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SWR Kultur Wort zum Tag
„Nichts Schöneres unter der Sonne, als unter der Sonne zu sein“ – wie treffend dieser Vers von Ingeborg Bachmann ist, und das ganze Gedicht auch. Ein einziger Sonnenhymnus. Klar, man kann sich auch einen Sonnenbrand holen. Und die fortschreitende Versteppung der Erde zeigt, dass mit diesem Feuerball am Himmel nicht zu spaßen ist. Aber was wären wir Menschen ohne die Sonne, was das Leben ohne ihre Strahlen und ihr Licht? Jetzt im Sommer besonders. Zwar hat sie für dieses Jahr ihren Zenit schon hinter sich, die Sommersonnenwende war ja schon, aber dieses Grundgefühl von Jahresmitte und Sonnenfülle ist prägend, auch von Reifung und Ernte, von Ferien auch und von Urlaub. „Nichts Schöneres unter der Sonne, als unter der Sonne zu sein.“ Einfach super.
Seit es Menschen gibt, gibt es auch Sonnenkulte. Die Sonne ist der erste Gott, die erste Göttin im Leben der Menschheit. Alle Kulturen und Religionen umkreisen dieses Lichtzentrum als göttliche Instanz, von größter Bedeutung für Leben und Tod. Noch heute sagt man von Leuten am Strand, sie seien Sonnenanbeter. Für biblisch Glaubende ist die Sonne sichtbarster Ausdruck von Gottes Schöpferkraft. Sie ist „die Morgenlektion Gottes“ – so meinte Johann Gottfried Herder, der gelehrte Stadtpfarrer von Weimar, damals zu Goethes Zeiten. Ja, auch der heutige Sonnenaufgang enthält diese wichtige Botschaft: mag die Nacht noch so schlimm gewesen sein, das Tageslicht ist stärker: Gott ist im Kommen, auf seine Ausstrahlung ist Verlass, in diesen Sommertagen erst recht.
Das kirchliche Morgengebet ist voll von anschaulichen Lobeshymnen auf das Sonnenlicht und die Schöpfung. „Du Abglanz von des Vaters Pracht, / du bringst aus Licht das Licht hervor, / du Licht vom Licht, du Lichtes Quell, / du Tag, der unsern Tag erhellt. // Du wahre Sonne, brich herein / die Sonne, die nicht untergeht, / und mit des Geistes lichtem Strahl / dring tief in unsrer Sinne Grund.“ Über 1500 Jahre alt ist dieser Hymnus vom Mailänder Bischof Ambrosius, damals wie heute brandaktuell: göttliche Sonnenergie draußen in der Natur, auf den Hausdächern und hoffentlich auch im eigenen Fühlen und Leben: „Dring bis auf der Seele Grund“. In diesem Sinn Ihnen und uns einen guten Morgen, mit viel Sonne im Herzen!
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„Das Jahr steht auf der Höhe, / die große Waage ruht. / Nun schenk uns deine Nähe / und mach die Mitte gut.“ So beginnt ein Kirchenlied mit Versen von Detlev Block. Zwar sind seit der Sommersonnenwende schon wieder einige Wochen vergangen, aber dieses Gefühl von Jahresmitte ist noch prägend. Die Sonne und das Jahr im Zenit, der volle Sommer, das Ausreifen. „Das Jahr steht auf der Höhe .../ Herr, zwischen Blühn und Reifen / und Ende und Beginn. / Lass uns dein Wort ergreifen / und wachsen auf dich hin.“ So endet die erste Strophe.
Ich liebe dieses Lied, eigentlich müsste ich es jetzt singen, allein wegen der Melodie. Es hat so einen lebenssatten Klang, voller Zuversicht und Lebensfreude. Da hält sich alles die Waage: Frühling und Herbst sind von Ferne präsent, aber jetzt ist Reifung und Fülle, wie im kurzen Wendepunkt von Ein- und Ausatmen. Stille und Dank, auch Bilanz und Ernte ein bisschen, und schon das Wissen um den anklopfenden Herbst. Im Lied heißt das so: „Das Jahr lehrt Abschied nehmen / schon jetzt zur halben Zeit. / Wir sollen uns nicht grämen, / nur wach sein und bereit, / die Tage loszulassen / und was vergänglich ist, / das Ziel ins Auge fassen, / das du, Herr, selber bist.“ Mit der Anrede „Herr“ habe ich zwar Schwierigkeiten, denn das hat für mich den Beigeschmack von Unterwerfung, von Herr und Knecht, männlich zudem. Aber der Sound des ganzen Liedes ist so einladend und beschwingt, dass es mich mitnimmt und trägt. Diesen Morgen in der Jahreshöhe gilt es zu würdigen, ja zu feiern: Lust am Leben hier und jetzt, „wach sein und bereit“, immer auch abschiedlich. Das macht diesen Tag noch einmaliger.
Die vierte Strophe sammelt dieses Ja zur Erde in der Anbetung des Schöpfers und seiner Treue. „Du wächst und bleibst für immer, / doch unsere Zeit nimmt ab. / Dein Tun hat Morgenschimmer, / das unsere sinkt ins Grab. / Gib, eh die Sonne schwindet, / der äußere Mensch vergeht, / dass jeder zu dir findet / und durch dich aufersteht.“ Völlig paradox: noch im Abnehmen der Lebens- und Jahreszeit geht es um Wachstum und Lebensfülle, um nichts sonst. Da ist eine ungeheure Daseinslust spürbar, durch und durch österlich. Gott selbst wächst mit uns und wir mit ihm. „Dein Tun hat Morgenschimmer“ - ja, das Lied hat Recht - „nun schenk uns deine Nähe und mach die Mitte gut.“
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Vor 100 Jahren, genau am 11. Juni, ist Franz Kafka beerdigt worden, gerade mal 41-jährig. Noch bis zu seinem Tod hatte der schwer kranke Dichter Korrektur gelesen für den Druck seiner Geschichte „Der Hungerkünstler“. Wie so oft ein Vermächtnis der besonderen Art, unschwer sind autobiografische Bezüge auszumachen, und alle, die sie lesen, bekommen das zu spüren, „als wär‘s ein Stück von mir“.
Dieser seltsame Hungerkünstler mit seiner Show ist schon lange mit dem Zirkus unterwegs, aber irgendwie hat man ihn fast vergessen. Jetzt bei der Inventur stößt man auf den völlig Erschöpften und will ihn entsorgen; Platz muss her für einen Tiger, und „der hat das Leben im Gebiss“, wie es heißt. Auf die Frage, warum er denn überhaupt auf das Essen verzichte, antwortet dieser Hungerkünstler mit den Worten: „weil ich hungern muss, ich kann nicht anders“ – und weiter: “weil ich nicht die Speise finden konnte, die mir schmeckt. Hätte ich sie gefunden, glaube mir, ich hätte kein Aufsehen gemacht und mich vollgegessen wie du und alle.“
Die Speise finden, die mir schmeckt – die also satt macht und den Lebenshunger wirklich stillt. Man braucht nur mal junge Vögel im Nest mit ihren ständig offenen Schnäbeln zu betrachten, aber natürlich können wir uns mit dem Blick auf ein Baby an unsere eigene Geschichte erinnern. Es geht nicht nur um Nahrungszufuhr allgemein. Auf den Geschmack kommen, ist ja nicht nur ein kulinarisches Geschehen und eine ästhetische Angelegenheit; es hat mit mir persönlich und meiner Lebensart zu tun. Wer in Erregung z.B. herausschreit „das schmeckt mir nicht“, äußert damit höchstes Missfallen und Unbehagen. Er lässt sich nicht abspeisen. Kafkas Hungerkünstler gibt sich mit Ersatzprodukten nicht zufrieden, er lässt sich seinen Hunger nicht ausreden. Er ist ein Widerständler mitten im Zirkus einer Bedürfnisgesellschaft, die ihren Hunger stets betäubt.
Der Hungerkünstler Kafkas steht stellvertretend für alle, die real hungern und Nahrung brauchen. Er steht Pate für alle, die sich ihren spirituellen Hunger nicht nehmen lassen. Denn der Mensch lebt nicht allein vom Brot, sondern von jedem Wort, das aus dem Munde Gottes kommt. „Selig sind, die hungern und dürsten nach Gerechtigkeit, sie werden gesättigt werden“.
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Ein Satz wie ein Bergkristall, klar und scharf und mit innerem Licht: „Der Mensch kann nicht leben ohne ein dauerndes Vertrauen zu etwas Unzerstörbarem in sich, wobei sowohl das Unzerstörbare als auch das Vertrauen ihm dauernd verborgen bleiben können. Eine der Ausdrucksmöglichkeiten dafür ist der Glaube an einen persönlichen Gott.“ Franz Kafka hat diesen Satz ihn im Dezember 1917 geschrieben, in der vielleicht glücklichsten Zeit seines Lebens. Seit wenigen Monaten weiß der 34jährige durch einen dramatischen Blutsturz, dass er an Tuberkulose erkrankt ist, und er ahnt wohl auch schon, dass er daran sterben wird, am 3. Juni 1924 tatsächlich, vor 100 Jahren. Er ist zur Erholung auf dem böhmischen Land in Zürau bei seiner Lieblingsschwester Ottla, vieles ordnet sich neu in ihm und kommt sogar zur Ruhe. Die förmlich ererbte Lebensangst scheint wie gebändigt.
Aus der Lektüre Schopenhauers ist ihm der Gedanke des Unzerstörbaren wichtig geworden: in jedem Menschen gebe es so einen letzten Grund. Dass ich da bin, ist nicht zu leugnen, dass ich irgendwie da sein will, auch nicht. Da ist ein Tiefenvertrauen, mindestens ein guter Verdacht. Kafka ahnt und lernt: Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser. „Ein dauerndes Vertrauen zu etwas Unzerstörbarem“ als Basis von allem, und das längst vor allem Denken und Wissen. Manche sprechen von Urvertrauen. Mag es noch so angeknackst sein, gäbe es nicht wenigstens etwas davon, wir würden es auf Dauer nicht aushalten. Es ist wie bei der Gesundheit: was sie einem wirklich bedeutet, wird uns erst in der Krankheit bewusst. Bis dahin war sie verborgen. „Etwas Unzerstörbares“, wirklich tragfähig und verlässlich. Es hat mit dem zu tun, was Menschen Gott nennen. Aber Kafka bleibt da erfreulich diskret. Es geht ja um das Intimissimum des Menschen, um die Lebensfrage: worauf sich verlassen, im Leben und im Sterben?
Die Geschichten, Aphorismen und Tagebücher Kafkas sind ein faszinierendes Medium, um sich dem All-Tag zu stellen. Wer gar an einen persönlichen Gott zu glauben vermag, kann dadurch tiefer erfahren, welch unglaubliches Geschenk das ist, welch ein Schatz, z.B. das Beten. Und wer nicht glauben kann, wird gestärkt mit der Frage aller Fragen umgehen: worauf ist Verlass, im Leben und im Sterben, und jetzt?
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„Dass es uns an Glaube fehle, kann man nicht sagen. Allein die einfache Tatsache unseres Lebens ist in ihrem Glaubenswert gar nicht auszuschöpfen.“ Diese These stammt von Franz Kafka, dem vielleicht klarsten und abgründigsten Schriftsteller deutscher Sprache. Ein erstaunlicher Satz, denn öfter ist ja das Gegenteil zu hören: „ich glaub nix, mir fehlt nix“. Dass es da gar einen Überschuss an Glauben geben soll, ist wirklich eine kühne Aussage. Vor drei Tagen war Kafkas 100.Todestag. Als er vom unerschöpflichen Glaubenswert des Lebens schrieb, hatte er schon den Befund Tuberkulose zu verkraften, damals meist tödlich und dann auch für ihn. Und trotzdem diese kühne Notiz: Glaube ist genug da, schier unerschöpflich. „Man kann doch nicht nicht-leben.“
Klar ist sofort: Kafka meint hier nicht religiösen Glauben oder gar den kirchlichen. Natürlich schwingt seine jüdische Prägung mit. Aber vor allem ist es eine ganz alltägliche Erfahrung, auch heutzutage. Ohne Vertrauen kein Leben, ohne Vertrauensvorschuss keine Initiative und letztlich kein Schritt vor die Tür und kein Atemzug. Wir könnten auch von Urvertrauen sprechen, von Lebensglauben. „Es wird schon werden“. „Man muss auch mit dem Guten rechnen“. „Es wird schon nicht so schlimm“. Wie auch immer die alltäglichen Trost-Sprüche heißen – sie alle laufen auf Ermutigung hinaus. „Man kann doch nicht nicht-leben“. Selbst wenn man sich tragischerweise das Leben nehmen wollte, müsste man sich immer noch aktiv dazu entscheiden.
Eigentlich gibt es nur eine einzige Existenz-Frage, meinte später der Kafka-Leser Albert Camus: „Warum bleiben Sie am Leben?“ Eben, weil darin dieser Glaube steckt, dieser unbändige Lebenswille, dieses Tiefenwissen um den Schatz des Daseins. Leben heißt, darauf vertrauen, dass es gut ausgeht. Dass ich heute Morgen aufgewacht und aufgestanden bin, ist ja keineswegs selbstverständlich. In jeder Handlung steckt ein Glaubensakt. Mit jedem Atemzug mache ich Gebrauch von einer Zusage und erwidere sie, mag die Luft auch noch so knapp werden. Kafka hat Recht: wir Menschen sind gläubiger als wir denken. Und das hat guten Grund. Religiöse Menschen nennen ihn Gott.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=39840SWR2 Wort zum Tag
Jetzt auf Ostern zu wird in den Kirchen die Passionsgeschichte Jesu gelesen. Wir lassen uns mitnehmen auf die Zielgerade seines Lebens, es ist ein Drama, das sich zuspitzt. Christsein heißt, sich davon berühren lassen und Jesu Weg nachgehen. Ja, das nimmt einen mit, wortwörtlich. Passion heißt ja beides: Leiden und Leidenschaft. Wofür brenne ich? Compassion ist die Haltung, sich in Mitleidenschaft ziehen zu lassen und Mitgefühl zu zeigen. Aber warum dieses Leiden Jesu? Warum überhaupt so viel Unrecht und Not in der Welt? Und wie kommen wir in eine Leid-überwundene, ja Leid-freie Welt? Solche Jahrtausendfragen sind nicht ruhig zu stellen. Von Jesus wird überliefert, dass er mit dieser Frage sogar starb: „Mein, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Gerade in diesen Fragen blieb er auf Gott bezogen und ließ nicht locker. In seinem kurzen Leben hat er sich eingesetzt für gerechtes, gottgemäßes Zusammenleben – nein nicht nur eingesetzt, er hat dafür gekämpft und es beispielhaft auch wahrgemacht. Hat er sich nicht mit Ausgestoßenen zusammengesetzt und viele heil gemacht? Hat er nicht darauf verzichtet, zurückzuschlagen, als man ihn in die Zange nahm? Konfliktscheu jedenfalls war er nicht.
Eines seiner verrücktesten Programmworte lautet: „Ich bin gekommen, um Feuer auf die Erde zu werfen. Wie froh wäre ich, es würde schon brennen.“ (Lk 12,49) Jesus als Brandstifter, das ist ein ungewohntes Bild für seine Gottesleidenschaft. Gerechtigkeit und Frieden sind in seinem Munde nicht faule Worte, sondern handfeste Taten. Da geht er mitten in Jerusalem Richtung Tempel, immerhin die religiöse und politische Machtzentrale, und mit dem Tempelschatz so etwas wie die Bundesbank. Das alles wird kaputtgehen, es hat keine Zukunft! So die Prophezeiung dieses Brandstifters aus Nazareth. Die Erzählung von der Tempelreinigung malt plastisch aus, wie aggressiv Jesus da aufräumt, geballte Gottesleidenschaft und nicht ohne Folgen. Neu aufgebaut werden muss das Haus des Gebetes, als Zentrum für Gerechtigkeit und Feindesliebe. Dafür steht er ein, dafür brannte er, dafür nahm er sogar den Tod in Kauf, eben mit der Frage, die zum Gebet wird: „Mein Gott, mein Gott, wozu hast du mich verlassen?“ Die Gewissheit, dass Gottes Gerechtigkeit das letzte Wort behält, macht ihn frei. Seine Gottesleidenschaft für eine gewalt- und leidfreie Welt wird zum Osterfeuer. Das gilt es zu entzünden.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=39597SWR2 Wort zum Tag
Was ist derzeit das Problem Nummer eins, was der schlimmste der vielen Brennpunkte in der Welt und auch im eigenen Leben? Wenn ich auf diese Gretchenfrage antworten müsste, würde ich sagen: Hass und Gewalt. Natürlich die Kriege im Großen und Kleinen, in Handel und Wandel. Aber ganz konkret: Gewalt zwischen den Geschlechtern und Generationen, Gewalt gegen Kinder und gegen Alte, Gewalt und Vergewaltigung der Mutter Erde, der Tiere, der Kreatur – und so oft diese Feindbilder. Wie schnell man sich abstempelt und fertigmacht, diese Ungeduld miteinander und Rechthaberei. Ich will auf keinen Fall dramatisieren und schwarzmalen. Aber Gewalt ist das Schattenthema im Fortschritt seit Kain und Abel: zwar geht vieles glücklich voran, aber verbessert werden eben leider auch Foltermethoden, Aufrüstung und Kriegführung, und immer wieder ist es die Angst, zu kurz zu kommen, und deshalb das egoistische Verhalten. Nimmt womöglich der Gewaltpegel im Alltag sogar zu, die Reizbarkeit, der Neid und das Ausnützen anderer?
Jedenfalls finde ich: Die Bibel hat doch recht. Seit Kain und Abel ist das eine Mordsgeschichte zwischen uns Brüdern und Schwestern. Die Angst, zu kurz zu kommen, schlägt fast automatisch um in Futterneid, Rivalisieren, Kriegen und Ausbeuten. Wie aus diesem Dilemma herauskommen, wie den Weg hindurchfinden? Nach christlicher Überzeugung gibt es nur einen Weg, und der wird an Jesus sichtbar: gewalt- und selbstlos, mit anderen vorangehen, mit anderen und für andere. Seine Botschaft von der Feindesliebe ist die realistische Alternative: also groß denken vom anderen Menschen, der Menschenwürde Raum schaffen und von den Ego-Interessen absehen zugunsten des Gemeinwohls. Jesus war überzeugt, dass Gottes Gerechtigkeit überall siegreich sein wird. Gottes Reich soll kommen, und er macht davon Gebrauch. Damit freilich deckt er auch auf, wie gewalttätig es noch zugeht seit Kain und Abel. Jesus kostet diese Aufklärungsarbeit sogar das Leben, aber er willigt schließlich ein, ganz voller Gottvertrauen und Versöhnungskraft. „Gesetzt den Fall, Sie haben noch keinen umgebracht, wie erklären Sie sich das?“, fragte realistisch Max Frisch. Was ist mit Bruder Kain, dem Aggressor, in mir? Diese Kar- und Osterwoche lädt dazu ein, sich mit dem Gewalt-Thema zu konfrontieren – und mit dieser göttlichen Alternative, stets dann doch die Hand zu reichen und den ersten Schritt zu tun.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=39596SWR2 Wort zum Tag
Ein Montag wie jeder andere ist das nicht. Wir stehen am Beginn der Karwoche, und das altdeutsche Wort kara bedeutet Kummer und Trauer. Seit frühester Zeit war es in Jerusalem üblich, die letzten Wege Jesu Jahr für Jahr nachzugehen und sich besonders mit seiner Leidensgeschichte zu verbinden: Nachfolge wortwörtlich. So entstand eine ganze Heilige Woche mit Prozessionen und Gebeten. Man wollte Jesus nahe sein. Man orientierte sich dabei an Heiligen Stätten und an biblischen Schriften. Demnach hat gestern die entscheidende Woche begonnen: Jesus kommt vom galiläischen Land, über das heute so umstrittene Westjordanland, hinauf nach Jerusalem. Dort zieht er ein wie ein König, umjubelt von seiner kleinen Anhängerschaft, aus ganz Jerusalem freilich ist niemand dabei. Also richtig willkommen ist er eindeutig nicht, zu unbequem seine Botschaft von der Gottes- und Feindesliebe, von Empathie und Solidarität mit allen, die einem über den Weg laufen. Schon lässt sich ahnen, dieser Einzug Jesu endet tödlich. Ich muss dabei an Nawalny denken und so viele, die friedfertig ihre Haut zu Markte tragen und sich für eine gerechtere Gesellschaft verausgaben. Der Einzug nach Jerusalem damals wird zum Kreuzweg, das österliche Gelingen geht über den Karfreitag der Trauer und der Tränen. Gestern also hat die Karwoche begonnen, heute, am Montag, die nächsten Schritte auf dem Weg dahin.
Warum das alles, frage ich mich? Geht es nicht konfliktfreier und gewaltloser, ohne Leid und Kreuz? Warum diese Leidensgeschichte? Und dann noch im Namen Gottes? Könnte der den schrecklichen Spuk nicht beenden und alles in Ordnung bringen? Fragen über Fragen! E i n e Antwort darauf ist aber jetzt schon klar: theoretisch ginge es ohne das Kreuz, denn Gott ist kein Quälgeist oder Blutsauger. Aber leider, leider sind die Verhältnisse seit Kain und Abel so wie sie sind, nämlich egoistisch und gewaltförmig. Wenn da einer so voller Güte und Fantasie ist wie dieser Jesus, wird er verhaltensauffällig. Er bringt ja ans Licht, wie es eigentlich sein könnte und sein sollte - und das gibt mörderisch Ärger. Aber es ist der einzige Weg zum Frieden inmitten all der Gewalt. Und den gehen wir Christenmenschen in der Karwoche mit, aus Überzeugung.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=39595SWR2 Wort zum Tag
„Am Aschermittwoch ist alles vorbei“ – so hieß es noch Anfang der Woche in der Karnevalszeit. Aber vielleicht fängt da alles erst an. Weil man den harten Fakten ins Auge schaut: aus dem Staub machen, gilt nicht mehr. Diese vierzig Tage jetzt auf Ostern zu sind jedenfalls eine besondere Zeit. Sie bietet die Chance, sich mit dem Ziel des eigenen Lebens auseinanderzusetzen: was ist vorbei, worauf lebe ich hin, und mit welchem Kompass?
Ich lasse mich dabei von einer jungen Frau inspirieren, deren Tagebuch mich nicht loslässt. Etty Hillesum wurde 1943 in Auschwitz ermordet. In finsteren Zeiten also blieb sie doch geprägt von einer umwerfenden Zuversicht, ungemein hilfsbereit und sprühend von Lebensfreude trotz allem. Das Tagebuch verrät den Grund: sie hatte Gott gefunden, den Lebensbrunnen in sich selbst und in allem. „Hineinhorchen“ ist nun das Leitwort ihres Lebens, dem innersten Geheimnis nachspüren. Im September 1942 notiert sie sich: „Eigentlich ist mein Leben ein einziges unablässiges ‚Hineinhorchen‘ , in mich selbst, in andere, in Gott. Und wenn ich sage: ‚Ich horch hinein‘, dann ist eigentlich Gott in mir, der ‚hineinhorcht‘. Das Wesentlichste und Tiefste in mir, das auf das Wesentlichste und Tiefste im anderen horcht.“
Genauer kann man nicht sagen, worauf es ankommt. Für mich sind ihre Gedanken eine kostbare Begleitmusik jetzt in der Umkehr-Zeit auf Ostern zu. Da ist ein Sehnen tief in uns nach Glück, nach Gelingen, nach Frieden und Liebe. Auf jeder Seite schreibt Etty Hillesum davon, und wer wüsste es nicht. Und wie oft ist dieser Lebensbrunnen voller Sehnsucht und Hoffnung wie verschüttet vom täglichen Allerleih und vom Tanz ums goldene Ego. Besonders schön finde ich, wie genau Etty Hillesum die innere Wandlung beim Meditieren und Beten beschreibt: irgendwann, wenn wir uns wirklich Zeit nehmen und nach innen horchen, entdecken wir, dass da etwas ist, das auf mich horcht – ein Etwas und ein Jemand. Wenn ich mich auf mein Gegenüber wirklich einlasse und ihm horchend nachspüre, komme ich ja auch aus dem Staunen nicht heraus: wie anders du bist, vielleicht sogar störend und lästig, und doch einmalig du, mir gegenüber. Ja, dieses Hineinhorchen wünsche ich Ihnen und mir für diese vorösterliche Zeit. Am Aschermittwoch hat alles erst angefangen.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=39350SWR2 Wort zum Tag
Immer öfter kommen mir Todesanzeigen ins Haus - auch von Menschen, die jünger sind als ich. Selbst schon über 85 Jahre alt, rückt mir natürlich auch der eigene Tod immer mehr auf das Fell. Keine Sorge, ich möchte Ihnen mit diesem Thema den Morgen nicht verderben, ganz im Gegenteil. Ich weiß, ich berühre ein Tabu. Aber irgendwie ist die Sache mit Vergehen und Sterben doch so präsent, dass es guttut, genauer hinzuschauen und darüber nachzudenken. Seit vorgestern, seit dem Aschermittwoch, steht das Thema illusionslos im Raum: „Staub bist du, und zum Staube kehrst du zurück“. Also, blinde Kuh spielen gilt nicht mehr, auch und gerade im Zuspruch am Morgen darf von Schutt und Asche die Rede sein. Wir wollen uns ja gerade nicht aus dem Staub machen, sondern den Tag heute begrüßen - und zwar mit dem Staub auf den Straßen und in den Zimmerecken, mit dem Haarausfall und dem Lebensalter, mit allem Drum und Dran des heutigen Tages.
Diese Zeit zwischen Aschermittwoch und Ostern ist besonders geeignet, auch Tabus zu berühren. Geht es doch um den Grund der christlichen Hoffnung – und das gerade nicht vorbei an Vergänglichkeit und Sterben, sondern mitten darin und hindurch. Der Tod sei unser letzter Feind, wirklich das letzte, schrieb Paulus vor bald zweitausend Jahren, und der wird nun endgültig besiegt. Mit dem Bekenntnis zur Auferweckung Jesu ist die Gewissheit verbunden, selbst vollendet zu werden und das Lebensziel wirklich zu erreichen. Versprochen ist versprochen, Jesus steht dafür grade. Das Thema Tod gehört jedenfalls für uns Christenmenschen mitten ins Frühjahr hinein, und keineswegs nur in den herbstlichen Nebel. Frühlings Erwachen und österliche Hoffnung gehören zusammen; sie machen jeden Tag kostbar, auch den Tag heute. Es ist schließlich der erste von den letzten, die wir noch haben.
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