herum: „Schön, dass heute ist.“

Sie ist ein Mensch, der keine Angst hat. Sie sagt, ihr Glaube hilft ihr. Weil sie weiß: Ich bekomme genau die Kraft von Gott, die ich für den Tag brauche.

In der Bibel gibt es eine Geschichte, in der ein Vater für sein schwer krankes Kind bittet. Die Bekannten des Vaters sagen zu ihm: Gib auf! Es ist zu spät! Aber Jesus sagt dem Vater: Fürchte Dich nicht, hab Vertrauen! Zu dem Mädchen sagt er: Steh auf. Und das Mädchen steht tatsächlich auf.

Ich mag diese Geschichte. Mir gefällt der Unterschied zwischen ‚Gib auf!‘ und ‚Steh auf!‘ Der passt zu der alten Dame, die ich zum Geburtstag besucht habe. Sie lebt, als würde Jesus zu ihr sagen: „Steh auf!“.

Sie glaubt, dass Gott ihr die Kraft für den Tag gibt. Deshalb kann sie jeden Tag aufstehen.

Aufstehen beginnt mit Vertrauen

Nicht jeder Tag ist gleich gut. Das ist keine Frage. Manchmal fällt man, auch wenn man morgens voller Energie aufgestanden ist. Die alte Dame weiß das. Als ihr Mann gestorben ist, ist sie gefallen. Als die Kinder weggezogen sind, ist sie gefallen. Einmal ist sie auch im Wortsinn gefallen: Nach einem Sturz hatte sie sich den Arm gebrochen.

Es ist nie schön, wenn man fällt. Aber es gehört wohl zum Leben dazu. Deshalb hat Jesus zu einem schwer kranken Mädchen gesagt: „Steh auf!“ erzählt die Bibel. Und tatsächlich, es gelingt. Das Mädchen kann wieder aufstehen.

Ich finde: Wer sich an dieser Geschichte orientiert, braucht nicht am Boden liegen zu bleiben. Stattdessen kann jeder Sturz einen weiterbringen. Zu dem Vater des Mädchens hatte Jesus gesagt: „Fürchte Dich nicht, hab Vertrauen!“ Wer sich nicht fürchtet, kann aufstehen. Der innere Mensch kann jeden Morgen erwachen und auf einen guten Tag warten. Auch wenn es von außen betrachtet ganz anders aussieht.

Die alte Dame hat mir von der Zeit erzählt, als sie plötzlich alleine war. Die Kinder waren aus dem Haus. Ihr Mann ist krank geworden. Sie hat ihn zu Hause gepflegt. Aber schließlich ist er gestorben. Da war sie allein.

Sie sagt: „Das war ein Schlag.“ Lange hat sie sich wie gelähmt gefühlt. Die beiden waren immer zusammen. Plötzlich ging das nicht mehr. In dieser Zeit war sie nicht vor der Haustür. Sie konnte nicht. Im Grunde hatte sie damals aufgegeben.

Wenn sie zurückblickt, weiß sie gar nicht genau, was sie am Leben gehalten hat. Heute sagt sie: „Ich war noch da. Und eines Tages habe ich gedacht: Meine Zeit ist noch nicht gekommen!“

Sie hat innerlich erlebt, wie das ‚steh auf!‘ stärker ist als das ‚gib auf!‘ Diese Erfahrung hat sie gemacht. Dafür ist sie dankbar. Mit dieser Erfahrung wacht sie morgens auf. Mit dieser Haltung beginnt sie den Tag.

 „Angst habe ich eigentlich nicht“, so hatte die alte Dame beim Kaffeebesuch es gesagt. Ich finde in diesem Satz steckt alles drin. Das Vertrauen darauf, die nötige Kraft für den Tag zu haben. Das Wissen, dass natürlich immer auch etwas Schlimmes passieren kann. Und die Zuversicht, dass der Tag trotz allem gut wird.

Jesus würde das Glauben nennen. Gottvertrauen. Das hilft gegen die Angst. So kann man aufstehen. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen eine gesegnete und angstfreie Woche.

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