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SWR2 Wort zum Tag

11DEZ2023
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Für heute Abend habe ich Freunde und Nachbarn eingeladen. Wir feiern das ökumenische Hausgebet im Advent. Jedes Jahr bringt die Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen in Baden-Württemberg dazu eine Vorlage heraus. Neben Texten und Liedern immer auch ein Bild. In diesem Jahr stammt das Bild von dem tschechischen Künstler Tomas Smetana. Ein Weihnachtsbild - auf den ersten Blick nicht anders als viele Weihnachtsbilder. Alle, auf die es ankommt, sind mit dabei. Maria und Josef. Einer der sternenkundigen Könige aus dem Osten. Natürlich Ochs und Esel. Doch beim zweiten Hinsehen fällt etwas Besonderes auf. In der Mitte – da wo sonst die Krippe mit dem Kind hingehört, ist - nichts. In der Weihnachtsszene fehlt die Krippe. „Das Bild ist einfach nicht fertig geworden“, erklärt Tomas Smetana diese besondere Bildkomposition.

Nicht fertig werden. Ich kenne dieses Gefühl. Die Liste mit den Aufgaben ist lang. Zu vieles habe ich mir vorgenommen. Und es bleibt immer noch etwas übrig. Gerade im Advent.

Weil da etwas fehlt. Mit dem Künstler gesprochen: Weil die Krippe fehlt. Die Mitte, auf die ich mich ausrichten könnte. Stattdessen drängen sich andere Dinge nach vorn. Das ganze Weihnachtsvolk ist da. Wie auf dem Bild. Die Familie. Freundinnen und Freunde. Nachbarn. Kolleginnen und Kollegen. Irgendwie haben sie alle ein Anrecht, im Blick zu sein. Durch eine Begegnung. Eine Einladung. Eine Weihnachtskarte. Aber vieles müsste gar nicht jetzt sein. Da schieben sich von außen Erwartungen in mein Leben. Und ich kann ihnen gar nicht allen gerecht werden. 

Das leere Feld mitten im Bild – es übermittelt mir auch eine Botschaft. Es kommt mir vor, wie eine Bühne. Da fehlt nicht einfach nur etwas. Diese offene, leere Fläche bietet mir auch einen Gestaltungsraum. Hier könnte mein Zugang ins große Geschehen der Weihnacht liegen. Der Prophet Jesaja schreibt einmal: „Sogar ein Ochse weiß, was für ihn wichtig ist. Und ein Esel, wo er seinen Platz findet.“ (Jesaja 1,3) Mir bleiben noch knapp zwei Wochen, um mich zu entscheiden, wie ich dieses Jahr diese weihnachtliche Bühne nutze. Was sich dort abspielen soll. In der Krippe, die auf dem Bild fehlt, liegt: ein Mensch. Gott hatte die Idee, den Menschen ins Zentrum zu rücken. Daran möchte ich mich orientieren.

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SWR2 Wort zum Tag

04NOV2023
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Seit kurzem haben wir eine Photovoltaikanlage auf unserem Dach. Ganz wunderbar finde ich die App, die dazugehört. Da kann ich immer genau verfolgen, wie viel Strom die Anlage gerade erzeugt. Ob er ausreicht für das Licht und die Spülmaschine. Oder ob ich noch Strom aus dem Speicher oder aus dem Netz brauche. Wenn die Sonne ordentlich scheint, kann ich sogar überschüssigen Strom ins Netz einspeisen.

 

Spontan habe ich gedacht: Wie wäre es, wenn es so etwas für mein Leben geben würde? Eine Möglichkeit, meine Kraftreserven einzuschätzen. Und meine Lebensenergie. Ist mein innerer Kräftespeicher gefüllt? Oder muss ich schauen, woher mir neue Kräfte zuwachsen? Zum Glück gibt es auch viele Tage, an denen ich anderen von meinen Kräften weitergeben kann.

 

Die Rolle, die bei der Solaranlage die Sonne übernimmt, übernehmen in meinem Leben andere. Zuallererst die Menschen, mit denen ich zusammenlebe. Die mir guttun. Und die es gut mit mir meinen. Gelingende, tragende Beziehungen, oft über Jahrzehnte, sind eine Energiequelle voller Kraft. Auf die bin ich angewiesen.

 

Lebensenergie kommt mir aber auch ganz entscheidend aus meinem Glauben zu. Kein Wunder, wird doch Gott in der Bibel immer wieder mit der Sonne verglichen. „Sonne und Schild“ sei Gott. (Psalm 84,12) Und ein altes Kirchenlied singt von der „Sonne der Gerechtigkeit“.

 

Nein, messen und verwalten kann ich die Kraft dieser Sonne nicht. Auch nicht die Energie, die mir aus anderen Quellen zukommt. Aber spüren kann ich sie. Wenn ich mich engagiere. Andere Menschen an meiner Kraft und Lebenslust teilhaben lasse. Oder wenn ich darauf angewiesen bin, dass es auch einmal umgekehrt geht. Und ich abwarte, bis andere mir ihre Kräfte leihen. Manchmal ist es auch eine besonders schöne Erfahrung, dass ich auch so etwas wie einen inneren Speicher habe, in dem Gutes und Schönes gesammelt ist. Dass da etwas in mir nachklingt und nachwirkt. Auch über längere Zeit.

 

Eine App auf dem Handy brauche ich dafür nicht. Eher ein gutes Gespür für das, was heute für mich dran ist. Und eine Portion Gottvertrauen. Vor allem dann, wenn die Tage manchmal etwas trister daherkommen. Denn wenn schon die Anlage auf dem Dach auch dann Energie erzeugt, wenn die Sonne gar nicht wirklich zu sehen ist – wieso soll es mit Gott dann anders sein?!

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SWR2 Wort zum Tag

03NOV2023
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Fast jeden Tag kann ich das kleine Schauspiel bewundern. Ein Kind, an der Hand eines Erwachsenen, das plötzlich vor unserem Haus stehen bleibt. Im Belag des geteerten Weges gibt es da nämlich eine kleine Vertiefung. In der steht selbst dann noch das Regenwasser, wenn der Weg selber schon lange trocken ist. Die Kinder entdecken die kleine Dauerpfütze sofort. Und treten lustvoll in das aufspritzende Nass.  

Ich beneide Kinder um diese Gabe: Sie entdecken etwas, was die meisten Erwachsenen gar nicht wahrnehmen. Und sie haben offenkundig ihre große Freude daran. Wenn ich dann wieder eines der Kinder beim Pfützentreten beobachte, fällt mir manchmal ein Satz Jesu ein: „Wenn ihr nicht werdet wie diese Kinder, bleibt das Reich Gottes für euch verschlossen.“ (Matthäus 18,3) Ich gebe zu: Ich habe diesen Satz lange nicht wirklich verstanden. Kinder haben doch noch so wenig Lebenserfahrung. Kennen sich in den Problemzonen des Lebens so wenig aus – wie sollen sie für mich Türöffner ins Himmelreich werden können? Jesus antwortet mit diesem Satz, als seine Freunde ihn fragen, wer denn der Größte sei im Himmel. So, als ob sich das Spiel von oben und unten, von wichtig und unwichtig, von groß und klein immer weiter fortsetzt.

Genau diesem Denken stellt Jesus das Beispiel der Kinder gegenüber. Natürlich: Kinder haben auch ihre Machtkämpfe. Sie können sich richtig streiten. Aber es geht nicht um Sein oder Nichtsein. Kinder, so verstehe ich diesen Satz, bleiben im Übungsmodus. Probieren und verwerfen. Erfinden das Leben immer wieder neu. Ihre Art zu leben hat etwas Spielerisches. Alles kann noch einmal neu und ganz anders werden. Und doch sind sie in diesem Spiel des Lebens mit Ernst bei der Sache. Und entdecken für sich Möglichkeiten, an denen wir Erwachsenen achtlos vorbeigehen.

 

So entdecke ich im Strahlen auf dem Gesicht der kleinen Pfützentreter eine kleine Vorahnung des Himmels. Freude pur. Für einen Moment. Ehe dann wieder anderes wichtig wird. Der Käfer, der weiter vorne über den Weg läuft. Vielleicht auch Mama oder Papa, denen das jetzt doch zu lange geht, weil sie ihre Erwachsenentermine haben. Aber wenn ich nachher aus dem Haus gehe, will ich’s den Kindern einmal nachmachen. Ich will mir Zeit lassen. Womöglich auch einmal in die Pfütze treten. Und schauen, wo ich heute schon ein Stück Himmelreich entdecken kann.

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SWR2 Wort zum Tag

02NOV2023
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Letzte Woche war's ein wertvolles Weinglas, das mir beim Spülen einfach auseinandergebrochen ist. Und ein paar davor Tage ging mir eine getöpferte Schale zu Bruch. Das Bild mit dem zerbrochenen Rahmen steht immer noch an der Wand. Und erinnert mich jeden Tag aufs Neue daran: Scherben lassen sich manchmal nicht vermeiden. Ob aus Unachtsamkeit. Oder einfach so.

 

Manchmal zerbricht aber auch anderes. In der Beziehung zwischen Menschen. Die Liebe, die ein Paar miteinander verbindet. Das Vertrauen, das in einer langjährigen Freundschaft gewachsen war. Das eingespielte Miteinander zwischen Kolleginnen und Kollegen.

Gleich mehrfach wird in der Bibel das Bild vom zerbrochenen Vertrauen aufgegriffen. Dann wird von Gott als der Kraft gesprochen, die Zerbrochenes wiederherstellt. „Gott heilt, die zerbrochenen Herzens sind“, heißt es etwa in einem Psalm, „und verbindet ihre Wunden.“

Manchmal erzählt mir jemand, warum es in einer Beziehung einfach nicht mehr weitergegangen ist. Und dann höre ich dieselbe Geschichte manchmal auch von beiden Seiten. Dann suche ich nach einer Idee, wie es vielleicht doch noch einmal weitergehen könnte. Wie bei den Scherben aus Ton. Da lässt sich manchmal auch noch einmal etwas reparieren.

In Japan gibt es eine alte, besonders schöne Tradition, mit Zerbrochenem umzugehen. Kintsugi heißt sie. Auf Deutsch: Reparieren mit Gold. Zerbrochene Gefäße werden wieder zusammengeklebt. Aber dann – und das ist das Besondere – werden die Bruchstellen mit Blattgold überzogen. Sie werden nicht verborgen, sondern sollen gerade sichtbar gemacht werden. Umspinnen das neu zusammengefügte Gefäß wie mit goldenen Fäden.

Ins Leben gezogen könnte das heißen: Auch bei zerbrochenem Vertrauen könnte es - manchmal zumindest - weiterhelfen, wenn es gelingt, Bruchstellen mit Blattgold zu überziehen. Das Zerbrechen lässt sich nicht einfach rückgängig machen. Die Spuren bleiben. Wie Narben können die Bruchstellen wirken. Aber mit ihrer Goldauflage sehen sie aus, als seien sie mit Zeichen einer neu erworbenen Schönheit verziert.

Mir hilft gerade mein Glaube beim Versuch, Bruchstellen mit Gold wieder ansehnlicher zu machen und zerbrochenem Vertrauen doch noch einmal eine Chance zu geben. Zum Glück mache ich immer wieder die Erfahrung, dass das geht.

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SWR2 Wort zum Tag

23SEP2023
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Ich liebe den Herbst! Er hat sonnige Tage. Aber die Wärme der Sonne ist wohltuend und erträglich. Die Blätter haben ihr Grün meist schon eingebüßt. Aber bunt sind sie ja noch viel schöner. Irgendwann wird die Kälte des Winters kommen. Aber bis dahin ist es zum Glück noch lang.

Seit meiner Kindheit hat es mit dem Herbst für mich etwas Besonderes auf sich.  Er ist nicht nur der Name einer Jahreszeit. Er ist auch mit einem Tätigkeitswort verbunden. Herbsten, das bedeutet, dass die Trauben in den Weinbergen geerntet werden. Im Moment wird wieder geherbstet! Niemand wintert oder sommert. Aber „herbsten“ – das hat sich als Tätigkeitswort durchgesetzt.

Herbstzeit ist Erntezeit. Der beginnende Herbst – er könnte auch für mich als Mensch, der keinen eigenen Weinberg besitzt, den Einstieg in eine neue Phase im Jahr bedeuten. Ich blicke zurück auf den Anfang des Jahres. Und ich schaue, wo sich vielleicht bald etwas ernten lässt, von dem, was ich gesät und bearbeitet habe. In einer Beziehung. Im Beruf. In einem Projekt, in dem ich mich ehrenamtlich engagiere. Manches ist schon zur Ernte reif. Anderes braucht noch etwas Zeit.

In der Bibel ist das Ernten ein ganz zentrales Thema. Von Oliven und Trauben wird erzählt, die zur Ernte anstehen. Von den reifen Ähren, die geschnitten werden müssen. Im Herbst kommts zum Schwur. Da zeigt sich, was die Menschen zuvor investiert haben. „Der Faule pflügt nicht mehr im Herbst. Er schaut nach der Ernte – und es ist nichts da!“ – so heißt es in einer Sammlung weisheitlicher Sprüche (Sprüche 20,4). Die Versäumnisse des Frühjahrs und des Sommers kommen im Herbst zum Tragen. Aber genauso der Lohn für unermüdlichen Einsatz der letzten Monate.

Ich spüre: Mehr als andere Zeiten wird der Herbst für mich auch zum Bild eines Menschenlebens. Vor allem, wenn’s darum geht zu prüfen, was bleibt. Leben zwischen den Zeiten. Zwischen Sommer und Winter. Zwischen Aufkeimen und Vergehen. Zeit, mit dem, was ich ernten kann, etwas anzufangen, entscheidende Zeit, die mir gewährt wird. Damit ich auch in meinem Leben „herbsten“ kann. Ich hoffe, da lässt sich dann auch einiges an guten Lebensfrüchten ernten. Der heutige Herbstanfang erinnert mich daran.

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SWR2 Wort zum Tag

22SEP2023
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„Kennst du mich noch?“ Immer wieder habe ich solche Begegnungen, die mit dieser Frage beginnen. Ich treffe auf Menschen, mit denen ich in der Schule war. Die ich aus dem Studium kenne. Oder mit denen ich sonst irgendwie zu tun hatte. Auch wenn es manchmal ein paar Sekunden dauert - die meisten erkenne ich dann doch auch wieder.

Erst vor kurzem habe ich wieder jemand getroffen, den ich vor vierzig Jahren das letzte Mal gesehen habe. Und trotzdem war sofort wieder eine Nähe da. Erstaunlich, wie sich die Intensität einer Beziehung auch über einen langen Zeitraum hält.

Über diese vierzig Jahre muss ich seither immer wieder nachdenken. Vierzig Jahre, denke ich – das war doch die Dauer der Wüstenzeit für die Israeliten, der Zeitraum zwischen ihrer Zeit als Sklaven in Ägypten und dem Einzug in ihre neue Heimat, die ihnen wie ein gelobtes Land erscheint. Der biblische Vergleich hinkt natürlich etwas. Hinter mir liegen doch keine Wüstenjahre. Und die Gegenwart ist auch nicht das Gelobte Land. Aber was richtig daran ist: Irgendwann ist eine bestimmte Phase unwiderruflich vorbei. Aufgaben haben sich verändert. Orte, an denen sich mein Leben abgespielt hat. Rollen, die mir zugeschrieben wurden. Aber in allen Brüchen gibt es auch Linien, die weiterlaufen. Der Gott der Sklaven, der Gott der Wüstenzeit und dann auch im neuen gelobten Land – es ist derselbe. Die Beziehung bleibt – mitten in aller Veränderung.

In den meisten Fällen freue ich mich deshalb über die Begegnungen, die mit dem „Kennst du mich noch?“ beginnen. Sie bestätigen mich: Die Beziehung, die einmal war, hat sich nicht einfach aufgelöst. In meinem Kopf, in meinem Gehirn, in meinem Herzen bleibt etwas eingeschrieben. Linien, die unbewusst weiterlaufen. Auch wenn sie manchmal unsichtbar sind.

So kann ich mein Leben in aller Bruchstückhaftigkeit als ein Ganzes sehen. Und in dem, was mein Leben dann zu einem Ganzen macht, sehe ich für mich Gott am Werk. Und Gottes Zusage: „Bis in euer Alter bin ich derselbe!“ (Jesaja 46,4) Gott ist für mich mein bleibendes Gegenüber. In allen Lebensphasen.  Selbst dann, wenn dieses Gegenüber für mich manchmal ganz verschwindet. So wie in andere Beziehungen eben manchmal auch. Mit einem Mal taucht dann Gott ganz überraschend wieder auf: „Kennst du mich noch?“ Dann schaue ich womöglich vierzig Jahre zurück. Vor allem schaue ich zuversichtlich nach vorne.

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SWR2 Wort zum Tag

21SEP2023
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Ich bin nicht schwindelfrei. Und bei anstrengenden Bergtouren komme ich schnell an meine körperlichen Grenzen. Aber ich beneide die Bergsteiger, die sich in den Bergwelten wie in ihrem Zuhause bewegen. So wie den jungen Mann, den meine Frau und ich unlängst als Anhalter mitgenommen haben. Spät am Vorabend, erzählt er, fast um Mitternacht, war er bei einer Berghütte angekommen. Um drei Uhr in der Frühe war er am Vortag mit zwei anderen Bergsteigern aufgebrochen. Drei Gipfel hintereinander haben sie dann bestiegen. Auf einem Grat, den in diesem Jahr bisher noch niemand vorher gegangen war. Der Stolz steht dem jungen Mann ins Gesicht geschrieben, als er davon berichtet.

Ob das nicht doch sehr gefährlich gewesen sei, habe ich ihn gefragt. „Ich glaube, die Fahrt hier auf der Autobahn ist viel gefährlicher!“, gab er zur Antwort. „Man muss sich halt nur immer gut absichern und darf keine Angst haben.“ Und er hat dann noch hinzugefügt: „Das Wichtigste ist nicht der Umgang mit dem Berg und seinen Herausforderungen. Das Wichtigste passiert im Kopf. Ich muss immer präsent sein. Und hellwach. Damit ich genau weiß, was als Nächstes zu tun ist. Und: Wir müssen uns als Gruppe blind aufeinander verlassen können.“

Die Begeisterung des jungen Bergsteigers hat für mich fast religiöse Dimensionen. Ergriffen wirkt er, wenn er von seinen Erfahrungen erzählt.  Darum wundert es mich auch nicht, dass in der Bibel immer wieder die Berge zum Ort der Gottesbegegnung werden. Auf dem Berg, so lesen wir, erhält Mose die Tafeln mit den Zehn Geboten. Und ein in Bedrängnis geratener Mensch betet: „Ich richte meine Augen hinauf zu den Bergen! Von wo anders soll ich sonst Hilfe erwarten? Meine Hilfe kommt doch von Gott, dem Schöpfer!“ (Psalm 121,1+2)

Die gewaltigen Bergmassive, ihre Schönheit, zugleich aber auch ihre riesigen Ausmaße – sie spiegeln für diesen Menschen die Größe und Erhabenheit Gottes wider. Da nehme ich als Mensch meine eigene bescheidenen Größe wahr. Und ein Gefühl der Ehrfurcht. Das hilft mir auch, wenn ich mich auf den Weg mache, um Gott zu suchen. Ich nehme mir vor, andere auch etwas von dieser Begeisterung spüren zu lassen – so wie der junge Mann. In meinem Glauben muss ich nicht einmal schwindelfrei sein. Es reicht, wenn ich mich darauf verlasse, dass da jemand ist, der mich hält.

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SWR2 Wort zum Tag

26AUG2023
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„Ich darf hier doch vorbeigehen?“ Mit einem Strahlen im Gesicht hat uns der Mann dabei angeschaut. „Ja, gerne!“, habe ich gesagt. „Was haben sie denn vor?“ „Ich feiere heute meinen 60. Geburtstag, antwortet er. „Und auf dieser Bank da vorne habe ich schon bei meinem 50. Geburtstag gesessen. Zusammen mit meiner Frau und meinen Kindern. Da muss ich nach zehn Jahren endlich wieder hin.“

Dieses Mal ist der Mann alleine unterwegs. Die Kinder werden aus dem Haus sein. Auch die Frau ist nicht mit dabei. Ich wage nicht nachzufragen, warum das so ist. Aber der Mann wirkt nicht so, als hätte er einen schweren Gang vor sich. Er scheint nicht unterwegs zu sein, weil die Erinnerung an den schönen Tag vor zehn Jahren schmerzt. Eher kommt es mir vor, als hätte er einen Glücksort seines Lebens vor Augen. An diesem Ort möchte er wohl erneut Kraft tanken. Ein Ort, der für ihn so etwas wie Heimat darstellt.

Solche Orte brauche ich auch! Gerade weil die Welt so mobil geworden ist. Berufsbedingte Ortwechsel. Neuanfänge. Belastendes genug. Im Kleinen. Aber derzeit ja auch beim Blick auf die Weltlage. Da ist es gut, wenn ich Orte habe, an denen ich mich sicher fühle. In den alten biblischen Berichten ist die Heimat oft ein Bild für diesen Kraftort. In der Verbannung in Babylon ist vielen Israeliten, die dorthin verschleppt worden sind, von dieser Heimat nur die Sehnsucht nach einer Rückkehr geblieben. Es war für die Menschen ein Leben im Exil. Fern der Heimat. Und die Zusage dieser Rückkehr in die Heimat war dann die große Hoffnung. Der Prophet Jeremia bringt es auf den Punkt, wenn er zu seinen Landsleuten sagt: „Es gibt eine Hoffnung für deine Zukunft: Deine Kinder werden in die Heimat zurückkehren!“ (Jeremia 31,17)

Gegenwärtig habe ich Immer wieder den Eindruck, dass Menschen mit diesem Gefühl des Exils unterwegs sind - ohne dass sie ihre Heimat verlassen mussten. Irgendwie finden sie sich in ihrer eigentlich vertrauten Welt nicht mehr zurecht. Da tun solche kleinen Symbolorte der Heimat gut. Wahrscheinlich ist auch diese Bank für den Mann ein solcher Symbolort der Heimat, ein Ankerort im bewegten Meer des Lebens. Das Leuchten auf dem Gesicht dieses Mannes spricht auf jeden Fall dafür. Hoffentlich geht ihm dieser Glücksort nicht verloren.

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SWR2 Wort zum Tag

25AUG2023
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In unserem Garten haben wir vor einigen Wochen einen Feigenbaum gepflanzt. Eine unserer Töchter hat ihn aus einem Ableger für uns gezogen. Er steht jetzt ganz zentral mitten auf einem kleinen Rasenstück. Irgendwie steht der herausgehobene Ort auch für seine besondere Bedeutung. Für meine Frau und für mich. Aber auch für Gäste, die ihn sehen. Und die uns auf den Feigenbaum ansprechen. Und nachfragen.

Eigentlich hatten wir das gar nicht im Blick, als wir den Baum dorthin gesetzt haben. Wir wollten ihm nur genügend Platz zum Wachsen gönnen. Aber ein Freund hat uns den Baum dann noch einmal in anderer Weise in den Blick gerückt. „Da könnt ihr im Alter ja unterm Feigenbaum sitzen!“ hat er gesagt. Und damit einiges in unserer Sicht auf den Feigenbaum in Gang gesetzt. „Im Alter unter dem Feigenbaum sitzen!“ Ein schönes Bild! Und zugleich ein biblisches Bild! Vom weisen König Salomo wird berichtet, dass seine Landsleute unter seiner Herrschaft viele Jahre in Frieden leben konnten. „Jeder unter seinem Feigenbaum!“ (1. Könige 5,5)

Er muss also schon vor 3000 Jahren ein besonderer Baum gewesen sein. Schatten fanden die Menschen unter seinen Zweigen. Süße, köstliche Früchte gleich zweimal im Jahr. Und ich gebe zu: Auch ich liebe Feigen. Egal, ob ich sie einfach so in den Mund stecke. Oder in Form von Marmelade. Oder als fruchtiger Feigensenf.

Irgendwie hat er also etwas Magisches. Ein Baum mit Früchten, der schon vor 3000 Jahren als etwas Besonderes gegolten hat. Auch von Jesus werden Feigenbaumgeschichten überliefert. Einmal verflucht Jesus sogar einen dieser Bäume. Weil er keine Früchte an ihm findet. Gerade so, als ob es zu den Aufgaben eines Feigenbaumes gehört, schattiger Ort und Spender köstlicher Früchte zu sein.

Unser Feigenbaum ist erstmal noch nicht so groß, dass er eine dieser herausragenden Funktionen erfüllen könnte. Aber er verbindet sich jetzt schon mit einer großen Tradition, die bis in die Zeit des Königs Salomo zurückreicht. Und er ist für mich zugleich ein Zeichen der Verheißung, dass diese Welt Zukunft hat. Ich hoffe sehr, dass ich eines Tages unter den Zweigen des Feigenbaums Schatten und Kühle finde. Und dass er für alle, die ihn sehen, zum Zeichen des Friedens wird. Und bis es so weit ist, lasse ich mir an seinen süßen Früchten genügen.  

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SWR2 Wort zum Tag

24AUG2023
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Gerade noch rechtzeitig haben wir den Hafen erreicht. Alles schnell zusammengepackt und los. Auf dem Weg zum Hafen der Insel hatte der Wind schon ordentlich an Kraft zugenommen. Am Schiffsanleger angekommen, sind wir schon ordentlich durchnässt. Aber die letzte Fähre haben wir gerade noch erreicht. Ab dem kommenden Vormittag waren alle weiteren Fahrten bis auf unbestimmte Zeit erst einmal ausgesetzt. Zu gefährlich bei dem unübersehbar aufziehenden Sturm. Und auf dem Festland hatte ein freundlicher Nachbar für uns noch schnell ein gutes Quartier beschafft.

Anlass zu wirklicher Sorge oder gar zu Dramatik hat es zu keinem Zeitpunkt gegeben. Aber es war trotzdem ein gutes Gefühl, mit dem vorerst letzten Schiff davongekommen zu sein. An viel dramatischere Geschichten musste ich plötzlich denken. An verfolgte Menschen, denen mit dem letzten Schiff die Flucht vor den Nazis gelungen ist. An Menschen auf der Flucht heute, auf einem überfüllten Schiff irgendwo im Mittelmer in Seenot. Und ein herannahendes Schiff rettet ihnen in letzter Minute das Leben.

Einer der ganz großen Berichte der Bibel erzählt gleich mehrfach von solch gelungenen Rettungen in letzter Minute. In letzter Minute gelingt den israelitischen Sklavinnen und Sklaven die Flucht vor den Verfolgern des Pharaos. In letzter Minute schaffen sie es durch das rettende Rote Meer, ehe die Wellen hinter ihnen wieder zusammenschlagen und den Fluchtweg verschließen. Mehr als einmal finden sie unterwegs in letzter Minute etwas zu essen und zu trinken, bevor sich Hunger und Frust breitmachen und das ganze Projekt des Aufbruchs in die Freiheit endgültig scheitern lassen. Exodus, nennt man diese zentrale biblische Geschichte, auf Deutsch wörtlich: Auszug. Der Aufbruch in eine neue Freiheit, an einen Ort sicheren Lebens und in eine bessere Zukunft ist ein Urmodell der biblischen Geschichte. Geschichten von Gotteserfahrungen sind oft Aufbruchsgeschichten. Und sie sind aktuell. Bis heute.

Nein, mein eigener kleiner Exodus kann mit diesen großen Geschichten der Bibel sicher nicht mithalten. Aber das Gefühl, gerade noch einmal rechtzeitig davongekommen zu sein – im wahrsten Sinn des Wortes, hat mich an diese religiöse Urerfahrung erinnert. Und mich einen Hauch der großen Befreiungsgeschichten Gottes spüren lassen. Eine schöne Erfahrung!

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