SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

03APR2024
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Meine Freundin Helga hat Tagebuch geschrieben in der Zeit, in der sie ihre demenzkranke Mutter gepflegt hat. Sie hat gemerkt, dass es ihr hilft, wenn sie Erlebtes festhält. So ein Tagebuch ist geduldig. Es nimmt alles auf ohne Zensur, ohne Vorwürfe, ohne Besserwisserei, ohne die Augen zu verdrehen. Menschliche Zuhörer kriegen das selten hin, zumal bei einem so schwierigen Thema: der Pflege eines Menschen. Und deshalb hat es Helga wohl auch so gutgetan, sich oft abends von der Seele zu schreiben, was sie in der Zeit der anstrengenden Pflege erlebt hat mit ihrer Mutter.

„Am Anfang war es besonders schwer, denn meine Mutter hat selbst oft mitbekommen, dass sie dement wird, und dann war sie sehr traurig und ich gleich mit.“ Hat Helga mir erzählt und dass sie dann angefangen hat, alles aufzuschreiben: Die immer neuen Herausforderungen, vor denen sie gestanden hat – und ihre Mutter genauso.

An manchen Tagen waren es nur ein paar Sätze. An anderen ganze Geschichten, die sie mit ihrer Mutter erlebt hat. Schon nach kurzer Zeit hatte Helga das Gefühl, mit der Pflege überfordert zu sein. Im Rückblick findet sie aber auch Tagebucheinträge, die zeigen, dass sie mit manchem gut zurechtgekommen sind. Helga kann rückblickend lesen, wie sie zusammen ihren Alltag doch gemeistert haben – und wie ihre Mutter mehr und mehr ihre Angst und Traurigkeit verloren hat. Ihren Humor hat sie dafür lange behalten.

„Manchmal war sie neugierig wie ein kleines Kind, das sich die Welt erklären lässt“, sagt Helga. Und muss kichern, als sie erzählt, wie sie beide einmal neben einer älteren Frau im Bus gesessen haben. Helgas Mutter hatte die Frau genau gemustert und dann laut verkündet: „Wenn man einen faltigen Hals bekommt, muss man einen Schal tragen“. Helga war das furchtbar peinlich gewesen – ganz im Gegensatz zu ihrer Mutter, der damals schon längst nichts mehr peinlich war, weil auch Schamgefühl etwas ist, was manche Menschen verlieren, wenn sie dement werden.

Ich habe große Achtung vor Helga, die sich dieser schweren Aufgabe gestellt hat und sie so wunderbar gemeistert hat. Auch dank des Tagebuchs, dem sie all ihre Erschöpfung und Mühe immer wieder hat anvertrauen können und bei dem sie oft am Abend hat abladen können, was schwer war. Heute hilft ihr das Notierte aus der Zeit auch dabei, sich liebevoll an ihre Mutter zu erinnern und an diese intensive gemeinsame Zeit. Und es hilft Helga, sich gut zu verabschieden.

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