SWR2 Wort zum Tag

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09MRZ2024
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Moderne Gesellschaften, so hat der Philosoph Wilhelm Schmid kürzlich in einem Radioessay gesagt, befinden sich „mitten in einem Großexperiment“. Er meint damit, dass die gesamte Moderne seit ihren Anfängen vor über 200 Jahren zusammen mit der „Befreiung von allerlei Bindungen auch die Befreiung von Religion“ im Sinn habe.

Eine stetig wachsende Zahl von Menschen - jedenfalls in der westlichen Welt - unternehme seither, so Schmid, „den Versuch, ein Leben ganz ohne Religion zu leben.“

Für mich stellt sich allerdings die Frage, und das fragt auch der Philosoph nicht ganz ohne Sorge: wie wird dieses Experiment ausgehen? Angenommen es scheitert. Was dann?

Das Thema ist ja wichtig. Denn es hat viel zu tun mit dem Leben jedes Einzelnen wie auch unserer Gesellschaft im Ganzen.

Wenn nämlich alles abgelegt wird wie ein veraltetes Gewand - nicht nur das Religiöse im engeren Sinn, sondern zugleich damit auch andere Bindungen wie Traditionen und Konventionen -  was dann?  

Der Gedanke liegt nahe, dass jeder Mensch dann vor der kaum lösbaren Aufgabe steht, sich jeden Tag neu erfinden und orientieren zu müssen. Jeden Schritt, den man tut, neu zu begründen. Alles, was sich bewährt hat, immer wieder neu auszuhandeln.

Aber auch auf viele Fragen und Antworten, die der Glaube gibt, zu verzichten. Nach dem Anfang und dem Grund allen Lebens. Nach dem Sinn und der Zukunft meiner Existenz.

Schwierig! Ich möchte jedenfalls den Ausgang dieses Großexperiments nicht abwarten. Weil ich den Verdacht habe, dass die Freiheit, zu der die „Befreiung von Religion“ führen soll, ein falsches Versprechen enthält. Und die versprochene Freiheit in einer ständigen Überanstrengung endet.

Ich meine, der religiöse Glaube, da wo er ernst genommen wird, thematisiert ja das Menschsein mit allen seinen Höhen und Tiefen. Er verbindet Vergangenheit mit Zukunft. Schafft Gemeinschaft. Und vermittelt mir Dankbarkeit für die geschenkte Lebenszeit.

Der Glaube zeigt mir eine verlässliche Spur, wie andere Menschen gelebt, gehofft und gehandelt haben. Einsichten und Erfahrungen, an die ich anknüpfen kann. Und die mir heute Orientierung geben können für ein befreites Leben.

Vor allem aber entlastet er von dem Druck, mich jeden Tag neu erfinden zu müssen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=39481
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