Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW
In diesen Tagen kommen viele Reisende zurück aus dem Urlaub. Wenn sie erzählen, schwärmen sie: von gutem Essen, das dem Gaumen bisher unbekannte Freuden bereitete, vom besten Wein, den sie jemals gekostet haben, von wunderschönen Landschaften, die ihre Postkarten zierten. Die meisten sind gut erholt. Nur mancher hatte auch im Urlaub mit den Widrigkeiten des Lebens zu kämpfen.
Einer dieser Urlauber ist Thomas. Auf seinem Smartphone zeigt er mir ein Bild, dessen Stimmung mich sofort in seinen Bann zieht. Unweit von Genua verbrachte Thomas mit seiner Familie ein paar Tage an der Küste Liguriens. Als passionierter Taucher hat Thomas den Ort sehr bewusst ausgewählt. Denn vor dem malerischen Küstenstädtchen Portofino befindet sich am Grund des Meeres eine geheimnisvolle Statue des Künstlers Guido Galetti: der Christus des Abgrunds.
Natürlich ist der Tauchgang das absolute Urlaubs-Highlight für Thomas. Er schildert mir in schillernden Details, wie er sich in den Abgrund hinabgleiten lässt. Es ist ein Spiel von Dunkelheit und Licht. Zunächst zeichnet sich ein Schatten am Meeresgrund ab. Dann werden die Konturen klarer. Die Sonne strahlt gerade hell genug, dass die Statue auch in 15 m Tiefe auf dem Foto gut zu erkennen ist. Da steht er, der Christus, mit erhobenen Armen und dem Gesicht zur Wasseroberfläche gerichtet. Ein Kunstwerk im Gedenken an einen dort vor einigen Jahrzehnten verunglückten Taucher.
Doch irgendwie ist diese Statue mehr als eine Erinnerung an ein vergangenes Unglück. Sie ist auch ein treffendes Bild dafür, wo dieser Jesus Christus ganz unerwartet zu finden ist. Nicht nur in den unvergesslich schönen Urlaubsmomenten, sondern gerade in den Abgründen des Lebens.
Vor allem in seinen letzten Tagen erlebte Jesus massiv das, was wir so gerne aus unserem Leben ausblenden würden. Er spürt Hass, wird Opfer einer Intrige, einer seiner engsten Vertrauten verrät ihn, ein anderer verleumdet ihn, er wird verspottet, zu Unrecht verurteilt, erlebt körperliches und seelisches Leid, geht durch tiefe Einsamkeit und weint bittere Tränen. Jesus durchlebt die Abgründe des Lebens, bis zum tiefsten Grund, dem Tod.
Paradoxerweise kommt Jesus uns damit gerade da unfassbar nah, wo wir ihn zunächst am meisten vermissen. Manchmal fühlen wir uns von Gott und Menschen verlassen. Aber wie diese Statue am Meeresgrund ist Jesus da - in der Tiefe – unerwartet, ungebeten, ziemlich überraschend und gänzlich unaufdringlich. Und er bringt Hoffnung mit. Gebrochen wie die Sonnenstrahlen an der Wasseroberfläche. Dennoch unübersehbar. Die Abgründe des Lebens, ja sogar der Tod hat nicht mehr das letzte Wort. Das Leben hat bereits gewonnen.
Thomas wird diesen Tauchgang zum Christus des Abgrunds nie mehr vergessen. Ich hoffe genauso wenig zu vergessen, dass dieser Jesus Christus gerade in den Abgründen meines Lebens für mich da ist.
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