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Was soll denn das sein, habe ich mich gefragt, als ich neulich von „Soda-Brücken“ gelesen habe. Brücken, auf oder unter denen Getränke verkauft werden? Soda-Wasser oder ähnliches?
Beim Weiterlesen bin ich dann aufgeklärt worden. „Soda-Brücken“ sind sinnlose Bauwerke, die einfach nur „so da“ stehen. Weil die Straßen, die sie eigentlich verbinden sollten, aus irgendwelchen Gründen dann doch nicht gebaut wurden. Nun stehen diese Brücken vergessen in der Landschaft. Einfach „so da“.
Eigentlich gar kein schlechter Gedanke, finde ich. Wie Denkmäler stehen sie herum und erinnern daran, wie wichtig Verbindungen sind. Brücken, die von einer Seite zur anderen führen. Die selbst dann, wenn sie keine Funktion haben, darauf verweisen, dass wir von Verbindungen leben.
Ich spinne den Gedanken weiter. Und finde, dass es ja auch „Soda-Menschen“ gibt. Menschen, die kein großes Getue um sich machen. Und doch ungeheuer wichtig sind. Weil sie Verbindungen schaffen. Brücken bauen.
Vielleicht zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart. Ältere Menschen, die wissen, wie es früher war und die vielleicht eine Lösung haben für ein Problem, vor dem wir heute ratlos stehen. Oder die eine Verbindung herstellen zwischen Nachbarn, die miteinander verkracht sind. Oder innerhalb einer Familie, in der man sich entzweit hat.
Solche Brückenbauer sind heute an vielen Stellen gesucht. Sie knüpfen einen abgerissenen Faden wieder zusammen. Machen den ersten Schritt. Räumen Barrieren aus dem Weg.
Mit Zuspruch und Ermutigung zimmern sie Stege und Brücken, so dass ein Gespräch zwischen sprachlosen und verfeindeten Menschen wieder möglich wird. Sie tun das ohne großes Aufheben, einfach weil sie „so da“ sind. Kompromissbereit und darum hilfreich.
Die „Soda-Menschen“ könnten den „Soda-Brücken“ auch wieder eine neue Funktion geben. Wer Hilfe braucht, Vermittlung oder Schlichtung in einem festgefahrenen Konflikt, der verbringt einen Tag oder eine Nacht auf einer „Soda-Brücke“! Und kann in Ruhe überlegen: was liegt an mir, um erstarrte Fronten wieder in Bewegung zu bringen? Was kann ich tun, dass getrennte Parteien wieder miteinander in Kontakt kommen?
Damit die Brücke nicht länger nur „so da“ steht. Sondern Menschen sie wieder benutzen. Und Schritt für Schritt darüber gehen. Auf die andere Seite.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=37639Etwas, das ich immer bei mir habe. Es ist nicht mein Handy. Es ist mein Terminkalender. Schnell habe ich ihn, meinen Taschenkalender, und einen Kugelschreiber zur Hand.
Ohne den Terminkalender wäre meine Arbeit sehr chaotisch und ich würde ständig etwas vergessen. Gleichzeitig erlebe ich immer wieder, wie schnell sich mein Plan kurzfristig verändern kann. Da kommen Dinge dazwischen, die schnell erledigt werden müssen, Absagen, wenn jemand krank wird, Dinge, die nicht so laufen wie gedacht. Das kann einiges durcheinanderwerfen.
Der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber hat einmal gesagt hat: „Es ist nicht leicht, mit Gott Schritt zu halten.“
Da ist wohl etwas dran. Leichter scheint es mir, immer nur die eigenen Schritte zu setzen, so wie geplant. Kommt es anders, kann das schon herausfordernd, manchmal aufwühlend sein. Auch wenn ich gerne alles festlegen wollte, so ist es eben bei Gott nicht.
Das zeigt sich schon in der Bibel: bei Abraham, der auf Zuruf von Gott seine Heimat verlassen und in ein völlig fremdes Land ziehen soll. Oder auch bei den Propheten gibt es das, dass Gott die klugen Pläne der Gebildeten auf den Kopf stellt.
Ich persönlich habe so ein Merkmal gefunden, an dem ich erkenne, dass Gott in meinem Leben überraschend mit im Spiel war: immer dann, wenn ich ihn im Rückblick entdecke, in Begegnungen zum Beispiel, über die ich froh war und über die ich letztlich sagen kann „Es war gut so“.
„Es ist nicht leicht, mit Gott Schritt zu halten.“
Manchmal scheint mir Gott zu schnell zu sein, wenn sich eine Situation zu sehr verändert, wenn mich das Leben überrennt, und ich komme fast nicht mit. Vielleicht kann man da sagen: Gott ist mir immer einen Schritt voraus, läuft mir aber nicht davon. Gott weiß, was ich kann. Er traut mir zu, meinen Weg zu gehen, und er räumt auch nicht jeden Stein für mich aus dem Weg.
Falls ich einmal langsamer bin und das Gefühl habe, nicht mitzukommen mit Gott oder mit dem Leben, dann kann ich auf seine Hilfe bauen. Diese Hilfe kann überraschend für mich sein, sodass es etwas Aufmerksamkeit braucht, die Schritte, die Gott im Bild gesprochen auf mich zumacht, auch zu sehen. Zum Beispiel dann, wenn ich unerwartet Unterstützung bekomme, oder wenn etwas am Ende doch gut wird und weitergeht.
Gottes Schritte lassen sich nicht einplanen. Deshalb bin ich gespannt, wohin er mich heute führt. Ich weiß, was mein Kalender heute bietet, aber Gott bietet sicher noch viel mehr.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=37649Es ist Religionsunterricht, 8. Klasse in der Realschule. Zwei Schülerinnen verstehen sich so gut, dass sie keine Worte brauchen. Sie sitzen zwar weit weg voneinander, aber das hält sie nicht davon ab, miteinander zu kommunizieren. Ganz still und möglichst unauffällig versuchen sie, sich mit Handzeichen und Blicken etwas zu sagen, miteinander zu sprechen. Am Ende ist es mir als Lehrer dann doch aufgefallen und ich muss schmunzeln.
Das ist etwas Schönes, wenn ich mich so gut mit jemandem verstehe, dass ich keine Worte brauche.
Von früher her kenne ich das mit meinem Bruder. Als Musiker stand er oft auf der Bühne, während ich unten saß. Dann haben wir Blicke aus der Ferne ausgetauscht, wenn irgendetwas war. Auch heute gibt es immer mal wieder kleine Gelegenheiten, bei denen ich mit guten Freunden und Kollegen auch ohne Worte kommunizieren kann.
Witzig ist, wenn diese wortlose Kommunikation einmal daneben geht, wenn sich herausstellt, dass wir an völlig andere Sachen gedacht haben. Das kann auch passieren.
Klar, so ganz ohne Worte funktioniert es sicher in keiner Beziehung. Sie sind unverzichtbar dafür, dass eine Beziehung tragfähig wird. Eigentlich bilden sie die Basis dafür, dass so etwas gelingen kann – einen anderen ohne Worte zu verstehen. Denn dann ist eine tiefe Vertrautheit miteinander da. Man kennt sich gut, hat einander gern und versteht sich wie blind. Wenn ich so jemanden habe, weiß ich: da kennt mich einer ganz genau. Solche Freundschaften möchte ich schätzen und pflegen. Sie sind wertvoll und einmalig.
Für mich ist das auch in der Beziehung mit Gott so. Er ist eher so ein „Wortlos-Freund“, der mir etwas auf seine ganz eigene Weise sagen kann. Gott kann mir das eine oder andere Augenzwinkern schicken. Aber auch in meiner Beziehung zu Gott braucht es einmal Worte. Ich möchte ihn gerne auch einmal sprechen hören und suche immer wieder nach ihm und danach, was er mir auf meine Fragen antwortet, vor allem wenn ich bete. Diesen Gesprächsfaden möchte ich nicht abreißen lassen. Er ist so etwas wie unsere Basis.
Unter guten Freunden ist das Verstehen ohne Worte besonders schön. Bei Gott ist das für mich auch so. Wenn ich zum Beispiel mit dem Herzen spüre, dass ich jetzt gerade am richtigen Platz bin, wenn mich das Leben erfüllt und wenn ich mich getragen weiß. Dann verstehen wir uns gut, wir zwei, auch ohne Worte.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=37648„Vier Augen sehen mehr als zwei.“
Das ist ein geläufiges Sprichwort und ein Prinzip, das mir in den unterschiedlichsten Bereichen begegnet. In der Autozeitschrift lese ich, dass ich nie allein ein Auto kaufen sollte. Die Empfehlung: Nehmen Sie zur Besichtigung eine zweite Person mit, damit Ihnen nichts entgeht.
Wenn jemand mit mir auf eine Sache schaut, ist das hilfreich. So bekommt meine Sicht mehr Weite oder etwas Neues kommt in meinen Blick, etwas, was ich vorher vielleicht übersehen habe. Diese Erfahrung scheint sich bewährt zu haben, man findet auch in der Bibel ein Beispiel dafür.
Es ist in einer Geschichte, die vom Jünger Petrus erzählt[1]. Sie spielt kurz nach den Osterereignissen. Petrus hatte mitbekommen, dass Jesus auferstanden sein soll, und er hat ihn auf diese besondere Weise, eben als Auferstandener, sogar selbst getroffen.
Aber jetzt liegt das alles weit hinter ihm. Petrus arbeitet wieder als Fischer. Er fährt zusammen mit ein paar anderen Jüngern raus auf den See, aber die ganze Nacht über fangen sie nichts. Als sie frühmorgens ohne Erfolg ans Ufer zurückkommen, steht ein Mann plötzlich da und ruft: „Werft das Netz auf der rechten Seite des Bootes aus, dann funktioniert es!“ Dieser Mann ist Jesus, aber weder Petrus noch die anderen erkennen ihn. Doch sie machen, was er sagt, und dann geschieht es. Sie fangen so viele Fische, dass sie die Netze fast nicht mehr einholen können.
Spätestens hier hätte Petrus Jesus erkennen können. Nur war er zu sehr mit seinen Netzen beschäftigt. Aber ein Freund von Petrus merkt, dass er gerade etwas Wichtiges übersieht, dass da etwas an ihm vorbeizugehen droht. Er macht ihn aufmerksam und sagt: „He Petrus, es ist der Herr!“ Wäre dieser Freund nicht gewesen, hätte Petrus Jesus vielleicht gar nicht erkannt. Zum Glück: Vier Augen sehen mehr als zwei.
Ich wünsche Ihnen, dass Sie heute im Laufe des Tages so ein zweites Augenpaar bei sich haben. Es muss gar nichts Großes sein, aber oft kann mich jemand anderes aus meinem eigenen Trott herausholen, aus meiner Laune oder den trüben Gedanken. Oder vielleicht ist es auch andersherum, und Sie selbst können so ein zweites Augenpaar sein, das für einen anderen etwas Wichtiges entdeckt.
[1] Vgl. Joh 21,1-13.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=37647Zuerst eine Vorwarnung: mich beschäftigt ein Thema, das für die ein oder den anderen schwer sein könnte. Es geht um Abtreibung.
Hannah hat abgetrieben. Und rund um diese krasse und existenzielle Entscheidung hat sie gemerkt, wie einsam sie damit war. Über Abtreibung wird nicht gesprochen; nicht richtig öffentlich und privat irgendwie auch nicht. Es ist ein Tabu. An verlässliche Infos rund um einen sicheren Schwangerschaftsabbruch zu kommen, ist fast unmöglich. Erst seit gut einem halben Jahr dürfen Ärztinnen und Ärzte überhaupt schreiben, dass und wie sie die Eingriffe vornehmen.
Hannah will, dass es anderen Menschen, die vor so einer Entscheidung stehen, besser geht. Dazu hat sie Abortion Buddy gegründet. Das heißt soviel wie „Abtreibungs-Begleitung“. Hannah will Tabus aufbrechen und klar machen, dass die Betroffenen eben nicht allein sind. Es geht darum sich auszutauschen, von erfahrenen Menschen unterstützt zu werden. Die Initiative bietet ganz konkret Infos und Unterstützung an für Menschen, die nicht wissen, wo sie hingehen können, was sie tun müssen, wie das alles gehen soll bei einer ungewollten oder ungeplanten Schwangerschaft. Für viele war Abortion Buddy genau das, was sie gebraucht haben. Unabhängig davon, wie sie sich nachher entschieden haben. Inzwischen haben sich mehrere Menschen mit Hannah zusammengetan und sind als Begleiterinnen oder Buddies ansprechbar.
Ich finde die Idee von Abortion Buddy wichtig. Gerade weil das Thema so heikel und so unglaublich schwierig für die Betroffenen ist. Und gerade weil mir der Schutz allen Lebens wichtig ist, also das der Kinder und das der Mütter, kann ich es schwer ertragen, dass Menschen immer noch an den Pranger gestellt werden.
Niemand sollte in so einer Situation alleine sein. Es geht ums Zuhören, darum echt solidarisch zu sein.
Mich beeindruckt das Motto, mit dem die Begleiterinnen und Begleiter klarmachen, worum es ihnen geht: Ich würde mit dir mitkommen. Die Buddies gehen auch mit in die Praxis zum Schwangerschaftsabbruch, wenn die Betroffene das braucht.
Da sein und mitgehen in allen Lebenslagen, solche Freundinnen und Begleiter brauchen wir Menschen.
Ralf Knoblauch geht jeden Morgen eine Stunde in seinen Keller. Dort schnitzt er. Normalerweise arbeitet er für die Kirche in einer Gemeinde in Bonn. Aber vor seiner Arbeit schnitzt er jeden Morgen aus Holzblöcken Figuren: es sind Königinnen und Könige. Alle haben was gemeinsam, trotzdem ist jede einzigartig. Alle sind mit schwarz-weißen Gewändern bemalt. Alle haben irgendwo bei sich eine Krone: mal auf dem Kopf, mal in der Hand, mal neben sich auf dem Boden. Alle Figuren lächeln und haben die Augen geschlossen. Einige sind eindeutig als Königin oder als König zu erkennen, andere nur vage. Die kleinen Kunstwerke sitzen, stehen, hocken, liegen, wirken verträumt, gespannt oder zuversichtlich.
Das erste Exemplar hat Ralf Knoblauch im Urlaub geschnitzt. Er ist am Strand spazieren gegangen und dabei ist ihm ein Holzblock in die Finger gekommen. Der hat ihn gleich fasziniert, und es war klar: das ist es, das ist meins. Seitdem hat er unzählige Königinnen und Könige aus dem Block gehauen. Immer in der einen Stunde morgens vor der Arbeit. Das ist seine Zeit.
Und sein Thema ist Würde. Für Ralf Knoblauch geht es bei seinem Handwerk um die Menschen und ihre Würde. Er arbeitet in einem sozialen Brennpunkt und erlebt dort täglich, wie die Würde viel zu oft mit Füßen getreten wird. Umso klarer ist für ihn: jede Person hat Würde und an der gibt es nichts zu rütteln. Jeder Mensch ist ein König, eine Königin. Das will er mit seinen Holzfiguren ausdrücken.
Inzwischen hat sich daraus ein Projekt entwickelt. Viele Menschen oder Gruppierungen nehmen die Figuren mit auf Reisen, zu Tagungen, zu Demos oder z.B. auch zur vergangenen Fußballweltmeisterschaft nach Qatar. Da werden sie dann ausgestellt oder besonders in Szene gesetzt und fotografiert.
Interessant ist, dass alle Königsfiguren die Augen geschlossen haben. Wer die Augen zu hat, ist angreifbar, ist verletzlich, ist auf andere angewiesen. Und die Figuren lächeln. Für Ralf Knoblauch ist klar: „Bei uns Menschen funktioniert es nur gemeinsam. Und die Figuren dürfen nicht noch weiter runterziehen. Wenn man auf so eine Holzfigur trifft, geht man lächelnd aus dieser Begegnung hervor.“
Überall da, wo die Figuren auftauchen, verkörpern sie die Botschaft: jeder Mensch ist ein König, ist eine Königin. Behandelt sie auch so.
Weitere Infos und Bilder: www.ralfknoblauch.de
https://www.kirche-im-swr.de/?m=37588Papier aus Kleidern. Das macht Drew Matott mit seinem Team. Das Besondere ist, dass er dabei Menschen hilft, Traumata zu überwinden oder Erinnerungen auszutauschen und darüber zu sprechen. Aber der Reihe nach.
Drew Matott ist Künstler und hat einen Kurs in Papierschöpfen gemacht. Er hat gelernt, dass früher Papier aus Stoff oder Fischernetzen hergestellt wurde und hat sich daran gemacht, seine eigenen Kleider zu Papier zu verarbeiten. Mit der Zeit hat er sein Handwerk perfektioniert, und irgendwann hat er gemeinsam mit seiner Familie die Kleidung seines verstorbenen Vaters in kleine Stücke geschnitten und lange eingeweicht. Dann haben sie aus dem Faserbrei gemeinsam Papier geschöpft. Dabei haben sie über ihren Vater gesprochen, erzählt, gelacht und sich erinnert. Aus diesem Papier hat Drew Matott für jedes Familienmitglied ein Erinnerungsalbum mit Fotos vom Papa gemacht.
Die Idee hat er ausgeweitet für Menschen, die traumatisiert sind. Menschen, die Krieg erlebt haben oder gekämpft haben, Menschen, die fliehen mussten und Heimat gefunden haben, Menschen, die liebe Leute verloren haben. Daraus ist eine richtige Bewegung entstanden - das „Peace Paper Project“. Drew Matott und sein Team waren schon in vielen Kriegsgebieten, und sie leiten Menschen an, die Kleidung aus der schwierigen Zeit nach und nach in kleine Fetzen zu schneiden und dabei einander zu erzählen, nicht allein mit den Erlebnissen zu bleiben. Und dann entsteht aus der Kleidung Papier. Damit kann man dann vieles machen, z.B. Alben gestalten, Friedenslieder draufschreiben oder Flyer gegen den Krieg drucken.
Drew Matott hofft: „Dadurch, dass Du Kontrolle über das Material bekommst, bekommst Du auch Kontrolle über deine Erinnerungen.“
Die Idee und das Friedens-Projekt begeistern mich. Der Weg über die Kleidung an meine schwierigen Erfahrungen zu kommen, scheint mir irgendwie möglich, das ist niederschwellig. Und ich kann konkret was tun, ich habe was in der Hand. Es läuft nicht nur über das Sprechen. Auch das finde ich gut.
Dass aus altem Leid was Neues entsteht, das ist es. Neues Material, neue Erfahrungen, neue Erkenntnisse – Frieden und vielleicht sogar neues Leben.
„Lege Wert auf gute Gesellschaft – auch wenn Du allein bist“ – diesen Spruch habe ich auf einer Postkarte bei einer alten Dame entdeckt, die ich neulich besucht habe. Als die Frau gesehen hat, dass ich den Spruch gelesen habe, hat sie mir zugelächelt. „Ja“, sagt sie, „das ist ein altes ungarisches Sprichwort. Als mein Mann gestorben ist, hat mir eine Freundin diese Karte geschenkt. Und seitdem lebe ich entsprechend: Ich lege Wert auf gute Gesellschaft – auch, wenn ich alleine bin.“
Da bin ich neugierig geworden: „Wie wird man sich denn selbst zur guten Gesellschaft?“, will ich wissen. „Es gibt dafür kein Patentrezept“, antwortet sie, „aber für mich sind drei Aspekte wichtig. Zuerst einmal muss ich meine Situation annehmen. Ich darf mich nicht davor verstecken, dass nur ich es bin, die ich gerade als Gesellschaft habe. Ich darf mich nicht vor mir selbst verstecken. Das heißt für mich: Jeden Morgen mache ich nach dem Wort zum Tag das Radio aus und lege die Zeitung zur Seite. Ich atme ruhig ein und aus und spüre in mich hinein. Ich kann mir nur dann selbst eine gute Gesellschaft sein, wenn ich weiß, wie es mir gerade geht. – Und dann mache ich am Tag mindestens eine Sache, die mir guttut. Ich gehe spazieren oder ich rufe eine Freundin an. Ohne weiteren Grund, nur, weil es mich erfreut. Manchmal tut es mir auch gut, an einem Tag ganz wenig zu machen. Solche ruhigen Tage braucht man öfter, wenn man älter wird. Dazu muss man gnädig mit sich selbst sein: einen gnädigen Blick auf sich selbst einüben, das ist wichtig.“
„Und der dritte Aspekt?“ frage ich. „Manchmal fühle ich mich nicht nur allein, sondern einsam. Also verloren und traurig. Und dann erinnere ich mich daran, dass ich eigentlich nie so ganz einsam bin. Weil da noch einer ist, der mir nah ist. Gott. Es gibt ein wunderbares Psalmwort, das genau passt: ‚Von allen Seiten umgibst Du mich. Und hältst Deine Hand über mir‘. Ich spüre dem nach, wo Gott gerade ist. Auf welche Weise er mich umgibt. Begegne ich Gott in der Lebendigkeit meines Atems? Oder im Aufblühen der Blume auf meinem Fensterbrett? Oder in einem Bibelwort? Wenn ich Gottes Gegenwart nachspüre, geht es mir oftmals wieder besser. Und ich kann mir selbst wieder das sein, worauf ich so großen Wert lege: eine gute Gesellschaft.“
https://www.kirche-im-swr.de/?m=37541Gott tanzt. Und lädt uns ein, mit ihm mitzutanzen. Das hat nicht irgendein atemloser Student am Ende einer durchfeierten Nacht gesagt. Sondern einer der berühmtesten Mönche der Antike: Johannes von Damaskus. Heute ist sein Geburtstag, ein guter Tag, sich an ihn zu erinnern. Und an seine grundlegende Einsicht: dass Gott tanzt.
Johannes wurde im Jahr 650 in eine einflussreiche christliche Familie hineingeboren. Später ist er in das Kloster Mar Sabbah bei Jerusalem eingetreten und hat wichtige Texte geschrieben. Er hat dabei so von Ideen gesprudelt, dass er den Beinamen „goldener Strom“ erhalten hat.
Eine der eindrücklichsten Ideen von ihm lautet, dass Gott tanzt. Und zwar mit sich selbst. Denn Gott, das sind im christlichen Glauben drei Personen: Vater, Sohn und Heiliger Geist. Viele Jahrhunderte lang hat Theologen die Frage beschäftigt, wie das Verhältnis zwischen diesen drei göttlichen Personen aussieht. Was verbindet sie, was trennt sie? Johannes hatte dazu eine geniale Idee. Er sagt: Die drei sitzen nicht unbeweglich und jeweils für sich auf einem Thron nebeneinander im Himmel. Vielmehr sind Vater, Sohn und Heiliger Geist aufs engste miteinander verbunden. Und sie sind ständig in Bewegung. Johannes nutzt dafür ein griechisches Wort: peri-chorese. Peri, das heißt: um-herum, oder auch: miteinander. Und Choreo heißt: sich bewegen. So wie Tänzer sich im Ballett in einer Choreographie bewegen. – So also ist Gott: Vater, Sohn und Heiliger Geist sind wie Tänzer, die aufs engste verbunden sind und sich miteinander bewegen. Quasi Stehblues tanzen: Ganz eng und doch in Bewegung. – Im Zentrum des Universums steht der Tanz. Gott tanzt. Gott ist der Tanz zwischen Vater, Sohn und Heiligem Geist.
Mich fasziniert dieser Gedanke. Denn wenn es stimmt, was Johannes von Damaskus sagt - dann ist auch die Grundbewegung meines Lebens nicht das Gehen. Oder das Arbeiten. Nein, die Grundbewegung meines Lebens ist der Tanz. Und dabei ist es ganz egal, ob ich die Schrittfolgen beim Walzer oder beim Tango beherrsche. Es ist egal, ob ich erst neulich einen Tanzkurs gemacht habe oder ob ich mich auf den Festen einfach dem Rhythmus der Musik anvertraue und drauf los groove – Der Tanz als Grundbewegung des Lebens: Die enge Beziehung zu anderen Menschen. Die Bewegung und der Schwung. Die gemeinsamen Schritte, die man geht. Und die ständige Veränderung. –Wo werde ich heute in die Grundbewegung Gottes eintreten und mit einem anderen Menschen einen kleinen Tanz wagen? Darf ich bitten?
https://www.kirche-im-swr.de/?m=37540Die Grenze zwischen Nord- und Südkorea ist die am stärksten militarisierte Grenze der Welt: überall Raketen und Soldaten. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Denn vor einigen Wochen bin ich zusammen mit anderen Ludwigsburger Pfarrern nach Südkorea geflogen, hin zu unserer Partnerkirche in Seoul. Am dritten Tag sind wir an die innerkoreanische Grenze gefahren. Sie besteht seit 70 Jahren, seit dem Ende des Koreakrieges.
Inmitten dieser öden, hochmilitarisierten Umgebung haben wir Pfarrer Jon getroffen. Ein Mann um die 60, sehr fröhlich, sehr gebildet, sehr willensstark. Bis vor 15 Jahren ist er Pfarrer einer großen, angesehenen Gemeinde mitten in Seoul gewesen. Mit gutem Einkommen und allen Annehmlichkeiten des modernen Großstadtlebens. Doch ihn hat eine prophetische Unruhe hinausgetrieben aus der Stadt, hin an die Grenze. Jetzt steht er auf einer Baustelle und lächelt. Er erzählt: „Ich will hier ein Zeichen setzen: dass die Logik des Militärs nicht das letzte Wort hat. Schau mal hier“, sagt er und zeigt auf seine Baustelle: „Dort entsteht ein Gästezimmer für Menschen, die an der Grenze entlangwandern. Junge Menschen aus aller Welt sind das. Pilger, die damit ein Friedenszeichen setzen wollen. Und dort drüben, in dem Haus, das wir schon länger besitzen, da essen wir alle gemeinsam, jeden Tag.“ Sein Projekt nennt er „Border Peace School“: Grenzschule des Friedens.
Gerade als Pfarrer Jon mit uns spricht, fliegt ein Schwarm von Kranichen über unsere Köpfe hinweg. In großer Ruhe und mit majestätischen Bewegungen segeln die wunderschönen Vögel durch die Luft. Pfarrer Jon sagt zu mir. „Sie fliegen über die Grenze, hinüber nach Nordkorea. Dort finden sie reichlich Nahrung. Und dann fliegen sie wieder zurück und schauen, was es hier Gutes für sie gibt. Die Kraniche sind für mich Botschafter der Freiheit: Sie überwinden jede Grenze. Und sie erinnern uns daran, dass wir nicht aufhören sollen zu träumen. Grenzen sind menschengemacht. Sie wurden aufgebaut von uns Menschen und können daher auch wieder von uns Menschen abgebaut werden. – Das bringt mich zu meiner Grundüberzeugung“, sagt Pfarrer Jon. „Frieden ist keine Illusion. Frieden ist ganz konkret. Frieden ist eine Praxis, die wir einüben. Jeden Tag, an jedem Ort, egal, wo wir gerade sind.“
Ja, meine Reise nach Südkorea hat mich sehr beeindruckt: Mit den Kranichen träumen. Von der Freiheit und davon, dass Grenzen durchlässig werden. Und mit Pfarrer Jon darum wissen, dass Frieden keine Illusion ist und keine bloße Idee. Sondern eine Praxis, für jeden einzelnen Tag.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=37539