SWR4 Sonntags-/Feiertagsgedanken
Guten Morgen!
„Das ist ungerecht!“, ruft der kleine Junge empört. „Die kriegt viel mehr als ich!“ „Die“ – das ist die jüngere Schwester des kleinen Jungen. Der Vater seufzt, holt ein Lineal und misst die beiden Kuchenstücke genau aus. Tatsächlich könnte es sein, dass das Kuchenstück des Mädchens einen knappen Millimeter breiter ist, bei gleicher Höhe. Der Vater holt ein feines Messer und schneidet eine hauchdünne Scheibe vom Kuchen des Mädchens ab. Die legt er auf den Teller des Jungen. Der ist zufrieden, hatte er doch recht: Seine Schwester hatte viel mehr zugeteilt bekommen als er! Dafür fängt die Kleine nun an zu weinen und will ihren Kuchen gar nicht mehr haben. Papa ist so ungerecht!
Während der Junge zufrieden seinen Kuchen isst, wiegt der Vater seine weinende Tochter. Bis die so weit ist, dass sie doch ein Stück von ihrem Kuchen isst.
So oder so ähnlich haben wir das wohl alle als Kinder erlebt – und dann wieder als Eltern oder Großeltern, oder bei den Nichten und Neffen. Und schmunzeln jetzt als Erwachsene: Ja, so sind Kinder eben.
Nein. So sind Menschen. Die Großen nicht anders als die Kleinen. Unsere Nachrichten sind voll von Konflikten. Menschen streiten sich wegen gefühlten oder tatsächlichen Ungerechtigkeiten. Weil das Erwachsene sind, wird das vielleicht ernster genommen als bei Kindern. Aber das Gefühl dahinter ist doch ähnlich: Ich bin zu kurz gekommen! Mir wird was weggenommen! Keiner hört mir zu! Wenn ich nicht laut werde, beachtet mich keiner!
Und noch etwas ist ähnlich. Wie nannte der Kleine seine Schwester: „die“. Ich muss schon sagen, das Wort höre ich oft von Erwachsenen. Die machen doch eh, was sie wollen! Die stopfen sich die Taschen voll, und wir müssen’s bezahlen! Aber man darf ja gar nichts mehr sagen, dafür sorgen die schon!
Für „die“ kann man einsetzen: die Regierung, die Politiker, „die da oben“; oder: die Flüchtlinge, die Bauern – irgendwas davon stimmt immer.
Sind wir also nicht weiter als kleine Kinder? Nun, in einer Hinsicht sind Kinder vielleicht sogar weiter. Sie wissen nämlich: Wir gehören zusammen. Wir sind eine Familie. Und es wird auch wieder gut.
Davon erzählt die Bibel schon am Anfang: Alle Menschen sind eine große Familie. Und sie setzt noch eins drauf: In der Bibel steht nämlich, wie Gott aussieht. Gott können wir zwar nicht sehen. Aber wenn ich wissen will, wie Gott aussieht, dann muss ich mich eigentlich nur umschauen. So wie die Menschen um mich herum, so wie Sie oder ich: So sieht Gott aus. Denn wir sind alle Gottes Bild. So steht es in der Bibel. Auch ganz am Anfang.
Nicht die also. Wir! Du und ich.
Meine Güte, denke ich – so viele Gottesbilder! Männer und Frauen: davon spricht schon die Bibel. Das ist die einzige Unterscheidung, die sie macht. Eine Unterscheidung, aber kein Wertunterschied. Es sind wirklich alle gleich viel wert! Jung und Alt, dick und dünn, schwarz und weiß, gesund und krank, reich und arm, hässlich und schön, klug und weniger klug. Erst alle zusammen würden ein Bild von Gott ergeben. Aber alle zusammen ergeben dieses Bild tatsächlich. Freilich gehören dazu auch alle, die einmal gelebt haben. Und alle, die einmal leben werden. Wir können es also einfach nicht fassen!
So viele verschiedene Menschen. Da gibt es natürlich auch unzählige verschiedene Meinungen. Verschiedene Interessen, verschiedene Erfahrungen. Und natürlich gibt es dann Streit. Aber wie bei den kleinen Kindern in meinem Beispiel bleibt dieser Streit in der Familie. Die ganze Menschheit ist eine riesengroße Familie, sagt die Bibel. Alle sind miteinander verwandt. Alle gehören zusammen. Wie unterschiedlich wir auch sind, wir gehören alle zusammen! Unsere Unterschiede sind kein Grund, deshalb Krieg anzufangen. Sie sind kein Grund für Rassismus.
Die jüdische Holocaust-Überlebende Margot Friedländer hat gesagt: „Wir sind alle gleich – es gibt kein christliches, muslimisches, jüdisches Blut. Es gibt nur menschliches Blut. Ihr habt alle dasselbe. Wir kommen alle auf diese Art und Weise auf diese Welt. Wir sind Menschen, nichts anderes. Seid doch Menschen!“
Ja, Streiten ist menschlich. Aber Streit will gelernt sein! In der jüdischen Tradition ist Streit ganz wichtig. Die Rabbinen, die großen Gelehrten, die waren überzeugt: Erst der Streit hilft uns, die Wahrheit zu erkennen. Nach und nach erkennen wir dann, worum es geht. Aber damit sind wir nie fertig.
Darum gibt es in der Bibel verschiedene Geschichten darüber, wie die Welt und die Menschen entstanden sind. Darum gibt es vier verschiedene Evangelien.
Es gibt nicht die eine Wahrheit. Darum gibt es auch keine vollkommene Gerechtigkeit. Wenn wir versuchen, einem gerecht zu werden, gibt es oft neue Ungerechtigkeit. Neues Leid.
Aber wir sind alle Gottes Bild. Wir haben alle unseren kleinen Anteil an der Wahrheit. Tragen wir das zusammen!
Ich wünsche Ihnen einen gesegneten Sonntag!
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