Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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13MRZ2024
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Wenn ich abends die letzten Teller in die Spülmaschine stelle, dann bleibt mein Blick manchmal am Küchenfenster hängen. Die Fenster gehen nach Westen, und wenn an einem klaren Abend die Sonne untergeht, dann leuchtet plötzlich alles in zartem Rosarot und Violett, in strahlendem Gelb, in grellem Glutrot und orange. Staunend stehe ich dann am Fenster und bewundere das Bild, das sich da bietet – wie ein einzigartiges Gemälde aus Gottes Tuschkasten. Die Arbeit bleibt dann liegen. Die muss ich dann später machen. Aber der Sonnenuntergang ist genau jetzt – und ich muss ihn jetzt „sein lassen“. Verschieben kann ich ihn nicht. 

Der Psychologe Carl Rogers hat gesagt: Menschen sind genauso wundervoll wie ein Sonnenuntergang. Ein passender Vergleich, finde ich. Aber nicht nur, weil Sonnenuntergänge so einzigartig sind. Carl Rogers Erkenntnis ist: Menschen sind genauso wundervoll wie ein Sonnenuntergang – wenn ich sie sein lassen kann.

Ja, vielleicht bewundern wir einen Sonnenuntergang gerade deshalb, so schreibt der Psychologe, weil wir ihn nicht kontrollieren können. Wenn ich einen Sonnenuntergang betrachte, höre ich mich nicht sagen:
'Bitte das Orange etwas gedämpfter in der rechten Ecke und etwas mehr Violett am Horizont und ein bisschen mehr Rosa in den Wolken.' Das mache ich nicht. Ich versuche nicht, einem Sonnenuntergang meinen Willen aufzuzwingen. Ich betrachte ihn mit Ehrfurcht."

Mein Gegenüber mit Ehrfurcht zu betrachten wie ein Kunstwerk Gottes: Das passt für mich ganz wunderbar zur Schöpfungsgeschichte in der Bibel. Die erzählt ja davon, dass wir Menschen ein Bild Gottes sind, ja sogar sein Ebenbild. Gott schuf den Menschen nach seinem Bild, heißt es im ersten Kapitel der Bibel (1. Mose 1,27). Als Ebenbild Gottes hat jeder Mensch eine einzigartige Würde und verdient Respekt.

Menschen sind genauso wundervoll wie ein Sonnenuntergang – wenn ich sie sein lassen kann, sagt Carl Rogers. Ich gebe zu: Das Seinlassenkönnen fällt mir nicht leicht. Es braucht Geduld und gute Nerven. Andere korrigieren und kontrollieren zu wollen, liegt oft näher. Aber ich bin sicher: Es lohnt sich, so oft wie möglich die Perspektive von Rogers einzunehmen: Über die Einzigartigkeit von Menschen zu staunen und sie mit Ehrfurcht zu betrachten – wie die Schönheit des Sonnenuntergangs vor meinem Küchenfenster.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=39502
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