SWR Kultur Wort zum Tag

17MAI2024
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Mehrmals im Jahr flattert ein Werbeprospekt auf meinen Schreibtisch, in dem kleine Mitgebsel angepriesen werden. Geschenke, die ich als Pfarrer bei Besuchen mitbringen kann. Da ist für jede Zielgruppe etwas dabei: Es gibt Teetassen mit pausbäckigen Puttenengeln für das gehobene Alter. Aber ich kann auch Windelpackungen bestellen mit dem Aufdruck: Einfach spitze, dass Du da bist. Besonders mag ich einen kleinen Fisch aus ganz weichem Holz. Er dient mir als Handschmeichler. Der Fisch war eine Art Geheimzeichen der ersten Christen. Denn im griechischen Wort für Fisch: Ichthys verstecken sich die Anfangsbuchstaben von Jesus Christus. Den Fisch aus dem Werbeprospekt habe ich in meiner Hosentasche, und da liegt er dann neben dem Portemonnaie und dem Smartphone. Reibt sich ein bisschen an beiden. Und wenn ich mit der Hand in die Hosentasche greife, erinnert mich der Holzfisch daran, dass ich nicht zuerst dem Geld gehöre oder meinem Handy, sondern vor allem auch Gott.

Die letzte Ausgabe von diesem Werbeprospekt hat etwas Neues im Angebot: ein Kreuz, vielleicht 15 Zentimeter hoch. Und der Clou: Es ist fast unsichtbar. Ein schmaler Draht bildet den Umriss eines Kreuzes nach, und dieser schmale Draht steht auf einem durchsichtigen Glasboden. Sonst nichts. Ein fast unsichtbares Kreuz.

Ich habe mir eins bestellt und es auf meinen Schreibtisch gestellt. Ich muss schon ganz genau hinschauen, um es überhaupt zu sehen. Ansonsten verschwindet es zwischen allem anderen, was auf meinem Schreibtisch so herumsteht: meiner alten Teekanne. Dem neuen Laptop. Und den vielen bunten Notizzetteln, vollgeschrieben mit Dingen, die ich heute noch dringend erledigen muss.

Ich schaue auf das fast unsichtbare Kreuz und denke mir: So ist es vielleicht auch, wenn ich anderen Menschen begegne. Vieles fällt mir direkt ins Auge: die Kleidung und die Frisur. Es ergeben sich die ersten Gespräche über Pläne und über das, was im Alltag noch zu erledigen ist. Doch wenn ich genauer hinhöre, dann entdecke ich vielleicht auch bei meinem Gegenüber den Umriss eines Kreuzes. Etwas, das beinahe verschwindet zwischen all dem Offensichtlichen. Und was doch da ist. Ein fast unsichtbares Kreuz, das mein Gegenüber mit sich trägt: eine Not, eine Sorge, eine Angst. Ich freue mich, wenn ich diese Umrisse wahrnehmen kann. Und wenn sie sich im Gespräch nach und nach füllen.

Ein fast unsichtbares Kreuz, das mein Gegenüber trägt. Ich will heute genau hinschauen, damit ich es entdecke zwischen allen Plänen und Anforderungen des Alltags.       

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