« Zeige Beiträge 11 bis 20 von 5239 »
„Was man anfängt, das bringt man auch zu Ende“ – dieser Satz hat sich wie eine Regel in mich eingebrannt, weil ich ihn als Kind immer wieder gehört habe. Aber ist diese Regel überhaupt sinnvoll?
Immer wieder höre ich von Menschen, die solche Glaubenssätze mitbekommen haben. Eine Patientin in der Psychiatrie hat mir im Gespräch ihren Glaubenssatz verraten. Er heißt: „Im Leben bekommt man nichts geschenkt.“ Und eine Bekannte, die drei Kinder großgezogen hat und inzwischen Oma ist, hat bisher auch nach einer übernommenen Regel gehandelt: Sie hat immer versucht, es allen recht zu machen.
Manche meiner Glaubensätze sind mir bewusst. Aber ich bin mir sicher, es gibt auch welche, die ich so verinnerlicht habe, dass ich sie gar nicht wahrnehme. Ich verhalte mich in bestimmten Situationen so, wie sie es mir vorgeben und so prägen sie mein Leben.
Solche Glaubenssätze haben durchaus Vorteile: ich weiß, wie ich mich in bestimmen Situationen verhalten kann und habe klare Maßstäbe, was gut oder schlecht ist. Immerhin habe ich mit diesen Sätzen als Kompass bis jetzt überlebt.
Aber manchmal können sie mir auch das Leben schwer machen. Sie können mich z.B. daran hindern, glücklicher und zufriedener mit mir selbst zu sein, wenn ich sie für absolute Wahrheiten halte, die immer und überall gelten. Denn dann nehmen sie mir die Möglichkeit, Dinge auch mal aus einer anderen Perspektive zu sehen. Oder sie hindern mich auszuprobieren und zu erleben, was passiert, wenn ich etwas mal anders mache als sonst.
Meine Bekannte, die es immer allen recht machen wollte, hat ihren Glaubenssatz vor Kurzem über Bord geworfen. Sie hat entschieden: Du musst es nicht immer allen recht machen, du darfst auch mal biestig sein.
Die Patientin in der Psychiatrie, die überzeugt davon war, dass man im Leben nichts geschenkt bekommt, hat auf einmal Dinge entdeckt, wo sie sehr wohl beschenkt war, z.B. mit einer treuen Brieffreundin, die ihr bis heute regelmäßig schreibt.
Und auch mein eigener Glaubenssatz, dass man zu Ende bringt, was man begonnen hat, konnte ich hier und da schon mal ignorieren. Ich habe gemerkt, dass ich sehr wohl etwas abbrechen konnte, ohne dass es fertig war. Und es hat weder mir noch jemandem anderen geschadet. Eine befreiende Erfahrung!
Ich glaube, es lohnt sich den eigenen Glaubensätzen auf die Spur zu kommen. Wenn sie mir bewusst sind, dann kann ich entscheiden, sie zu ändern, mich von ihnen zu lösen oder an ihnen festzuhalten. So wie es dem Leben dient.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=38805Ich mag die Pfarrer-Braun-Krimis. Die Fälle sind oft Nebensache, es geht oft um den Wortwitz und die Tricks, mit denen der Pfarrer den Kommissar hintergeht, hinter seinem Rücken ermittelt und damit am Ende die Polizeiarbeit rettet. In einem der Krimis gibt es einen Dialog zwischen dem Kommissar und dem Pfarrer. Da sagt Pfr. Braun mit seinem typischen schwarzen Hut und dem Schirm in der Hand: „Gott hat die Menschen nach seinem Abbild erschaffen. Und ich bin dazu da, sie daran zu erinnern.“ Darauf fragt der Kommissar: „Auch die Atheisten?“. Pfarrer Braun antwortet ihm mit nüchternem Witz: „Insbesondere die Atheisten.“
Mir gefällt dieses kurze Gespräch. Ich möchte auch gerne daran erinnert werden, dass ich und die anderen alle nach dem Abbild Gottes geschaffen sind. Das heißt für mich nämlich, dass ich jedem Menschen, der mir begegnet, Respekt und Wertschätzung entgegenbringen soll. Gerade bei denen, die in meinen Augen moralisch schlecht leben, fällt mir das manchmal schwer. Wenn ich z.B. sehe, wie Menschen auf dem öffentlichen Platz in der Nachbarschaft ihre Zigarettenkippen und ihre Müll liegen lassen, dann ärgert mich das. Da könnte ich diese Erinnerung gut brauchen, dass ich sie als Abbild Gottes sehe und sie so behandle. Wie das genau aussieht, ist gar nicht so einfach. Aber ich vermute, dass ich mit einer freundlichen Ansprache mehr erreiche als mit einer Moralpredigt.
Pfarrer Braun meint, dass er besonders die Atheisten daran erinnern will, dass sie ein Abbild Gottes sind. Ob einer glaubt und welche Religion er hat, spielt allerdings heute tatsächlich bei uns keine große Rolle mehr. Deshalb finde ich es wichtig, dass jemand die Menschen daran erinnert, dass sie ein Abbild Gottes sind. Denn dabei geht es nicht nur darum, was einer glaubt, sondern darum, wie er andere behandelt. Das gilt insbesondere für Atheisten, meint Pfarrer Braun. Ich schließe mich ihm gerne an. Ganz unabhängig davon, ob einer an Gott glaubt, die Würde des Menschen kann nicht hoch genug geschätzt werden.
Die Pfarrer-Braun-Krimis spielen in der Nachkriegszeit. Damals gab es noch viele Pfarrer für diese Aufgabe. In fast jedem Dorf gab es einen Pfarrer. Ich frage mich, wer diese Aufgabe heute übernimmt. Die Antwort liegt auf der Hand: Jeder Christ kann es übernehmen und sich sagen: Meine Aufgabe ist es, die Menschen daran zu erinnern, dass sie ein Abbild Gottes sind. Zum Glück geht das nicht nur mit Worten, sondern auch mit Haltungen und praktischen freundlichen Taten.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=38741Jedes Mal, wenn ich den Geldbeutel zücke, zucke ich noch ein bisschen zusammen, wenn ich zwischen Personalausweis und Kontokarte meinen Behindertenausweis sehe. Wenn ich ihn entdecke, löst das immer noch zwei gegensätzliche Gefühle (in mir) aus.
Ich habe den Behindertenausweis wegen meiner Krebserkrankung bekommen. Das hat sich damals schon eigenartig angefühlt. Als ob ich zusätzlich zu meiner Krankheit noch für den Rest meines Lebens mit dem Stempel „schwerbehindert“ abgestempelt bin und ab jetzt nie hundertprozentig funktioniere. De facto arbeite ich längst wieder und bringe meine Leistung so gut ich kann. Das fühlt sich gut an und ich weiß: In unserer Gesellschaft gilt es als Maßstab, dass Menschen funktionieren und Leistung bringen. Aber als Christ finde ich so eine Sicht auf den Menschen befremdlich. Menschen sind doch nicht daran zu bemessen, wie gut sie in unser Leistungsschema passen. Jeder Mensch ist ein Geschöpf Gottes, ob behindert oder nicht. Ich sehe gerade auch bei behinderten Menschen Leistungen und Begabungen, die mich beeindrucken. Ich denke an eine junge Schauspielerin mit Down-Syndrom, die ich in einer Filmkomödie gesehen habe. Sie hat ihre Rolle mit so viel Witz gespielt.
Das zweite Gefühl, das ich habe, wenn ich meinen Behindertenausweis anschaue, ist nicht so eigenartig, sondern rein positiv. Mein Ausweis zeigt mir nämlich, dass ich in einer Gesellschaft lebe, in der Menschen mit Behinderung besonders geschützt sind. In so einer Gesellschaft fühle ich mich gut aufgehoben und will alles, was mir möglich ist, dazu beitragen damit andere Menschen geschützt sind. Und wenn ich manchmal auch daran zweifle, ob die Mehrheit in unserem Land daran festhält, dass wir solidarisch sind und Schwächere besonders schützen, dann ist mein Behindertenausweis doch ein ganz praktisches Zeichen dafür, dass wir in unserem Land füreinander einstehen und uns gegenseitig schützen.
Wenn ich mit diesen Gedanken meinen Behindertenausweis in Händen halte, merke ich, die Herausforderung in unserem Land sind oft nicht die Menschen mit Behinderung. Wir schaffen es, einen Schutz für sie aufzubauen, und wir schaffen es hoffentlich immer besser, dass Menschen mit Behinderung sich gut entfalten und ihren Beitrag zu unserer Gesellschaft einbringen können.
Die größere Herausforderung für uns alle sind vermutlich eher die, die andere Menschen behindern. Nach meiner Erfahrung behindern behinderte Menschen selten andere, im Gegenteil. Sie schaffen es oft, anderen so viel zu ermöglichen: Lebensfreude zum Beispiel und eine etwas andere Sicht auf die Welt.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=38740Der Nahe Osten ist wieder einmal stark umkämpft und unzählig viele Menschen sterben in diesem Krieg. Und es scheint, als ob die Regeln der zivilisierten Welt keine Rolle mehr spielen. Die Gewalttäter machen keinen Halt vor Kindern, Frauen, wehrlosen, kranken und alten Menschen. Die Kriegsmacher begründen den Krieg mit dem Hass zwischen Israelis und Palästinensern und dem Streit um den Tempelberg in Jerusalem. Ich kenne wenige Orte auf unserem Planeten, die so hart und andauernd umkämpft sind, wie der Tempelberg in Jerusalem. Das allein ist schon der reinste Hohn, bedeutet „Jerusalem“ doch wörtlich übersetzt „Stadt des Friedens.“
Aber ich frage mich, warum diese drei Religionen es nicht gemeinsam schaffen, dass diese Stadt ein Ort wird, von dem Friede und Heil für alle ausgeht.
Schon im 6. Jahrhundert vor Christus hat dieser Streit um Jerusalem begonnen, die Babylonier haben den ersten jüdischen Tempel zerstört. Er wurde wieder aufgebaut, bis die Römer ihn wieder zerstörten und durch einen römischen Tempel ersetzt haben. Schließlich habe die Osmanen dort die Al-Aksa-Moschee gebaut. Dieser Ort in Jerusalem ist für Juden und Muslime ein heiliger Ort. Auch für mich als Christ hat dieser Ort eine große Bedeutung. Einige Forscher vermuten, dass der Tempelberg der Ort ist, an dem Abraham nach der biblischen Erzählung seinen Sohn Isaak opfern sollte. Er wurde von einem Engel davon abgehalten, denn Gott will keine Menschenopfer.
Diese Botschaft ist offensichtlich bei keiner Religion angekommen. Auch Christen haben für eine scheinbar heilige Sache viel Leid angerichtet und viele Menschen getötet. Ich finde das abstoßend. Ausgerechnet Jerusalem, dieser vermeintlich heilige Ort, ist weiterhin ein Ort, wo Menschen im Namen der Religion getötet werden. Im Grunde widerlegen alle Religionen sich mit diesem Verhalten selbst.
Jesus von Nazareth hat sich davon distanziert, dass Menschen sich auf einen Ort festlegen, an dem Gott wohnt und verehrt wird. Für ihn war der wichtigste Ort, an dem Gott existiert, das eigene Herz. Das überzeugt mich. Wenn ich es schaffe, dass ich Gott in mir Raum gebe, bekomme ich vielleicht eine Einsicht in seinen Plan für die Welt. Was ich von ihm bisher verstanden habe, ist sicher nur ein kleiner Teil. Und doch kann diese Einsicht die Welt verändern: Gott will, dass keiner vom andern unterdrückt wird, sondern dass alle Menschen wohl und zufrieden leben.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=38739Ein Pfälzer sitzt auf dem Kalmit, dem höchsten Berg des Pfälzer Waldes, und schaut übers Land. Er blickt auf die langgestreckten Bergzüge des Waldes, die Weinreben am Haardtrand mit der ganzen Farbenpracht ihrer Blätter jetzt im Herbst, dahinter die Städte, Dörfer und Äcker in der Rheinebene.
Auf einmal setzt sich Gott neben ihn. Und macht genau das Gleiche. Sitzt und schaut und schweigt. Nach einer Weile nimmt der Pfälzer seinen ganzen Mut zusammen und fragt ihn: „Du, Gott, was machst Du denn bei uns in der Pfalz?“ Und Gott antwortet: „Homeoffice, mein Bub, Homeoffice!“
Ich finde diesen Witz einfach grandios. Und es gibt ihn, glaube ich, in vielen Varianten wohl für jede Region in Deutschland. Mit einem Schwaben am Neckar, einem Badener am Rhein, einem Ostfriesen am Wattenmeer. Der Witz ist einfach gut, weil er auf liebevolle Art und mit viel Charme eine wunderbare Heimatverbundenheit zum Ausdruck bringt. Wenn Gott die Wahl hätte, er wäre eben auch ein Pfälzer.
Mir gefällt die kleine Anekdote aber auch noch aus einem anderen Grund: Gott nimmt auf liebevolle Weise neben mir Platz. Einfach so. Sitzt neben mir, ohne auch nur ein einziges Wort zu verlieren. Er ist einfach da. Nimmt Anteil. An mir und meiner Welt, in der ich lebe. Er ist eben einen kostbaren Moment lang nicht irgendwo fernab in der Weite von All und Welt, sondern kommt zu mir. Ist offensichtlich da zuhause, wo ich bin. Das ist doch ein schöner Gedanke.
Mir gefällt auch das stille Beisammensein von Gott und Mensch. Im andächtigen Nebeneinander beim Genießen von Land, Zeit und Leben. Und dann eine kurze Frage und eine kurze Antwort auf Du und Du. Das hat doch was. Und zu guter Letzt bekommt auch noch der Begriff Homeoffice eine ganz neue Bedeutung, als ihm sonst eigentlich zukommt. Denn normalerweise heißt Homeoffice ja, dass man nicht im Büro, sondern zu Hause arbeitet.
Hier geht es aber gar nicht ums Arbeiten, sondern im Gegenteil um eine Auszeit von der Arbeit. Ums Innehalten. Auftanken. Die Zeit genießen. Sich gütlich tun an der Schönheit einer Landschaft, eines Ortes. Und das Spüren einer tiefen Verbundenheit. Mit der Welt. Ihren Menschen. Und mit Gott.
In diesem Sinn suche ich mir immer wieder einen Platz, einen Ort zum Verweilen. Und gehe ins stille Homeoffice mit Gott. Andächtig. In einem Park. Einer Kirche. Oder auch an meinem Schreibtisch. Es muss gar nicht immer auf dem Kalmit sein.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=38787Auf der Höhe von Deidesheim habe ich bei einer Wanderung am Haardtrand des Pfälzer Waldes ein eigentümliches Plakat entdeckt. Angebracht an einem Baum vom Forstamt Bad Dürkheim. Eines der üblichen Hinweisschilder im Wald, habe ich zuerst gedacht. Beim Näherkommen lese ich die große Überschrift: „Ungeliebte Naturbewohner“. Ich stutze. Was soll das denn heißen? Die Abbildungen zeigen aber weder Wölfe noch Parasiten, sondern verschiedene Müllsorten, die Menschen immer wieder unachtsam im Wald zurücklassen. Auf dem Plakat sind sie in Anlehnung an den schwedischen Naturforscher Carl von Linné mit zwei Namen versehen, in Deutsch und in Latein. Und mit einer Zeitangabe, wie lange es dauert, bis sie verrottet sind. Ich will nur einige nennen:
Z.B. das Papiertaschentuch, genannt „Weißer Rotzling“, lat. Popel schnupfus alba, mit einer Verrottungszeit von 1-5 Jahren. Oder der „Gemeine Beutler“, lat. Sackuli plasticus, und damit die ordinäre Plastiktüte mit satten 120 Jahren. Der „Gefüllte Dungfang“, entpuppt sich als eine Windel, lateinisch sinnenfällig mit Stinki bombulus windeli benannt, hat eine Verfallszeit von 500-800 Jahren. Der „Geknickte Dürstling“, lat. Trapattoni babbela, ist eine zusammengeknüllte Plastikflasche, mit einer Verfallszeit von 500-1000 Jahren. Und ca. 50.000 Jahre dauert es beim „Kleinen Schluckspecht“, einer kleinen Underberg- oder Wodkaflasche, lat. Liquior cadaveri genannt.
Fantastisch! Da hat jemand auf humorvolle Art und Weise deutlich gemacht, was wir der Natur und letztlich auch uns selbst antun, wenn wir unseren Müll einfach liegen lassen. Das Thema ist ja nicht neu. Aber es hat mich noch nie auf diese Weise angesprochen und aufgerüttelt. Ganz anders, als wenn da nur ein Schild steht, dass Müll wegwerfen verboten ist.
Ich merke, wie erzieherisch effektiv es sein kann, wenn nicht Moral, sondern Humor die Gebote der Zeit ansagt. Wie schön wäre es, wenn solche Ideen auch in anderen Bereichen umgesetzt werden würden. Zum Beispiel auf öffentlichen Plätzen, am Bahnhof, in Parkanlagen. Wo Müllmänner jeden Tag die Hinterlassenschaften anderer entfernen müssen. Oder beim Arbeitsschutz. Sei es in der Fabrik oder im Büro. Da könnten humorvolle Namen für die Missachtung von Schutzmaßnahmen im Sinne ungeliebter Arbeitsweisen, Fehlhaltungen und ihrer Folgen vielleicht eine noch bessere Wirkung zeigen als Verbotsschilder.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=38786Ich wandere mit einem Freund durch den Nordschwarzwald. Wir sind von Forbach an der Murg aus gestartet und nun unterwegs in Richtung Schwarzenbachtalsperre. An manchen Stellen gibt es nicht nur Tannen, sondern auch Eichen und Buchen. Und tatsächlich sehe ich auf dem Boden vor mir einige Bucheckern liegen. Ich hebe eine auf, zeige sie meinem Freund und sage den Satz, den meine Mutter immer gesagt hat, wenn sie Bucheckern gefunden hat: „Alles hat seine zwei Seiten, nur Bucheckern haben drei“.
Er bestätigt es schmunzelnd und wir stellen wieder einmal fest, dass wir als Kinder derselben Generation mit denselben Sprüchen groß geworden sind. Selbst wenn sie, wie in diesem Fall, eigentlich ziemlich sinnfrei scheinen. Denn was haben die drei Seiten der Bucheckern mit der Lebensweisheit von den zwei Seiten aller Dinge zu tun? Also halten wir uns nicht weiter an der Frage auf und setzen unsere Wanderung fort.
Mir ist der Spruch jedoch im Gedächtnis geblieben. Und ich habe, inzwischen längst wieder zuhause, weiter darüber nachgedacht. Dass alles im Leben zwei Seiten hat, kann ich nur bestätigen. Zum Beispiel kann ich mich noch gut erinnern, wie stolz ich war, als ich mir mit 29 mein erstes Auto gekauft habe, einen gebrauchten Mazda 323. Dafür hatte ich dann aber leider keinen Cent mehr übrig, um in Urlaub zu fahren.
Manchmal zeigt sich die andere Seite einer Sache auch erst viele Jahre später.
So ging es einer alten Frau, die ich einmal besucht habe. Sie hat mir erzählt, wie sie nach ihren beiden ersten Kindern mit einigem Abstand noch einen Jungen als Nachzügler bekommen hat und eigentlich gar nicht erbaut war im fortgeschrittenen Alter noch einmal ein Kind zu bekommen. Noch einmal Windeln wechseln, Elternabende besuchen, angebunden sein… . Aber heute ist sie froh um ihren Jüngsten, weil er nämlich derjenige ist, der in der Nähe wohnen geblieben ist und nach ihr schaut und sie versorgt. Wie sehr sie Gott dankbar ist, dass alles für sie so gekommen ist.
In diesem Zusammenhang macht der Spruch mit der dritten Seite für mich Sinn. Dass es zu den zwei Seiten der Dinge in meinem Leben noch eine dritte geben kann: Überall dort, wo Gott ins Spiel kommt. Überall dort, wo sich eine Situation oder Möglichkeit auftut, die ich zunächst vielleicht nicht sehe, weil sie sich erst viel später als gut erweist. Die dritte Seite, mit der dann etwas zum Tragen kommt, was meinem Leben eine neue Wendung gibt.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=38785Desmond Tutu habe ich 1996 kennengelernt, als ich ein Auslandspraktikum in Südafrika gemacht habe. Er war damals Erzbischof von Kapstadt. Inzwischen ist er verstorben, aber bis heute ist er für mich ein Vorbild im Glauben.
Während ich in Kapstadt war, ist Desmond Tutu in den Ruhestand gegangen und mit vielen Gottesdiensten und Feiern verabschiedet worden. Eine Ehrung ist auf die nächste gefolgt. Ich habe hinter den Kulissen dabei geholfen, Stühle zu rücken, Kaffee zu kochen und Tische zu dekorieren. Das hat mir nichts ausgemacht, denn dafür durfte ich überall dabei sein.
Was mich am meisten beeindruckt hat: Am Bischofssitz hat es auch während der Dauerfeierlichkeiten jeden Morgen um 8 Uhr eine Morgenandacht in der Kapelle gegeben. Beim anschließenden Tee wurden die anstehenden Termine und Aufgaben des Tages besprochen. Zum Abschluss hat der Erzbischof ein Gebet gesprochen und alle gesegnet.
Es ist eine hektische Zeit gewesen. Und dennoch hat mich bei diesen Morgenandachten und beim Morgentee eine eigentümliche Ruhe erfüllt. Es waren kostbare Momente. Trotz des ganzen Rummels um seine Person ist Desmond Tutu neugierig und aufmerksam geblieben. Er wollte wissen, wie es den Mitarbeitenden geht, und auch mich hat er gefragt, woher ich komme und was mich in meinem Theologiestudium am meisten interessiert hat.
Der Mann war nur ein Meter 60 groß, aber witzig, quirlig und voller Lebensfreude. Wenn er einen Vortrag gehalten oder gepredigt hat, blitzten seine Augen und er hat eine Energie und Überzeugungskraft ausgestrahlt, die nicht nur mich begeistert haben.
Sein Interesse an Menschen hat in der festen Überzeugung gewurzelt, dass jeder Mensch ein Ebenbild Gottes ist und mit Würde ausgestattet. Als schwarzer Priester aus einem Township, der es bis zum Erzbischof von Südafrika gebracht hat, hat er sich vehement gegen die Strukturen von Apartheid eingesetzt, gegen Rassismus und Gewalt gepredigt und gewaltfreie Demonstrationen angeführt. In einer Zeit, als die Kritik am Apartheidsregime lebensgefährlich war, hat er klare Worte gegen jede Form der Gewalt gefunden. Oft hat er als Vermittler zwischen den Fronten gedient und versucht, den Dialog aufrecht zu erhalten.
Aber auch nach der ersten freien Wahl in Südafrika im Jahr 1994 ist er kritisch und unbequem geblieben. Dabei ist das Wichtigste in seinem Leben neben seiner Familie sein unumstößlicher Glaube gewesen. Alle Menschen sind nach Gottes Ebenbild geschaffen. Niemand ist mehr oder weniger wert. Dafür hat er sich eingesetzt und ist für mich daher bis heute ein Vorbild im Glauben.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=38778Es ist dunkel und neblig. Ich zünde eine Kerze an. Und selbst wenn es nur ein kleines Licht ist, ist die Finsternis für eine Weile weg. Das tut mir gut. Denn es ist mitten im November und ich habe den Novemberblues. Die November-Themen machen mir zu schaffen. Zwischen Allerseelen und Totensonntag geht es um Zerbrechlichkeit und Endlichkeit. Wer ist krank und kämpft mit Schmerzen? Wer liegt im Sterben oder ist in diesem Jahr bereits gestorben?
Der Volkstrauertag erinnert außerdem daran, dass es neben den persönlichen Schicksalsschlägen und Verlusten auch um die kollektive Erinnerung an die Verluste aus den beiden Weltkriegen und aus allen späteren Kriegen geht. Das ist in diesem Jahr so konkret wie lange nicht: In der Ukraine hören der Krieg, das Morden und das Sterben nicht auf. In Israel beweinen Angehörige die Opfer nach den Terrorangriffen und dem Massaker der Hamas.
Die Berliner jüdische Kantorin Avital Gerstetter postet jeden Tag einen Namen von in Israel ermordeten Personen und schreibt unter die Fotos: „Wir rufen deinen Namen und versprechen: Wir werden dich niemals vergessen!“
Und auch die Zivilbevölkerung im Gazastreifen betrauert tagtäglich ihre Toten.
Was ist das für eine unaufhörliche und wahnsinnige Spirale der Gewalt!
An vielen Orten halten Menschen Mahnwache, beten für das Ende von Terror und Gewalt und zünden Lichter an für die Toten und ihre Angehörigen. Diese Mahnwachen und Gebete helfen mir. Gleichzeitig erschüttern mich antisemitistische Parolen, Aufrufe zur Auslöschung Israels und zur Aufrichtung eines Kalifenstaats in Europa und weltweit und machen mir Angst. Was heißt Zerbrechlichkeit und Endlichkeit angesichts von hingeschlachteten Männern, Frauen und Kindern? Wie zynisch sind antisemitische Parolen und Aufzüge gerade in Deutschland, wo wir am 9. November zum 85. Mal der Reichspogromnacht gedacht haben und „nie wieder ist jetzt!“ gerufen haben?
Nichts tröstet in diesen Tagen, nichts nimmt mir mein Gefühl von Ohnmacht und Sprachlosigkeit angesichts der komplett festgefahrenen Narrative und miteinander verstrickten Hasstiraden.
Mitte November: Zwischen Dunkelheit und Licht, zwischen Tod und Leben, zwischen Verzweiflung und Hoffnung trotz allem. Jeden Tag zünde ich ein Licht an für alle, die trauern, die Angst um die verschleppten Geiseln haben oder sich um ihre Kinder im Krieg sorgen. Ich nenne Namen der Toten und lege sie vor Gott. Mehr Sprache habe ich nicht. Mein Kerzenlicht leuchtet. Es ist nur ein kleines Licht. Aber es ist da.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=38777Ich werde manchmal gefragt, wer Jesus Christus für mich ist. Ich finde das gar nicht so einfach, darauf kurz und bündig zu antworten. Zumal sich das in meinem Leben je nach Stimmung und Lebensthemen auch schon verändert hat. Gut, dass mich in Europa niemand zwingt, ein persönliches Bekenntnis abzugeben. Und wenn ich es tue, ist das meine Entscheidung und nicht gefährlich, wie zum Beispiel in Nordkorea, Nigeria, Jemen oder Somalia, wo autokratische Regierungen oder extremistische Gruppierungen Christinnen und Christen verfolgen und manchmal sogar töten. Problematisch ist so ein Bekenntnis auch schon zu biblischen Zeiten gewesen.
Jesus ist mit seinen Gefährten durch Galiläa gewandert, hat mit den Menschen gegessen, getrunken, gefeiert und einige von ihnen geheilt. Über ihn sind viele Gerüchte im Umlauf. Die einen sagen dies, die anderen das. Auch die Jünger wissen nicht so genau, was sie von ihm halten sollen. Und plötzlich konfrontiert Jesus sie mit der „Gretchenfrage“ und fragt: „Was glaubt ihr denn, was ich für einer bin?“
Einige antworten darauf: „Du bist ein Lehrer, Jesus!“ Andere halten ihn für einen Propheten oder einen Heiler (Mt 16,14).
Den meisten ist jedenfalls klar, dass Jesus irgendwie anders ist. Er ist nicht nur ein Mann, der sich bestens in der biblischen Tradition auskennt, sondern Jesus stellt das Wohlergehen der Menschen über das Gesetz und heilt, wenn es nötig ist, auch am Schabbat. Zugleich fordert er, dass das Gesetz bis zum letzten i-Tüpfelchen eingehalten wird.
Jesus hat die hebräische Bibel eher eigenwillig ausgelegt. Und er hat es nicht bei Worten belassen. Jesus war ein radikaler Praktiker, der die Sorgen der Leute gehört und ernst genommen hat. Er hat kranke Menschen geheilt und Außenseiter respektiert. Mit seinen ungewöhnlichen Ansichten und Verhaltensweisen hat er viele überrascht oder sogar vor den Kopf gestoßen. Wer war er also?
Petrus ist vorgeprescht: „Du bist Christus, der lebendige Sohn Gottes!“ (Mt 16,16). Petrus hat Jesus einen Titel verliehen. Nicht Kaiser, nicht König oder Oberbefehlshaber, sondern Christus. Wörtlich heißt das „der Gesalbte“. Das ist ein Hoheitstitel aus dem Alten Testament. Dort wird er Königen verliehen. Und er bezeichnet eine zukünftige Rettergestalt. Petrus hat sich getraut, Jesus mit dieser Zuschreibung als Sohn Gottes anzuerkennen.
Bis heute ist ein Bekenntnis zu Jesus Christus in einigen Teilen der Welt ein riskantes Glaubenszeugnis. In westlichen Ländern wird man dafür eher als naiv belächelt oder völlig verständnislos angesehen. Und so bleibt die Frage bis heute aktuell: Wer ist Jesus für Dich?
https://www.kirche-im-swr.de/?m=38776